Therapeut oder Tablette?
14. September 2008, 03:14 Uhr Bei Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen greifen
immer mehr Menschen zur Psychopille. Doch das ist der falsche Weg.
Britney Spears ist zurück. Mit ihren drei Preisen, die sie vergangene Woche bei den MTV Awards in Los Angeles abräumte, zeigte sie allen: Ihre psychischen Probleme sind Historie. Doch so offen wie Spears geht in Deutschland kaum jemand mit seiner kranken Seele um. Betroffene schweigen lieber über psychische Erkrankungen - und über ihre Behandlung. Denn immer noch ranken sich Vorurteile um beide.
Seelenklempner werden die Therapeuten genannt, bezweifelnd, dass dieser Berufsstand die Psyche
"reparieren" kann. Psychopharmaka gelten als Glückspillen, Tabletten, die süchtig machen wie Drogen. Die Ressentiments gegenüber den Arzneien sind dabei besonders groß: Als die Leipziger Psychologin Steffi Riedel-Heller knapp 2500 Personen nach ihrer bevorzugten Therapie bei einer Depression fragte, entschieden sich
53,7 Prozent für einen
Therapeuten. Nur
10,6 Prozent wählten
Psychopharmaka. Allerdings waren die Teilnehmer gesund und hatten das Leid nie am eigenen Leib erfahren.
Die Realität sicht anders aus: Seit
1990 wurden fast
doppelt so viele Psychopharmaka an gesetzlich Versicherte verschrieben. Ihr Anteil an allen Medikamenten kletterte von
2,6 Prozent im Jahr 1990 auf
4,3 Prozent im Jahr 2006, so das Wissenschaftliche Institut der AOK. Auch Psychotherapien werden
immer häufiger genutzt. Dies spiegelt weniger eine Vorliebe für eine der beiden Behandlungen wider als
eine drastische Zunahme der seelischen Störungen: Laut Schätzungen der
Weltgesundheitsorganisation wird sich die
Depression nach den Herz-Kreislauf-Leiden in den Industrieländern bis
2020 zur
Volkskrankheit Nummer zwei ausweiten. Düstere Aussichten, die die Frage aufwerfen, wie den Betroffenen wirklich geholfen werden kann.
In den USA scheint man diese Frage inzwischen
zugunsten der Psychopharmaka zu beantworten: Von
1993 bis
2002 verfünffachte sich der Verbrauch des
Ritalins bei hyperaktiven Kindern. Von
1997 bis
2005 verdoppelten sich die Ausgaben für
Antidepressiva. Dagegen ist
die Zahl der Psychotherapien rückläufig: Waren es
1996 noch
44,4 Prozent aller Patienten beim Psychiater, schrumpfte der Anteil bis
2005 auf
28,9 Prozent. Die Amerikaner, in den Achtzigern noch Fans des Gespräches auf der Couch, wenden sich
vermehrt den Tabletten zu.
Dieser Wandel hat auch monetäre Ursachen:
Die amerikanischen Krankenkassen erstatten vorzugsweise die Kosten für die Arzneien, aber nicht für Psychotherapien. "Dies liegt auch daran, dass die Wirksamkeit bei den Psychopharmaka eindeutig belegt ist. Bei den Therapien ist dieser Nachweis viel schwieriger zu führen und fällt nicht immer so eindeutig aus", sagt
Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie an der Universität Leipzig.
Anmerkung: Na wenn der das sagt?Dies erklärt
teilweise, weshalb die Psychopharmaka im Trend liegen: Bei
Depressionen, Schizophrenie und Zwangserkrankungen wird heute kein Arzt auf Tabletten verzichten. "Auch bei akuten Psychosen, bei denen der Patient sich selbst oder andere gefährdet, kann die ärgste Gefahr mit Arzneien abgewendet werden",
sagt Hegerl. "Antidepressiva machen auch
nicht abhängig, verändern
nicht die Persönlichkeit und sind
keine Aufputschmittel", sagt er.
Die ärztlichen Leitlinien sehen bei schweren Depressionen aber nicht die alleinige Gabe von Psychopharmaka vor, sondern eine Kombination mit der Psychotherapie. Der Mix ist der Einzeltherapie überlegen, heißt es.
Das ist ein allgemeiner Trend: "Früher hat man Psychotherapie und -pharmaka oft als
'entweder - oder' betrachtet", erinnert sich Jörg Frommer, Experte auf dem Gebiet der Psychotherapie an der Universität Magdeburg. Die beiden Zünfte buhlten um Patienten. Heute haben sie sich versöhnt. Eine Reihe von seelischen Störungen profitiert davon: "Bei einer schweren Angsterkrankung kommen wir nicht umhin, zunächst Beruhigungsmittel zu geben", sagt Frommer. Parallel dazu muss aber
unverzüglich die Psychotherapie beginnen. Während die Arzneien vordergründig an den Symptomen ansetzen, die Stimmung aufhellen oder Sorgen vertreiben, will der Psychotherapeut die Ursachen aufspüren und beseitigen helfen. Mittlerweile existieren dafür einige Tausend verschiedene Varianten, angefangen von der Musik- bis zur Familienbehandlung. Aber nur einige Verfahren haben ihre Heilkraft wissenschaftlich belegt.
So sind die
kognitive Verhaltenstherapie und die
interpersonelle Therapie die beiden einzigen Formen, die
nachweislich gegen Depressionen helfen, sagt Hegerl. Bei
schwachen oder
mittelschweren Erkrankungen sind die Sitzungen beim Seelenarzt sogar
den Arzneien überlegen und werden als alleinige Behandlung empfohlen.
