Korruption in der PharmaindustrieGeht die Ära der Blockbuster zu Ende?31. Juli 2008 Nicht etwa die Hirnforschung, sondern
die Pharmaindustrie „verändert das Denken der Menschen der kommenden Generationen“, behauptet einer, der es wissen muss: Der Ex-Pharmamanager John Virapen ist einer, der auspackt, um das Fürchten zu lehren; ausgestiegen aus dem Karussell um die Möglichkeiten von Wissenschaft und Absatzmarkt oder, so könnte man in seinem Sinne sagen, aus dem wohlkalkulierten
Spiel mit der Angst um Gesundheit. Aussteiger aus als korrupt oder gefährlich geltenden Systemen werden nachmals oft zu deren schärfsten Anklägern. Man wird seinen Bericht mit Vorsicht zu genießen haben, ohne seinen Aussagen in der Sache deshalb weniger Gehör zu schenken.
Das Buch erzählt zwei ineinander unschön verflochtene Geschichten. Da ist zunächst der entwicklungsromanhafte Werdegang des John Virapen. Offen, in schlichter und damit authentisch wirkender Sprache berichtet dieser von seinem Leben und Wirken als zunächst kleiner Pharmareferent, der sich mit viel Willen, Ellbogeneinsatz und auch Geschick nach oben arbeitet. Sein Ziel ist der Erfolg, gesichert durch
unmoralische, bisweilen auch
illegale Tricks sowie zunehmenden Druck von außen; schließlich folgen Abstieg und Ausstieg. Das wäre, für sich genommen, noch nicht weiter lesenswert, gäbe es da nicht die daran gekoppelte Erfolgsgeschichte eines Medikaments, das in einem doppelten Sinne in der Lage ist, das Bewusstsein oder eben das Denken zu verändern – durch seine
psychologische wie seine physiologische Wirkung.
Reden wir über die DepressionEin kommerziell äußerst erfolgreiches Medikament heißt in der Fachsprache Blockbuster. Ursprünglich bezeichnete man damit im Zweiten Weltkrieg eine Luftmine, die ganze Wohnblocks leerfegte. Die darin enthaltende Sprengwirkung wird heute auf wirtschaftlichen Erfolg übertragen, weithin bekannt aus der Filmbranche. Zum Blockbuster wird ein Medikament dann, wenn es vergleichbare Arzneien aus den Regalen verdrängt oder alternative Behandlungsmethoden derart in Frage stellt, dass jeder vermeintlich Betroffene überzeugt wird, nur dieses Mittel zur Linderung seiner Leiden schlucken zu können. Dass Konsumverhalten manipuliert wird, ist nichts Neues;
heikel wird es jedoch, wenn die Manipulation, aufbauend auf Ängsten und Sorgen, auf Stimmungen und Verstimmungen, einem pharmazeutischen Mittel den Boden bereitet, das seinerseits zur Behandlung eben dieser Ängste und Verstimmungen eingesetzt wird. Mit anderen Worten: Die Pharmaindustrie entwickelt und produziert nicht nur ein neues Mittel – als Beispiel berichtet Virapen etwa von der Zulassung und Markteinführung neuerer Antidepressiva –, sondern einen ganzen Markt,
der das Gefühl vermittelt bekommt, krank und behandlungsbedürftig
zu sein; in der Fachsprache heißt dieser Mechanismus disease mongering,
das Erfinden einer Krankheit durch Erweiterung der Krankheitskriterien.Gegen die medizinische NotwendigkeitNun geht selbst Virapen natürlich nicht so weit, Krankheiten zu leugnen, also etwa zu behaupten, dass Depressionen reine Erfindungen sind. Aber er kritisiert, wie das Spektrum derer, die zum Beispiel depressiv genannt und damit behandlungsbedürftig werden, sich
ausgeweitet hat. Was Medikamente – und gerade solche, die gezielt auf die Psyche wirken – von manch anderen Konsumgütern unterscheidet, sind
die sogenannten „Risiken und Nebenwirkungen“ (die ja in Wirklichkeit
„Wirkungen“ sind), zu deren Beurteilung ein Arzt oder Apotheker hinzugezogen wird. Doch Vertreter dieser Berufsstände sind, wie Virapen darlegt, allzu oft von der Pharmaindustrie eingemeindet. Problematisch zum anderen ist die tägliche, schnell zur Gewohnheit gewordene Einnahme einer Substanz,
deren Langzeitwirkungen nicht zuletzt auf das Gehirn noch nicht abzusehen sind.
