"Die Sätze wurden passend gerechnet!" Interview wegen Hartz-IV vor dem BVerfG

Begonnen von Thomas_Kallay, 21:04:41 Mo. 23.November 2009

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Thomas_Kallay

Hallo,

soeben erreicht mich der Hinweis auf ein gestriges (22. November 2009) Interview auf echo-online.de mit dem Darmstädter Sozialrichter Dr. Jürgen Borchert, der Richter ist am Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt. Dort leitet er den 6. Senat, der wegen Hartz IV das Bundesverfassungsgericht angerufen hat. Das Verfahren hat das Aktenzeichen LSG Hessen L 6 AS 336/07, und 1 BvL 1/09 beim Bundesverfassungsgericht.

Zitat
ECHO Online
http://www.echo-online.de/nachrichten/hintergruende/art2638,425823

22. November 2009
von Jens Kleindienst

"Die Sätze wurden passend gerechnet"

ECHO: Herr Borchert, Ihr Senat beim Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt hat wegen Hartz IV das Bundesverfassungsgericht angerufen, drei Monate später auch das Bundessozialgericht. Worum geht es in Karlsruhe?

Borchert: Die Verhandlung am 20. Oktober hat gezeigt, dass die Verfassungsrichter sich eher am Rande mit den Regelsätzen für Kinder beschäftigen wollen, auf die das Bundessozialgericht abstellt. Stattdessen hat der Vorsitzende des Ersten Senats, Hans-Jürgen Papier, die Frage der Menschenwürde im Hinblick auf das Existenzminimum und die daraus sich ableitenden Pflichten des Staates in das Zentrum gestellt.

ECHO: Was bedeutet das konkret?

Borchert: Es geht vor allem um die Frage, mit welchem Verfahren das Existenzminimum ermittelt wird, das ja die Grundlage für die Berechnung der Hartz-IV-Sätze darstellt. Außerdem geht es darum, wo die Entscheidung über das Existenzminimum zu treffen ist. Derzeit ist es so, dass die Definition der Armutsgrenze von einem Gremium außerhalb des Bundestags und damit unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgenommen wird. Das halten wir für nicht verfassungskonform.

ECHO: Wer sitzt in diesem Gremium?

Borchert: Vertreter der Gebietskörperschaften und der Bundesregierung sowie des Deutschen Vereins, das ist ein Zusammenschluss der öffentlichen und freien Träger von Sozialarbeit. Die haben bisher die Regelsätze ausbaldowert, wobei der Vertreter des Finanzministers stets das letzte Wort gehabt haben soll. Das war schon bei der früheren Sozialhilfe so. In der Rechtsliteratur wird dieses Verfahren seit Jahrzehnten scharf kritisiert. Weil man zu Recht sagt: Eine Entscheidung, die für das soziale Gefüge der Republik von so grundlegender Bedeutung ist, gehört ins Parlament.

ECHO: Und diese Kritik wird von den Karlsruher Richtern geteilt?

Borchert: Davon kann man nach der mündlichen Verhandlung wohl ausgehen. Womöglich erleben wir bald die Geburt eines neuen Grundrechts auf ein menschenwürdiges und der parlamentarischen Kontrolle unterliegendes Existenzminimum - abgeleitet aus den Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes. Das freut mich besonders, weil unser Vorlagebeschluss genau in diese Richtung ging.

ECHO: Die Definition des Existenzminimums nach Kassenlage ist nicht zulässig?

Borchert: Das lässt sich nicht so einfach sagen. Seine Höhe wird immer auch abhängig sein von den jeweiligen fiskalischen Gegebenheiten. Das sozio-kulturelle Existenzminimum ist eine relative Größe. Grundsätzlich gilt aber, dass ein vom Parlament gesetzter Maßstab - in unserem Fall das unterste Fünftel der Haushalte gemessen an ihren Einkommen und Verbräuchen - dann auch zu gelten hat. Und dagegen wurde bei Hartz IV verstoßen.

ECHO: Das von Ihnen kritisierte Entscheidungsgremium ist von der Grundlage abgewichen?

Borchert: Ja. Es hat Abzüge vorgenommen, die auch den Karlsruher Richtern absolut nicht nachvollziehbar erschienen.

ECHO: Zum Beispiel?

Borchert: Zum Beispiel wollten die Richter die Belege sehen, aus denen sich ergibt, dass die Menschen im untersten Fünftel der Haushalte sich tatsächlich Pelzmäntel und Maßanzüge leisten. Denn mit der angeblichen Existenz solcher Ausgaben wurden entsprechende Abzüge in erheblichem Umfang bei den Hartz-IV-Sätzen begründet. Oder nehmen Sie die Ausgaben für Freizeit. Da wurden Abschläge mit der angeblichen Nutzung von Segelflugzeugen begründet. Da drängt sich doch die Frage auf: Wer leistet sich im untersten Fünftel der Haushalte diesen teuren Sport?

