Geschichte des maritimen Klassenkampfes

Begonnen von ManOfConstantSorrow, 14:14:21 Do. 27.Mai 2010

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Maritimer Klassenkampf
Hintergrund. Vom Seeleute- und Hafenarbeiterstreik 1896/97 bis zum Widerstand gegen Billigflaggen und Lohndrückerei: Die Seeschiffahrt ist nach wie vor ein wichtiger Bezugspunkt der internationalen Arbeiterbewegung

Von Rolf Geffken

Die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke beabsichtigt, gemeinsam mit den norddeutschen Landtagsfraktionen der Partei im November 2010 eine »Maritime Konferenz« durchzuführen, bei der zwar die Bereiche Häfen und Werften, nicht aber als eigenständiger Aspekt das Thema »Seeschiffahrt« bzw. »Seeleute« behandelt werden soll. Der Autor sieht in der Vernachlässigung dieses Aspektes eine Abkopplung der Linken von der historischen Bedeutung der Seeschiffahrt und eine Verkennung der Bedeutung dieses Wirtschaftszweiges für die Politik des Kapitals ebenso wie für die deutsche und internationale Arbeiterbewegung.

Der Seeleute- und Hafenarbeiterstreik von 1896/97 dauerte über zwei Monate. Damals gab es noch kein Streikrecht. Das Risiko der Hafenarbeiter und Seeleute bestand darin, von heute auf morgen ihre gesamte Existenz zu verlieren. Dennoch beteiligten sich auf dem Höhepunkt des Arbeitskampfes 17000 Arbeiter, darunter fast 3000 Seeleute. Von Anfang an stand der Kampf der Seeleute in einer unmittelbaren Verbindung zum Kampf der Hafenarbeiter um bessere Arbeitsbedingungen. Eine der wichtigsten Forderungen der Seeleute war die Abschaffung der privaten Arbeitsvermittlung, die die Seeleute in die Abhängigkeit von Heuerbaasen (Arbeitsvermittler für einen Schiffskapitän) und »Landhaien« trieb. Eine der wichtigsten Forderungen der Hafenarbeiter war die Überwindung ihres Status als »Tagelöhner«, die erst nach 1918 bzw. 1945 mit der Schaffung der »Gesamthafenbetriebe« (GHB) erfüllt wurde. Der Arbeitskampf selbst, dem die Unternehmer mit Aussperrung und massivem staatlichen Terror begegneten, blieb erfolglos. Wichtigstes Resultat des Arbeitskampfes aber war die Organisation vor allem der Seeleute. Dieser Arbeitskampf bestätigte also, was Karl Marx und Friedrich Engels schon zuvor 1848 im »Kommunistischen Manifest« festgestellt hatten: »Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter« (MEW 4, S. 471).

Mär von der Seefahrtsromantik


Der Streik hatte darüber hinaus aber auch eine erhebliche politische Bedeutung, denn der deutsche Imperialismus war zur sogenannten Kaiserzeit unmittelbar gekoppelt an das Streben des Deutschen Reiches nach Vorherrschaft »auf See«. Für das Flottenprogramm wurde eine gigantische Propagandamaschine in Bewegung gesetzt, die tiefe und nachhaltige kulturelle Wirkungen erzielte: Das bis heute wirksame »Marineblau« war symbolträchtiger Ausdruck eines künstlichen »Marine-Bewußtseins«, das mit der Wirklichkeit der Seeschiffahrt nichts zu tun hatte. Es war zugleich der Beginn einer Fetischisierung des Schiffes gegenüber den Menschen, die auf den Schiffen ihren Dienst tun mußten sowie der Romantisierung der Arbeit der Seeleute (»Seefahrtsromantik« usw.). Die Folgen dieser Ideologie wirken bis heute nach und lassen sich bisweilen in der Alltagssprache wiederfinden (»Seemannslieder«, »Windjammerparaden« usw.). Mit der Wirklichkeit hatten sie schon damals nichts zu tun. Heute auch nicht. Aber bereits seinerzeit hieß es in einer Denkschrift des Seemannsverbandes: »Jener Teil des Volkes stellt sich in dem Seemannsleben eine Art Abenteurerleben vor, ein Leben in lauter Freiheit, Freude und Wonne. Uns nimmt das nicht wunder, zumal wir die Wege kennen, die eingeschlagen werden. Die Mittel kaum kennen, die angewandt werden, um dem deutschen Volke das Leben eines Seemannes als recht romantisch und angenehm zu schildern.« Nirgendwo sonst konnte jedoch diese Marine-Ideologie so erfolgreich Fuß fassen wie in Deutschland: Die deutsche Küste war auch zu Zeiten des Kaiserreiches eine kurze Küste. Die meisten Deutschen lebten nicht an der Küste und verstanden von Seeschiffahrt nichts.