In der Verhaltenstherapie steht die Alltagsgestaltung im Mittelpunkt der Gespräche. Der Tag soll
nicht mit Pflichten zugepflastert sein, sondern soll
Zeit für Müßiggang beinhalten. Negative Denkmuster werden analysiert, mit dem Ziel, sie abzulösen. Eine handlungsorientierte und pragmatische Form der Therapie. Die
interpersonelle Therapie hingegen eignet sich vor allem bei älteren Patienten, deren Stimmung durch
zwischenmenschliche Konflikte getrübt ist. Der Therapeut hinterfragt, weshalb der Patient Außenseiter, Buhmann oder graues Mäuschen sein soll. Das dadurch erwachsende Bewusstsein
soll einen Wandel herbeiführen.
Aus den USA schwappt unterdessen eine neue Therapievariante herüber, die der amerikanische Psychologe James McCullough als
"Cognitive and Behavorial Analysis System of Psychotherapy", kurz:
CBASP, für Patienten mit
chronischer Depression entwickelt hat. Er reagiert damit darauf, dass die Betroffenen häufig jeglichen zwischenmenschlichen Kontakt meiden: Die Post wird nicht aus dem Briefkasten geholt, bei kleinsten Konflikten reagieren sie mit Flucht. Solche Alltagssituationen lässt der Therapeut
Revue passieren und sein Gegenüber
Ideen entwickeln, wie sie anders ausgehen würden. "Es werden kleine, aber
sehr konkrete Schritte erarbeitet, wie der Patient aus seiner
Vermeidungshaltung herauskommt", sagt Claudia Dahm-Mory, Psychologin in der Gruppe von Ulrich Hegerl und eine von bislang nur sieben
CBASP-Therapeuten in Deutschland.
Das fast schon Revolutionäre von McCulloughs Methode ist, dass der Therapeut
nicht neutral bleibt, sondern seinen Standpunkt zu einem gewissen Grad einbringt. Er kann beispielsweise sein Bedauern ausdrücken, wenn der Patient einige Sitzungen unentschuldigt ausfallen lässt. Sigmund Freud würde bei dieser Vorstellung wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Für ihn war die Neutralität stets oberstes Gebot. McCullough beabsichtigt jedoch mit dieser Neuerung den
Kokon, in denen sich
chronisch Depressive einwickeln, zu durchdringen. In trauter
Zweisamkeit sollen
neue Verhaltensweisen eingeübt werden. Eine umstrittene Herangehensweise, wie Claudia Dahm-Mory einräumt. Gleichwohl ist
CBASP laut mehrerer Studien eine der wirksamsten Behandlungen bei
chronischer Depression.Obwohl
CBASP als neues Verfahren in der Psychotherapie
eine Ausnahme bildet, zeigt es doch einen Trend:
"Es gibt eine immer stärkere Professionalisierung und Spezialisierung der Therapie", sagt Psychologe Frank Meiners von der Deutschen Angestellten-Krankenkasse DAK in Hamburg.
Traumatherapeuten betreuen Überlebende eines Flugzeugabsturzes,
spezifische Gruppentherapien bewähren sich bei Essstörungen, mit
Konfrontation werden Phobien behandelt.
Die freudsche Psychoanalyse hat sich stark verästelt und vielfach weiterentwickelt. Ihre Ursprungsform wurde unterdessen zurückgedrängt, vor allem
auf Kosten der Verhaltenstherapie. Jürgen Deckert, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Würzburg, sagt:
"Die Psychoanalyse erinnert an den sokratischen Hebammenstil." Der Betroffene bekommt
keine Handlungsanweisungen und soll seine Probleme
selbst erkennen, im gelenkten Gespräch. Das kann langwierig sein. Genau darin liegt die Krux: "Wir stehen zunehmend unter Druck, rasche Erfolge auf Ebene der Symptome vorzuweisen. Dafür ist
die praxisorientierte Verhaltenstherapie oft besser", so Deckert.
Allerdings rührt diese Methode tief liegende seelische Ursachen für Krankheiten, etwa den frühen Verlust des Vaters oder einen Schwangerschaftsabbruch, nicht an. Hierher dringt nur die freudsche Tiefenanalyse vor. Darin liegt bis heute ihre unangefochtene Stärke. Nur sie hat zum Zie
l zu erkennen, warum man in ein Muster verfällt, um daraus zu lernen, wie sich ein Rückfall
vermeiden lässt.
Was viele nicht wissen: Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen nach einer Verhaltenstherapie sogar die Kosten einer Psychoanalyse, aber nicht die einer weiteren Verhaltenstherapie.Die Methode des Gespräches ist jedoch nur das eine. Mindestens genauso wichtig ist die Chemie zwischen Therapeut und Teilnehmer. "Wenn das Arbeitsverhältnis von beiden Seiten als gut bezeichnet wird, ist das ein entscheidender Erfolgsfaktor, unabhängig von der Schule", sagt Frommer. Trotzdem sind die Sitzungen kein Couchgeplauder. Sie fordern beide Seiten.
http://www.welt.de/wams_print/article2441922/Therapeut-oder-Tablette.htmlGruss scalpell
Was soll man dazu sagen? Alles einfach ein Geschäft ohne Aussicht auf Erfolg für die Betroffenen Warum? Weil das System es so will