ECHO: Jedenfalls drängt sich der Eindruck auf, dass es willkürliche Abzüge sind.

Borchert: Das sehe ich auch so.

ECHO: Ist das Schlamperei oder steckt dahinter System - mit dem Ziel, die Hartz-IV-Sätze künstlich niedrig zu rechnen?

Borchert: Das Bemerkenswerte an den Gesetzen war, dass der Regelsatz schon lange vor ihrem Inkrafttreten feststand. Und er wurde auch nicht geändert, als sich in der Zwischenzeit fundamentale Rechengrößen verändert hatten. Beides legt die Vermutung nahe, dass die Sätze hier ,,passend gerechnet" wurden, wie einer der von unserem Senat gehörten Sachverständigen es formulierte.

ECHO: Der Regelsatz ist also nicht korrekt zustande gekommen, und er ist zu niedrig. Wie hoch müsste er sein?

Borchert: Wir haben in Darmstadt Gutachten erstellen lassen, um diese Frage zu beantworten. Das Ergebnis war, dass die Regelleistung für die dreiköpfige Familie, um die es in unserem Fall geht, um monatlich etwa 150 Euro höher liegen müsste.

ECHO: Eine solche Anhebung würde die öffentlichen Haushalte mit Milliarden Euro belasten.

Borchert: Gerechtigkeit hat ihren Preis. Aber Sie können davon ausgehen, dass die Karlsruher Richter auch die fiskalischen Belange im Blick haben.

ECHO: Inzwischen sind mehr als 100 000 Hartz-IV-Verfahren bei den Sozialgerichten anhängig. Die Fälle offenbaren immer wieder befremdliche Details. Erinnert sei an den Fall eines Schülers, der die Übernahme der Kosten für seine Schulbusmonatskarte vor Gericht durchsetzen musste. Dafür ist im Regelsatz ein lächerlich geringer Betrag vorgesehen. Steckt hinter den vielen Fällen dieser Art ein grundsätzlicher Webfehler des Systems?

Borchert: Ja, sicher. Der ist in Karlsruhe auch angesprochen worden. Anders als bei der früheren Sozialhilfe fehlt bei Hartz IV das Ventil von Ausnahmeregeln. Nach dem alten Sozialhilferecht konnte man besonderen Umständen durch besondere Leistungen gerecht werden - also zum Beispiel die Kosten für die Schülermonatskarte erstatten. Das hat man abgeschafft und durch eine strikte Pauschalierung ersetzt.

ECHO: Begründet wurde dies mit einer größeren Gerechtigkeit und weniger Bürokratie.

Borchert: Aber es funktioniert nicht. Das Leben ist nun einmal so vielgestaltig, dass es in vielen Fällen ungerecht und einfach unerträglich ist, nur mit Pauschalsätzen zu arbeiten. Diese Fälle landen dann vor den Sozialgerichten.

ECHO: Gerade in der Anfangszeit waren viele Hartz-IV-Bescheide auch einfach fehlerhaft.

Borchert: Ja, auch dies hat neben der fragwürdigen Gesetzgebung viel zum schlechten Ruf der Hartz-Reformen beigetragen. Die neuen Verwaltungseinheiten, die sogenannten Arges, mussten damals praktisch über Nacht aus dem Boden gestampft werden und haben Teile ihres Personals aus den Auffanggesellschaften von Post, Bahn und Telekom rekrutiert. Die hatten einfach keine Erfahrung mit Sozialrecht.

ECHO: Es heißt immer wieder, die Hartz-IV-Sätze seien grundsätzlich zu niedrig; sie reichten hinten und vorne nicht. Dagegen wird eingewandt, bei einer deutlichen Erhöhung werde der notwendige Abstand zu den Einkommen von Niedrigverdienern eingeebnet. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma?

Borchert: Auch diese Frage spielte in Karlsruhe eine Rolle. Ein Richter warf dort die Frage auf, ob man ernsthaft mit einem Lohnabstandsgebot operieren könne, solange es keine flächendeckenden Mindestlöhne gebe. Das spricht den entscheidenden Punkt an. Meines Erachtens sind die Hartz-IV-Leistungen im Zusammenhang mit der Etablierung eines Niedriglohnsektors in Deutschland zu sehen. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Politik die Leiharbeit entfesselt hat. Viele gesicherte Arbeitsplätze wurden so in prekäre Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt. Daraus ist eine Abwärtsspirale entstanden, an deren Ende die massenhafte Zunahme der Zahl von Hartz-IV-Empfängern steht.

ECHO: Karlsruhe wird der Politik kaum die Einführung von Mindestlöhnen vorschreiben.