Dies war von vornherein in den skandinavischen Ländern, in Großbritannien, aber auch in den USA und sogar in Frankreich völlig anders. Schon Anfang des letzten Jahrhunderts schrieb der Schriftsteller B. Traven in seinem »Totenschiff«: »Die Romantik der Seegeschichten ist längst vorbei ... Möglich, daß für Kapitäne und Steuerleute eine Romantik einmal bestanden hat. Für die Mannschaft nie. Die Romantik der Mannschaft ist immer nur gewesen: Unmenschlich harte Arbeit und eine tierische Behandlung.«

Doch bis heute werden diese Märchen weitergestrickt. Sie lassen sich bis hinein in die »Museumspädagogik« des Deutschen Schiffahrtsmuseums (DSM) in Bremerhaven oder aber des Internationalen Maritimen Museums (IMM) in Hamburg verfolgen. Diese Seefahrtsromantik schloß natürlich auch das Bild von dem »Boot, in dem alle sitzen« ein: Die angebliche Interessenidentität von Kapitänen, Seeleuten und Reedern. Doch es waren die Reeder selbst, die diese Fiktion noch vor der Jahrhundertwende glänzend widerlegten. So z.B., als der Reeder Adolf Schiff aus Elsfleth nach der Havarie eines seiner Schiffe sich in einem privaten Brief beklagte: »Leider ist die Mannschaft gerettet worden.« »Leider«, weil auf diese Weise sich seine Versicherungsprämie verkürzte, denn nach der Seemannsordnung mußte er die Seeleute kostenlos »zurückschaffen.« August Bebel zitierte im Reichstag ausführlich aus diesem Brief, als dieser über die zahlreichen Schiffsunglücke diskutierte, denen immer wieder Seeleute zum Opfer fielen, weil die Reedereien es mit der Schiffsicherheit nicht so genau nahmen. Die Krone setze dem Ganzen allerdings der Hamburger Reeder Laeisz auf, als er sich über die Seeberufsgenossenschaft lustig machte und wörtlich schrieb: »Die Unfallverhütungsvorschriften haben meines Erachtens weniger einen direkten praktischen Zweck, als daß sie zur Dekoration dienen, um der Behörde und dem Publikum zu zeigen, wie vortrefflich die Seeberufsgenossenschaft alles geregelt hat. (...) Von diesem Gesichtspunkt meine ich, sollten wir jede auftauchende Frage durch eine hübsche Unfallverhütungsvorschrift zu lösen trachten. Je harmloser, desto besser. Die Welt will betrogen sein.«

Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit dieses angeblich so »spendablen« Reeders hatten diese Äußerungen nicht. Im Gegenteil: Noch heute wird das Andenken an diesen Reeder in der Freien und Hansestadt Hamburg großzügig gefeiert. So wurde die Hamburger Musikhalle sogar extra in »Laeisz-Halle« umbenannt und vor dem Hamburger Rathaus und an der Binnenalster wehen noch heute die Fahnen der Hanseatischen Reedereien, obwohl diese zu den gewerkschafts- und arbeitnehmerfeindlichsten Arbeitgebern der deutschen Geschichte gehörten: Beim Norddeutschen Lloyd kursierten noch ganz offiziell bis 1918 sogenannte schwarze Listen, auf denen notiert wurde, wer gewerkschaftlich organisiert war und wer nicht. Gewerkschaftsmitglieder wurden nicht eingestellt. Und 1933 schrieb das Reederorgan Hansa: »Wir nehmen es willig in Kauf, wird der Augiasstall nur völlig gereinigt. Nur jetzt nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Die Stunde nutzen, in der alles gewagt werden kann.«

Damit war nichts anderes gemeint als die Inhaftierung von Tausenden Gewerkschaftern, Kommunisten und schließlich auch Sozialdemokraten, ihre Unterbringung in Konzentrationslagern und ihre Ermordung. So sehr die Geschichte der Reedereien von Anfang an auch eine Geschichte der Globalisierung war, so sehr waren die Reedereien zugleich immer der reaktionärste Teil der deutschen Großbourgeoisie (neben den sogenannten Stahlbaronen).

Wie rasch die deutschen Reeder jedoch in ihrem Streben nach Profit »vaterlandslos« werden konnten, bewiesen sie dann nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie viele andere Großreedereien verbrachten sie bereits Anfang der 60er Jahre den größten Teil ihrer Schiffstonnage unter sogenannten »Billigflaggen«, vor allem unter die Flaggen von Panama und Liberia. Die dann in Monrovia oder in Panama City vermeintlich beheimateten Schiffe entzogen sich jedem Zugriff der klassischen Schiffahrtsstaaten. Jahrzehntelang betrieben diese Reeder eine Dumpingpolitik extremen Ausmaßes.

Doch sie hatten auch einen veritablen Gegner, nämlich die Internationale Transportarbeiterföderation (ITF). Deren Existenz war wiederum zurückzuführen auf den bereits eingangs erwähnten berühmten Seeleute- und Hafenarbeiterstreik 1896/97. Noch im Jahre 1897 fand der erste internationale Kongreß der Hafenarbeiter, Seeleute und Binnenschiffer in London statt. Auf dem Stockholmer Kongreß der ITF 1902 kam es zur Etablierung dieses internationalen Gewerkschaftsverbandes. Wie mutig diese Organisation gegen jede Art von Unterdrückung auftrat, beweisen die bis heute vielfach noch unbekannten Aktionen selbst während der Nazizeit: In enger Verbindung mit der ITF kam es zur Bildung von illegalen Gewerkschaftsgruppen in norddeutschen Häfen und auf fast 70 deutschen Seeschiffen. 1937 kam es sogar zu einem viertägigen Streik von Fischdampferbesatzungen in Hamburg, der erfolgreich beendet werden konnte. Die 1937 erfolgte Heuererhöhung war auf diese Streikaktion zurückzuführen und nicht etwa auf irgendeine Art von Großzügigkeit der Nazimachthaber. Das Amsterdamer ITF-Sekretariat versuchte unter dem Holländer Edo Fimmen, den antifaschistischen Widerstandskampf der Seeleute zu organisieren und trat für die notwendige Einheit von Sozialdemokraten und Kommunisten gegen die faschistische Gefahr in ganz Europa auf.

