Sparen für die Expansion14.04.2010
BERLIN/LONDON/LILLE
(Eigener Bericht) - Neue Expansionspläne der Deutschen Bahn stoßen in Großbritannien auf Protest. Wie es bei der britischen Eisenbahngewerkschaft RMT heißt, sei das Vorhaben des deutschen Konzerns, seine ICE-Züge durch den Kanaltunnel bis nach London fahren zu lassen, mit einer ernstzunehmenden Reduzierung der Sicherheitsbestimmungen verbunden. Dies wolle das betroffene Zugpersonal nicht widerstandslos hinnehmen. Drastische Sparmaßnahmen der Deutschen Bahn, die der Konzernexpansion zugute kommen, haben in der jüngeren Vergangenheit bereits zu erheblichen Ausfällen und schweren Sicherheitsmängeln im innerdeutschen Zugverkehr geführt. Unmut erregen in Großbritannien auch Pläne zur Schließung zweier Eisenbahndepots durch das Berliner Unternehmen. Die Stilllegung reiße Lücken in das Transportsystem des Landes, urteilt der RMT-Generalsekretär. Die Proteste wurden am gestrigen Dienstag anlässlich einer internationalen Demonstration in Lille laut, die sich gegen die Liberalisierung des Schienenverkehrs in der gesamten EU richtete. Die Deutsche Bahn will sich bei den Privatisierungsmaßnahmen durch umfassende Zukäufe eine dominierende Stellung sichern. Kritiker warnen vor weiteren Einschnitten bei der Sicherheit und vor weiteren Werksschließungen.
Vermeidbare UnfälleDie Proteste in Sachen Bahn wurden am gestrigen Dienstag bei einer internationalen Demonstration von Eisenbahnern im nordfranzösischen Lille laut. In Lille hat die European Railway Agency ihren Sitz, deren Aufgabe es ist, die Vereinheitlichung des europäischen Bahnsystems zu fördern. Wie es in dem Aufruf zu der Demonstration heißt, der unter anderem von der National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT, Großbritannien) und der Confédération générale du travail (CGT, Frankreich) unterzeichnet worden ist, befürchten die Bahngewerkschaften eine beträchtliche Verschlechterung der Verkehrssicherheit durch die im Gang befindliche Bahn-Liberalisierung. Wie es heißt, verzeichneten privatisierte Bahnfirmen bereits jetzt eine ganze Reihe vermeidbarer Unfälle in mehreren europäischen Staaten; auch im Eurotunnel zwischen dem französischen Calais und dem britischen Folkestone sei es zu überflüssigen Schwierigkeiten gekommen. Die Unterzeichner lehnen jegliche Aufweichung der Sicherheitsbestimmungen, die neue Unfälle zur Folge haben kann, strikt ab.[1]
SicherheitsbestimmungenGenau eine solche Aufweichung befürchtet die britische Bahngewerkschaft RMT für den Fall, dass die Deutsche Bahn die von ihr angestrebte Genehmigung für ICE-Fahrten von Köln nach London erhält. Wie der Chefredakteur der Zeitschrift RMT News, Brian Denny, schreibt, müssten dazu die ursprünglichen Sicherheitsbestimmungen für die Nutzung des Eurotunnels stark gelockert werden. Demnach sehen die Bestimmungen vor, dass Personenzüge in der Lage sein müssen, sich im Falle eines Unfalls in der Mitte zu trennen und in zwei Richtungen aus dem Tunnel zu entweichen. Das sei unumgänglich, da die Notausgänge Abstände von 375 Metern aufwiesen und die Passagiere bei einem Brand längere Strecken zu Fuß durch womöglich starken Rauch zurücklegen müssten, wenn der Zug sich nicht teilen und entkommen könne. Den aktuellen Bestimmungen genügt lediglich der Eurostar, nicht aber der ICE. Brian Denny weist darauf hin, dass die Sicherheitsvorschriften bereits jetzt ausgehebelt werden. So hätten während der kürzlich eingetretenen Kanaltunnel-Zwischenfälle die Zugmanager unter Bruch sämtlicher Regularien jeweils einen Zug alleine betreuen müssen. Das in der RMT organisierte Eurostar-Personal hat scharfen Protest eingelegt.[2]
VernachlässigtDie Aufweichung der Sicherheitsvorschriften im Eurotunnel zugunsten der Deutschen Bahn geht mit zunehmenden Sicherheitsmängeln und Ausfällen im innerdeutschen Schienenverkehr einher. So stellte sich nach dem Achsbruch eines ICE-Zuges vor zwei Jahren in Köln heraus, dass die Achsen der Züge nur völlig unzureichend überprüft wurden. Technische Ausfälle haben vergangenes Jahr für zeitweise chaotische Verhältnisse bei der Berliner S-Bahn gesorgt. In diesem Winter stellte sich heraus, dass viele Ersatzzüge der Deutschen Bahn den Finanzkürzungen zum Opfer gefallen waren - häufige Totalausfälle von Zügen bei in Deutschland nicht unüblichen Temperaturen unter dem Gefrierpunkt waren die Folge. Dass der Verkehrsminister nun eingestanden habe, die Bahn habe "in Bezug auf Kundenorientierung und Sicherheit nur noch so viel gemacht wie unbedingt nötig", stelle "eine Beschönigung der Lage" dar, heißt es beim konzernkritischen "Bündnis Bahn für Alle": "Die Bahn hat teilweise sogar viel weniger getan, als erforderlich war".[3] Angesichts weiterbestehender Sparprogramme der Deutschen Bahn sei "zwangsläufig" mit einer "weiteren Vernachlässigung der Sicherheit" zu rechnen, warnt "Bahn für Alle": Selbst wenn der Konzern die ICE-Achsen endlich in den Griff bekäme, "blieben anderswo zahlreiche Sicherheitsprobleme bestehen."
