« am: 14:21:30 Fr. 18.März 2011 »
Let’s go West – Arbeitsmigration in der EU
Wie Viele werden diesmal gehen? Im zunehmenden Maße treibt abermals diese alte „polnische Frage“ die Öffentlichkeit zwischen Oder und Bug um, wie sie vor einer jeden größeren Emigrationswelle an Aktualität gewinnt. Den derzeitigen Stichtag, in dessen Vorfeld Polens Medien über die Dimensionen der zu erwartenden Auswanderungswelle spekulieren, bildet der 1. Mai 2011. Ab diesem Tag müssen Deutschland und Österreich ihre Arbeitsmärkte für Lohnabhängige aus den acht osteuropäischen Ländern öffnen, die im Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten sind. Für die Menschen aus den baltischen Staaten, Polen, der Slowakei, Tschechien, Slowenien und Ungarn gilt dann die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit auf den deutschen und österreichischen Arbeitsmärkten. Deutschland und Österreich konnten diese langen Übergangsfristen bei der Öffnung ihrer Arbeitsmärkte während der Beitrittsverhandlungen zu der Osterweiterung der Europäischen Union durchsetzen.
Wie viele polnische Lohnabhängige werden also ab dem 1. Mai 2011 nach Deutschland kommen? Die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza, die sich mit dieser Fragestellung an etliche Migrationsexperten wandte, bezifferte das gegebene Migrationspotential auf rund eine halbe Million polnischer Bürger. Diese Menschen seien bereit, nach der Öffnung der Arbeitsmärkte in Deutschland und Österreich vor allem in den dortigen Niedriglohnsektoren zu arbeiten, hieß es in polnischen Medien. Alljährlich arbeiten aber ohnehin rund 300.000 bis 400.000 polnischer Saisonkräfte insbesondere in der deutschen Landwirtschaft zu regelrechten Hungerlöhnen. In der BRD könnten sogar bis zu 700.000 Menschen aus Mittelosteuropa auf den Arbeitsmarkt drängen, prognostizierte Herbert Brücker, Migrationsexperte vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gegenüber der Frankfurter Rundschau. Inzwischen eröffnen deutsche Zeitarbeitsfirmen auch erste Niederlassungen in Polen, in denen sie Arbeitskräfte für den Arbeitseinsatz in der Bundesrepublik anwerben - zu Dumpinglöhnen von vier bis fünf Euro.
Die begehrten, gut ausgebildeten Arbeitskräfte aus dem Osten Europas werden bei dieser erneuten Migrationswelle aber eher eine marginale Größe bilden. Zum einen sind viele von ihnen bereits auf den deutschen Arbeitsmarkt aktiv, etwa als selbstständige Handwerker und als scheinselbstständige Subunternehmer im Baugewerbe oder etwa in der Logistikbranche. Zudem besitzen deutsche Unternehmen auch jetzt schon die Möglichkeit, gefragte Fachkräfte aus Osteuropa offiziell zu beschäftigen, wenn sie gegenüber den Arbeitsämtern glaubhaft machen, keine entsprechend qualifizierten Lohnabhängigen auf dem heimischen Arbeitsmarkt finden zu können. Schließlich wirkt Deutschland mit seinem seit rund einer Dekade stagnierendem Lohnniveau auf viele gut ausgebildete Osteuropäer in Relation zu anderen westeuropäischen Ländern nicht gerade attraktiv. Die tatsächlichen Ausmaße der zu erwartenden Migrationswelle werden aber vor allem von der wirtschaftlichen Entwicklung in den Ländern abhängig sein, in die vieler Osteuropäer nach dem Beitritt ihrer Länder zur EU bereits emigrierten.
Die binneneuropäischen Migrationsströme seit der Osterweiterung der EU
Dabei bildet der für 2011 prognostizierte Migrationsschub nur einen Nachklang der gewaltigen Wanderungsbewegung, die im Gefolge der EU-Osterweiterung einsetzte. Westeuropäische Staaten wie Großbritannien, Irland, Spanien, die Niederlande, Italien oder Schweden haben schon längst ihre Arbeitsmärkte für Immigranten aus den neuen Mitgliedsländern geöffnet. Aufgrund dieser Öffnung der durch ein ungleich höheres Lohnniveau charakterisierten westeuropäischen Arbeitsmärkte, die im Fall Großbritanniens und Irlands sogar unverzüglich nach der Osterweiterung erfolgte, setzte eine grundlegende Verschiebung der Migrationsbewegungen innerhalb der Europäischen Union ein. Die Wanderungsbewegung von Arbeitskräften verlief innerhalb der EU jahrzehntelang von Süd nach Nord. Hierbei strömten lohnabhängige aus den unterentwickelten Regionen Italiens, Griechenlands, Portugals oder Spaniens in die nördlichen ökonomischen Zentren Europas. Hinzu kam die ebenfalls von Süd nach Nord verlaufende Migration türkischer Arbeitskräfte.
Diese sich ohnehin abschwächende, legale Wanderungsbewegung wurde nach der Osterweiterung der EU überlagert von Migrationsströmen, die von Ost nach West verliefen. Im Endeffekt fand somit ab 2004 eine Verlagerung der - legalen - Migrationsachsen in Europa statt. Hierbei etablierten sich zwei von Ost nach West verlaufende Wanderungsbewegungen, eine nördliche und – verstärkt ab 2007 - ein südliche. Im Norden strömten polnische und baltische Arbeitskräfte nach Großbritannien und Irland und später auch Holland und Skandinavien. Im Süden wanderten nach dem EU-Beitritt ihrer Länder in 2007 viele Bulgaren und Rumänen gen Italien und Spanien.