1956 forderte die ITF in einer Resolution auf einem Kongreß in Wien die Regierungen der Schiffahrtsstaaten auf, endlich die weitere Tendenz zur Ausflaggung von Schiffstonnage zu stoppen. Doch die ITF wartete nicht ab, sondern organisierte systematisch mit Boykottaktionen den Abschluß fairer Arbeitsbedingungen auch auf sogenannten Billigflaggenschiffen. In zahlreichen Kampagnen, die sich Jahr für Jahr wiederholten, gelang es der ITF, immer mehr Schiffs­tonnage entweder wieder unter die Flaggen der Schiffahrtsstaaten zu bringen oder aber bessere Arbeitsbedingungen für die meist asiatischen Billig-Seeleute durchzusetzen. Wie bedeutsam dieser Kampf um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen auf Billigflaggenschiffen war, verdeutlichen die zahlreichen Schiffsunglücke, die sich vor allem unter sogenannten Billigflaggen, z.B. bei Tankern, ereigneten und damit sogar Umweltkatastrophen auslösten. Von Anfang an möglich waren die Aktionen aber nur im unmittelbaren Zusammenwirken zwischen der ITF, den Seeleuten und den Hafenarbeitern. Ohne Hafenarbeiter kein Boykott der Schiffe. Ohne Boykott kein erfolgreicher Seeleutestreik. Und umgekehrt. Seeleute und Hafenarbeiter kämpften wie in Hamburg 1896/97 erneut Hand in Hand. Nicht zufällig waren sie in Deutschland auch beide Mitglied der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) und als solche wiederum Mitglied in der ITF. Der im Verein von Seeleuten und Hafenarbeitern geführte internationale Kampf der ITF trug nicht unwesentlich zum »Schmuddelimage« der Billigflaggen bei.
Anfang der 70er Jahre kam es zum ersten nationalen Warnstreik der Seeleute im Westen Deutschlands. Neuer Wind kam auch in die Gewerkschaften: Während vor der Jahrhundertwende noch oft Gastwirte und Seemannsheimbesitzer als »Gewerkschaftsfunktionäre« fungierten, entstand auf der Grundlage des Betriebsverfassungsgesetzes ein ganzes Netz von Bordvertretungen auf den Schiffen und von Seebetriebsräten an Land.


Arbeitsscheu und chronisch schlecht gelaunt!

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Gesetzlich gedecktes Lohndumping

Kein Zweifel: Die Seeleute wurden stärker. Doch die Reeder sannen gemeinsam mit der »Politik« nach einem Ausweg abseits der Billigflagge. Ihre Idee: Am besten unter deutscher Flagge weiterfahren, dann aber an Bord deutscher Schiffe zu eben solchen Bedingungen, wie sie es auf den Schiffen der Billigflaggen gab. Wie sollte das passieren? Eine Idee war geboren: Das sogenannte »Internationale Seeschiffahrtsregister«. Seeleute sollten dort zu sogenannten »Heimatbedingungen« tätig werden. Eigentlich ein klarer Verfassungsbruch, weil auf diese Weise innerhalb der deutschen Rechtsordnung eine Art »Sondergebiet« geschaffen wurde, für das es nicht die geringste verfassungsrechtliche oder staatsrechtliche Grundlage gab. Man stelle sich vor: Der Bundestag beschließt plötzlich, daß etwa im Gebiet nordöstlich der Elbe nicht deutsche Jurisdiktion gilt. Nach klassischen Kriterien wäre das eine Art Hochverrat. Die Abtrennung des Teils eines Staatsgebietes. Doch das Bundesverfassungsgericht erklärte entgegen allen diesbezüglichen Bedenken dieses Gesetz für verfassungsgemäß, allerdings nicht ohne auf die angeblich besondere wirtschaftliche Situation der deutschen Seeschiffahrt damals einzugehen. Die extreme Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Seeschiffahrt hatte ihrerseits aber keineswegs zur Folge, daß nunmehr die gesetzliche Regelung geändert wurde.