Drastisch verweist Virapen daher schon im Titel seines Buches auf die
„Nebenwirkung Tod“ und bezieht sich auf den
unverhältnismäßigen Anstieg der Selbstmordrate unter Patienten, die bestimmte gängige und lautstark beworbene Antidepressiva eingenommen haben:
„Suizidgedanken und Selbstmord bei einem Medikament, das gegen Depressionen wirken soll?“ Nun wäre schon jeder einzelne Fall schlimm genug. Tatsächlich aber erstreckt sich die Wirkung auf
eine ganze Gesellschaft – das Medikament
wird zum Blockbuster. Flächendeckend werden bewusstseinsverändernde Mittel eingenommen, die rein medizinisch möglicherweise
gar nicht erforderlich sind und nur stimmungsaufhellend wirken.
Der Glaube an die Allmacht schwindetWie sehr eine ganze Generation von einem einzigen Medikament vorgeblich geprägt oder deformiert werden kann, hat die Amerikanerin Elizabeth Wurtzel in ihrer Autobiographie
„The Prozac Nation“ 1994 angedeutet, die ein Bestseller wurde. Warum ihr Erfahrungsbericht in Sachen Depression (mit Psychotherapien und mit der in gravierenden Fällen oft notwendigen medikamentösen Behandlung bis hin zu stationärer Einweisung)
in Deutschland noch keine Übersetzung gefunden hat, ist eine andere Frage. Virapen berichtet unter Anspielung auf
die einflussreiche Lobby der Pharmaindustrie davon, dass es ihn
einige Mühe gekostet hat, einen Verlag zu finden, der sein Buch druckt; zahlreiche, vor allem wissenschaftliche Buchverlage lebten schließlich im weitesten Sinne von der Pharmaindustrie.
Gleichwohl markiert Virapens Buch einen Trend, der über die etablierte Kritik der Schulmedizin weit hinausgeht: Mit transatlantischer Verzögerung scheint der uneingeschränkte
Glaube an pharmazeutische Allheilmittel nun auch hierzulande im größeren Stil zu bröckeln. Vermehrte Aussteigerberichte sind dafür ein Zeichen; ein anderes der offensive mediale und auch belletristische Umgang
mit dem so lange beschwiegenen Thema Depression.
Die Zielgruppe KinderDie Pharmaindustrie hat darauf längst reagiert, ihre Methoden sind durchsichtiger geworden. Ein Beispiel ist der auf fünf Bände angewachsene
„Pharma Kodex“, herausgegeben vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, offensichtlich eine vertrauensbildende Maßnahme. Der Umsatz der Pharmaindustrie geht in einigen bislang boomenden Bereichen inzwischen zurück; ob das an verschärften Zulassungsverfahren liegt, an auslaufenden Patenten oder an einer medikamentösen Übersättigung, ist schwer zu sagen. In der unlängst von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft erstellten Studie „Pharma 2020“ heißt es:
„Die Ära der Blockbuster geht zu Ende.“Für den einzelnen Betroffenen kann das nur eine gute Botschaft sein. John Virapen, der einige Jahre gebraucht haben will, um zu erkennen, dass er sich die Finger mit Korruption schmutzig gemacht hatte, dürfte sich heute darüber freuen. Gleichwohl gibt er sich überzeugt, dass die Pharmaindustrie schon wieder
neue lukrative Märkte sucht:
„Heute sind es die Kinder.“ Die jüngsten Absatzsteigerungen von Medikamenten zur Behandlung der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Heranwachsenden scheinen ihn zu bestätigen. Bevor die Ära der Blockbuster ganz zu Ende geht, wird die Pharmabranche wohl das Nötige unternehmen, um diese vielleicht letzte Cash-Cow noch
ordentlich zu melken.
Quelle:scalpell
da lob ich mir http://www.mezis.de
dieser Organisation