Borchert: Nein. Aber die Richter werden vermutlich kritisch hinterfragen, wie sich die Hartz-IV-Sätze in diesem Umfeld gestalten. Und dabei kann das Lohnabstandsgebot nach meiner Einschätzung nicht mehr greifen. In der Realität ist es ohnehin nur bei Familien ein Problem. Wer Single ist, bei dem sind die Sätze so gering, dass sich eine Erwerbstätigkeit allemal lohnt.

ECHO: Bei Familien mit mehreren Kindern kann es aber wirklich so sein, dass Arbeit sich nicht lohnt.

Borchert: Ja, nur das hat eine ganz andere Ursache. Nämlich die Tatsache, dass es bei den meisten Sozialabgaben heute keine Rolle spielt, ob ich mit meinem Gehalt auch Kinder ernähren muss oder nicht. Der Abgabenkeil zwischen Brutto und Netto trifft Familien, gemessen an ihrer Leistungsfähigkeit, weitaus härter. Die Folge davon ist eine krasse Benachteiligung von Familien. Heute bleibt ein durchschnittlich verdienender Facharbeiter bereits mit zwei Kindern unter dem steuerlichen Existenzminimum. Familien- und Kinderarmut wird so regelrecht produziert - ausgerechnet vom Sozialstaat!

ECHO: Mit einer Reform der Hartz-IV-Sätze lässt sich das Dilemma nicht lösen.

Borchert: Nein, aber das Verfassungsgericht hat hier schon den Weg gewiesen - in seinem Urteil zur Pflegeversicherung aus dem Jahr 2001, mit dem es bei der Beitragserhebung die Berücksichtigung der Kindererziehung verlangt hat.

ECHO: Entsprechendes müsste für die anderen Zweige der Sozialversicherung gelten.

Borchert: So ist es. Damit bliebe den Familien mehr Netto vom Brutto - und quasi nebenbei wäre auch der Abstand zu den Hartz-IV-Leistungen hergestellt.

Grüsse,
Thomas Kallay,
Kläger gegen den Hartz-IV-Eckregelsatz
vor dem Bundesverfassungsgericht
- Vorverfahren: LSG Hessen Az.: L 6 AS 336/07
- Aktenzeichen beim BVerfG: 1 BvL 1/09

Workless

ZitatWer Single ist, bei dem sind die Sätze so gering, dass sich eine Erwerbstätigkeit allemal lohnt.
Was ich allerdings auch mal zu bezweifeln wage.
Siehe beispielsweise hier

Codeman

Hallo Thomas,

du kannst ja von Glück sagen,dass du einen Herrn Borchert als Vorsitzenden Richter des 6.ten Senats hast. Seine Vorstellungen teile ich. Ich bin sehr zuversichtlich,dass zumindest die Pauschalisierung abgeschafft wird.
Ich bin der Rostfleck am Schwert des Sozialismus - Zitat frei nach Schraubenwelle

Gehtsnoch

ZitatWer Single ist, bei dem sind die Sätze so gering, dass sich eine Erwerbstätigkeit allemal lohnt.

Bezweifle ich, bei den ganzen Aufstockern im Land und die vielen Job Angebote die gerade mal 50 Euro mehr hergeben als Hartz4, ich aber im Monat dann 200 Euro Spritkosten habe...und noch mal ca 100 fuer das Auto im allgemeinen....
Zeitarbeit ist scheisse!

Carpe Noctem

Zitat von: Thomas_Kallay am 21:04:41 Mo. 23.November 2009
Ein Richter warf dort die Frage auf, ob man ernsthaft mit einem Lohnabstandsgebot operieren könne, solange es keine flächendeckenden Mindestlöhne gebe. Das spricht den entscheidenden Punkt an. Meines Erachtens sind die Hartz-IV-Leistungen im Zusammenhang mit der Etablierung eines Niedriglohnsektors in Deutschland zu sehen.

Da hat der Richter etwas sehr wichtiges angesprochen! Hartz IV treibt die Löhne nach unten und damit das so bleiben kann, darf ein Existenzminimum nach bisheriger Rechnung nicht menschenwürdig sein. Das ist der Geist der Agenda 2010, frei nach dem Motto: "Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen". Wenn das Gericht jetzt hergeht und einen Lohnabstand nur dann für zulässig hält, sofern eine Vollzeitstelle per Mindestlohn netto deutlich oberhalb des Existenzminimums angesiedelt ist, haben wir schon viel gewonnen. Gewinner hierbei wären sowohl Geringverdiener als auch Erwerbslose, denn letztlich müsste eine Anhebung des Existenzminimums Rückwirkungen auf die Löhne haben.

Grüsse - CN
Art. 1 GG: "Die Menschenwürde steht unter Finanzierungsvorbehalt"

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