Im Gegenteil: Eines der Argumente der Gegner dieses Gesetzes war von Anfang an, daß auf Dauer damit das sogenannte seemännische Know-how an der Küste verlorengehen würde. Über kurz oder lang würde es auf den Schiffen nur noch deutsche Kapitäne und »Chiefs« geben, nicht aber mehr deutsche Seeleute. Die Folge: Selbst bei der Wasserschutzpolizei oder in allen anderen schiffahrtsnahen Berufen würde irgendwann das berufliche Know-how aussterben. Genau dies trat ein. Als dann beim großen Export-Boom ab Mitte der 90er Jahre (China-Handel) die Reedereien expandierten, war der Ruf nach qualifizierten Seeleuten groß. Zwischenzeitlich allerdings hatten die meisten Seefahrtsschulen geschlossen. Es gab praktisch keine deutschen Seeleute mehr. Hinzu kam, daß man von heute auf morgen praktisch die gesamte Seeschiffahrt der DDR »abgewickelt« hatte (bis auf kleine Ausnahmen).

Das »Internationale Schiffahrtsregister« ist ein Beispiel dafür, wie weit die Politik den Reedern bei der Durchsetzung ihrer Profiinteressen entgegenzukommen bereit war. Dabei hatten die Reeder schon durch das Seemannsgesetz von 1957 Privilegien, von denen Unternehmer an Land nur träumen konnten. Bis 1970 gab es sogar die verfassungswidrige Norm einer »Desertion«: Das heißt, Seeleute durften bei Strafe das Schiff nicht einfach verlassen. Das Seemannsgesetz aber war in seiner Grundkonzeption der Seemannsordnung von 1902 nachgebildet und wies eine durch und durch demokratiefeindliche Struktur auf. Zu Recht forderten deshalb später auch die Seeleute innerhalb der ÖTV die Abschaffung des Seemannsgesetzes. Bis heute allerdings wurde diese Forderung nicht durchgesetzt. Kein Wunder: Bis auf Kapitäne und einige qualifizierte Offiziere ist die deutsche »Seemannschaft« faktisch ausgestorben. Sie wurde ersetzt durch Billigseeleute, die keineswegs nur unter deutschen Standards beschäftigt werden, sondern die vor allem auch weiterhin (wie auf den Billigflaggen!) existentiell abhängig sind von sogenannten »Crewing-Agencies«, also faktischen Menschenhändlerorganisationen.

Damit aber schließt sich ein Kreis: Die sogenannten Landhaie und Heuerbaase, gegen die sich die Seeleute 1896 wandten, feiern fröhlich Urständ: Heute unter den Billigflaggen oder beim ISR zu Lasten der sogenannten Billigseeleute. Damals zu Lasten deutscher Seeleute. Die Struktur ist dieselbe geblieben. Allerdings ist der Profit auch weitaus größer, denn die Zahl der eingesetzten Seeleute und die Größe der Schiffe sowie die Größe der Fracht stehen in gar keinem Verhältnis mehr zu dem, was um die vorletzte Jahrhundertwende üblich war. »Rückflaggung« aus der Billigflagge unter die deutsche Billigflagge des ISR kann also niemals eine Lösung im Interesse der Seeleute und der Bevölkerung sein. Wohl aber eine staatliche Handelsflotte, wie sie die ÖTV schon 1980 forderte.