MarktbereinigungVon einer Lockerung der Sicherheitsbestimmungen im Eurotunnel wären jährlich rund eine Million Passagiere betroffen - ein Marktpotenzial, das die Deutsche Bahn unbedingt anzapfen will. Als eine Alternative zur eigenständigen Linienfahrt mit dem ICE gilt ein Einstieg beim Eurostar. Zudem will die Bahn ihre Expansion in Großbritannien vorantreiben. Bei der umfassenden Privatisierung des europäischen Schienenverkehrs werde man "nicht kampflos zuschauen" und es "schon gar nicht zulassen, unsere hervorragende Wettbewerbsposition aufs Spiel zu setzen", sagt Bahnchef Rüdiger Grube.[4] Nach der bevorstehenden "Marktbereinigung" blieben höchstens fünf europäische Bahnriesen übrig; die Deutsche Bahn werde auf jeden Fall darunter sein. In Großbritannien ist die Bahn mittlerweile mit der größten britischen Güterbahn präsent, der einstigen English, Welsh and Scottish Railway (EWS), die die Deutsche Bahn vor gut zwei Jahren für 335 Millionen Euro übernommen und in DB Schenker Rail (UK) umgetauft hat.[5] Zudem hat der Berliner Konzern den Personenzugbetreiber Chiltern Railways für 67 Millionen Euro übernommen. In einem nächsten Schritt will die Bahn die britische Firma Arriva übernehmen. Arriva ist in ganz Europa aktiv und hält außerdem lukrative Marktanteile in Großbritannien; der gesamte Konzernumsatz belief sich im Jahr 2008 auf 3,8 Milliarden Euro bei einem operativen Ergebnis von 136 Millionen Euro. Berichten zufolge will die Deutsche Bahn bis zu zwei Milliarden Euro für Arriva bezahlen - Mittel, die ohne die bisherigen Einsparungen bei der Sicherheit kaum aufzubringen wären.
StilllegungDabei ist die Deutsche Bahn - auch über die ICE-Pläne für den Eurotunnel hinaus - in Großbritannien selbst alles andere als unumstritten. Auseinandersetzungen gibt es derzeit unter anderem um zwei Eisenbahndepots von EWS, heute: DB Schenker Rail (UK). Wie es bei RMT heißt, laufen die gegenwärtigen Kürzungspläne von DB Schenker Rail (UK) darauf hinaus, das einstige Flaggschiff-Depot von EWS in Fife (Schottland) zu schließen; auch das Depot Trafford Park im Nordwesten sei davon betroffen. RMT zufolge geht es um rund 65 Arbeitsplätze; vor allem aber risse die Stilllegung der zwei Eisenbahndepots empfindliche Lücken in das Transportsystem des Landes. DB Schenker Rail (UK) leugnet die Schließungspläne, räumt jedoch ein, dass mögliche "Redundanzen" geprüft werden. Wie es bei RMT heißt, picke sich die Deutsche Bahn respektive DB Schenker Rail (UK) in Großbritannien die profitabelsten Rosinen aus dem Schienenverkehr - ein für expandierende Konzerne übliches Verhalten, das jedoch für die Fahrgastsicherheit und die Transportversorgung fatale Folgen mit sich bringt.
1,7 Milliarden EuroDie Liberalisierung und die Privatisierung der einst staatseigenen Bahnen führe auf dem gesamten Kontinent zu einer Verschlechterung der Verkehrssicherheit - also zu steigendem Unfallrisiko - und zudem zur Schließung von Betrieben, hieß es gestern auf der Demonstration in Lille. Die Deutsche Bahn, die eigenen Angaben zufolge zum weltweit führenden Mobilitäts- und Logistikunternehmen aufsteigen will, beteiligt sich daran. Unter anderem mit Einsparungen im Sicherheitsbereich erzielte sie letztes Jahr ein operatives Ergebnis von 1,7 Milliarden Euro - Mittel, die nun für Übernahmen und für die weitere Konzernexpansion zur Verfügung stehen.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/57781