Die ganze Widersprüchlichkeit und Unglaubwürdigkeit der offiziellen Politik in Sachen Seeschiffahrt wurde nicht zuletzt deutlich am Thema »Piraterie«: Da wurde beispielsweise der Einsatz von Militär zugunsten eines »deutschen Schiffes« diskutiert, obwohl es sich nur um das Schiff eines deutschen Reeders handelte, das Schiff selbst aber die Flagge von Antigua führte, also wiederum eine sogenannte Billigflagge. Während man also auf der einen Seite dem Reeder zubilligte, durch einen manipulativen Rechtsakt das Schiff der deutschen staatlichen Kontrolle zu entziehen, wurde es auf dem Umweg über die reinen wirtschaftlichen Interessen des deutschen Reeders wieder zu einem »deutschen Schiff« mit der Folge, daß die Politik sogar den Einsatz von Kriegsschiffen diskutierte. Dies zeigt nicht nur die Unglaubwürdigkeit der gesamten Politik im Bezug auf Billigflaggen, sondern auch, daß bis heute das eigentliche internationalrechtliche Problem der Billigflaggen von Politik und Gesetzgebung umgangen wird: Nach dem Genfer Abkommen über die Hohe See von 1957 muß zwischen dem sogenannten Flaggenstaat und dem Schiff eine »natürliche Verbindung« bestehen. Das heißt: Der Flaggenstaat muß über das Schiff eine natürliche Kontrolle ausüben und nicht eine fiktive (vor allem über die Schiffssicherheit). Ein Schiff, das in Antigua beheimatet ist, aber einem deutschen Reeder gehört und niemals nach Antigua fährt, oder ein Schiff, das in Liberia beheimatet ist und einem französischen Reeder gehört, aber niemals nach Monrovia fährt, verfügt nicht über eine solche »natürliche Verbindung«. Deshalb wäre die viele Jahre später durch internationale Abkommen eingeführte »Hafenkontrolle«, das heißt die Kontrolle den Hafen anlaufender Schiffe auf die Einhaltung von internationalen Sicherheitsstandards eigentlich gar nicht notwendig gewesen, da solche Billigflaggenschiffen internationalrechtlich eigentlich immer »rechtlos bzw. staatenlos« waren. Nur: Niemand traute sich gegen die mächtigen Interessen der großen Reedereien zu handeln, so daß man die Billigflaggen tatsächlich rechtlich für bare Münze nahm und als »Flaggen« anerkannte.

Dieser Zusammenhang wurde auch nicht in der sogenannten Viking-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes beachtet. Dort war der Boykott von Schiffen durch Hafenarbeiter mit dem Ziel der Verhinderung einer Ausflaggung für rechtswidrig erklärt worden. Tatsächlich war auch in diesem Falle die Ausflaggung nichts anderes als eine Umgehung der Befugnisse des eigentlichen Flaggenstaates durch Rechtsmißbrauch gewesen: Es sollte eine andere Flagge gehißt werden, um die Kontrolle des ursprünglichen Schiffahrtslandes zu verhindern und zugleich Dumpinglöhne durchzusetzen. Mit dem Verdikt des Gerichts in Luxemburg wurden über 100 Jahre Geschichte der Seeleutebewegung mit einem Federstrich beseitigt: Den Richtern war offensichtlich überhaupt nicht der Zusammenhang zwischen Seeleuten und Hafenarbeitern bekannt. Nicht etwa nur der theoretische, sondern der durch die Geschichte gewachsene und selbstverständlich auch in den Arbeitsbeziehungen der Schiffahrtsnationen längst anerkannte Zusammenhang zwischen Seeleuten und Hafenarbeitern.

Reederdiktat oder Staatsreederei?

Alle Diskussion über die regionale und nationale Bedeutung von Häfen, insbesondere über die zum Teil unsinnige Konkurrenz etwa zwischen dem Hafenprojekt Wilhelmshaven auf der einen Seite und dem Bremischen und dem Hamburgischen Hafen auf der anderen Seite oder aber zum Beispiel die jahrzehntelange völlig unsinnige Ausgrenzung eines Hafens in Cuxhaven zugunsten der Hamburgischen Hafenbetriebe oder die Konkurrenz zwischen dem Hamburger Containerhafen und dem Containerhafen in Bremerhaven sind unlösbar mit dem wirtschaftlichen Druck der großen internationalen Reedereien verbunden: Weder die Hafenbetriebe noch die lokale Politik entscheiden letztlich über eine Hafenpolitik im Interesse der Küstenregionen. Umgekehrt diktieren die großen internationalen Reedereien die Bedingungen, zu denen Häfen (vor allem ihre Überkapazitäten!) anbieten und verursachen so einen Preisverfall zu Lasten der Beschäftigten und der öffentlichen Haushalte. An dieser Stelle ist nicht mehr die Solidarität von Hafenarbeitern für Seeleute, sondern die Solidarität von Seeleuten und allen anderen Beschäftigten für die Hafenarbeiter und die Hafenstädte gefordert: Der Einfluß der Reedereien ist inzwischen so groß, daß inzwischen nicht mehr nur Häfen gegeneinander, sondern auch einzelne Staaten innerhalb der Europäischen Union und darüber hinaus gegeneinander ausgespielt werden. Längst sind nicht mehr nur Seeleute – und erst recht nicht nur Billigseeleute – das Opfer des Reederdiktats, sondern über den Umweg einer verfehlten Hafenpolitik ganze Regionen und auch Nationen.

Nur eine Staatsreederei wäre in der Lage, den kurzfristigen gewinnorientierten Reedereiinteressen gegenzusteuern und zugleich faire Arbeitsbedingungen an Bord der Schiffe wie in den Häfen zu garantieren. Schon um die vorletzte Jahrhundertwende war klar: Schiffssicherheit bedeutete Arbeitssicherheit. Für private Reeder war und ist eine Havarie immer nur eine Frage der Kosten. Für Seeleute aber war und ist sie eine Frage des Überlebens. Heute kommt etwas anderes hinzu: Havarien bedeuten fast auch immer eine Gefährdung der Umwelt. Wer Umweltschutz auf See will, muß sich auch um die Arbeitsbedingungen der Seeleute kümmern und das Billigflaggenunwesen bekämpfen.

Nur eine Staatsreederei könnte im übrigen im Verein mit einer staatlich organisierten Bildungspolitik und im Zusammenwirken mit den Betroffenen auf Dauer seemännisches Know-how und einen hohen Ausbildungsstand an Bord der Schiffe dauerhaft sichern. Doch gegen Forderungen dieser Art richtet sich die mediale Verwirrung der Reeder und ihrer mächtigen Lobby in Politik und Öffentlichkeit. Ausdruck dieser Verwirrung sind nicht zuletzt auch solche Einrichtungen wie das DSM und das IMM. Sie sind weit mehr als »nur Museen«. Nein: In ihnen und durch sie verdichtet sich das System eines gezielt betriebenen Schiffsfetischismus und einer Neuauflage der sattsam bekannten Seefahrtsromantik. Dafür bedarf es zwar nicht mehr unbedingt der Ideologie des kaiserlichen »Marineblau«, wohl aber spielt die ideologische Vernebelung in diesem Bereich immer noch und immer wieder eine zentrale Rolle. Ihr fallen wiederholt auch »kritische« Geister zum Opfer.

All dies macht deutlich, daß man die »maritime« Dimension der Politik niemals aussparen kann und darf, und zwar nicht nur, wenn es »bloß« um deutsche Häfen geht. Allerdings erkennt man in solchen Momenten deutlich – trotz aller künstlichen Marinepropaganda: Deutschland war nie eine maritime Nation. Und eben deshalb hat auch die Linke es nicht einfach, ein klares Verhältnis zur Seeschiffahrt zu gewinnen. Wer aber erst einmal die jahrzehntelang betriebene ideologische Vernebelung in diesem Bereich erkannt hat, dürfte die unterschiedlichen Fronten dabei deutlicher erkennen. Zugleich wird er erkennen: Der Kampf der Seeleute und Hafenarbeiter ist immer noch (und immer wieder) ein leuchtendes Symbol der internationalen Arbeiterbewegung in einer globalisierten Arbeitswelt.

Rolf Geffken vertrat als Anwalt bisher zahlreiche deutsche und ausländische Seeleute vor Gericht. 1988 erschien von ihm im VAR Verlag »Jammer & Wind. Eine alternative Geschichte der deutschen Seeschifffahrt«

http://www.jungewelt.de/2010/05-26/025.php
Arbeitsscheu und chronisch schlecht gelaunt!

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