Die Ausmaße dieser größtenteils an Deutschland vorbeigezogenen Wanderungswelle sind gewaltig - und sie übertreffen die für 2011 angegebenen Migrationsprognosen um ein Vielfaches. Zu den wichtigsten, osteuropäischen Herkunftsländern dieser Wanderarbeiterschaft des 21. Jahrhunderts zählen vor allem Polen, Rumänien und Bulgarien. Verschiedenen Schätzungen zufolge sind zwischen 1,5 und 2,3 Millionen Polen gen Westen aufgebrochen. Seit dem EU-Beitritt Rumäniens am 1. Januar 2007 verließen bis zu 1,67 Millionen Arbeitsemigranten das Land. Bulgarien mit seinen 7,6 Millionen Einwohnern kehrten in den beiden Dekaden seit 1989 sogar nahezu 10 Prozent seiner Bevölkerung, 700 000 Menschen, den Rücken. In Wechselwirkung mit der niedrigen Geburtenrate sank die Bevölkerung Bulgariens von nahezu 9 Millionen Menschen in 1989 auf nur noch 7,5 Millionen in 2009! Weitere wichtige Herkunftsländer von Wanderarbeitern sind die baltischen Staaten. Wie litauische Medien unlängst berichteten, verließen die gerade mal 3,3 Millionen Einwohner zählende Baltenrepublik allein in diesem Jahr an die 75 000 Menschen in Richtung Westen. Die Arbeitsemigration aus Tschechien und Ungarn bewegt sich hingegen im bescheidenen Rahmen.
Die polnischen und baltischen Wanderarbeiter zog es nach dem Beitritt ihrer Länder zur Europäischen Union vor allem auf „die Inseln“ („na Wyspy“), wie Großbritannien und Irland im polnischen Volksmund genannt werden. Bei Krisenausbruch Ende 2008 schlugen sich gut 550 000 polnischer Bürger im britischen Niedriglohnsektor - auf Baustellen oder mit prekären Gelegenheitsjobs - durch. Nach dem Erreichen dieses Höchstwerts viel die Zahl der polnischen Tagelöhner in Großbritannien auf 484 000 Anfang 2010, doch inzwischen verzeichnete polnische Community wieder einen Zuwachs auf 537 000 offiziell registrierte Personen. Die polnische Diaspora in Irland zählte mehr als 200 000 Menschen, die bis zum Zusammenbruch der irischen Immobilienblase ebenfalls überwiegend auf dem Bausektor tätig waren. Polen und Litauer stellten an die 21 Prozent aller Migranten auf der Grünen Insel.
Rumänen und Bulgaren emigrierten hingegen zumeist nach Italien und Spanien. Die meisten dieser südeuropäischen Arbeitsmigranten haben sich in Italien niedergelassen, wo unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 800.000 und einer Million Rumänen sich durchzuschlagen versuchen. Neben Griechenland bildete auch Spanien ein wichtiges Zielland dieser Migrationswelle, wo an die 500.000 Rumänen ein Auskommen suchen. Somit befinden sich nahezu zehn Prozent der Bürger Rumäniens im Westen auf Arbeitssuche, während es in Polen „nur“ circa fünf Prozent sind. Bulgariens Wanderarbeiter verdingten sich vor Krisenausbruch vor allem in Spanien, Griechenland und Italien. Die Hunderttausende von Menschen umfassende bulgarische Community zählt inzwischen zu den zahlenmäßig stärksten Minderheiten in Spanien.
Die Ostexpansion der Europäischen Union setzte ab 2004 also tatsächlich eine gewaltige Migrationswelle in Gang. Millionen von Lohnabhängigen brachen aus der osteuropäischen Peripherie in die Zentren des Westens auf, um dort besser bezahlte Arbeit zu finden. Das enorme Lohngefälle zwischen den westlichen Kernstaaten der EU und den 2004 und 2007 aufgenommenen östlichen Beitrittsländern verlieh dieser Entwicklung zusätzlichen Auftrieb. Dabei wurden sogar etliche südeuropäische Staaten, die in den 60er oder 70er Jahren als klassische Auswanderungsländer galten, nun zu Zielregionen dieser Migrationsbewegung.
Die kriminalisierte Arbeitsmigration in die EU
Schätzungen der Europäischen Kommission zufolge lebten in 2007 - also kurz vor Ausbruch der Krise - rund acht Millionen Menschen in der Europäischen Union ohne gültige Aufenthalts- und Artbeitspapiere. Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geht davon aus, dass zwischen 500.000 und einer Million Migranten ohne legale Papiere in der Bundesrepublik weilen. Es gilt aber in diesem Kontext zu beachten, dass ein großer Teil dieser in die Illegalität gedrängten Menschen legal in die Europäische Union einreiste, etwa als Tourist oder im Rahmen eines Studentenaustauschs. Bis Krisenausbruch nahm auch die undokumentierte, kriminalisierte Migration nach Europa zu. Den Zustrom der in den Massenmedien oft als „illegal“ diffamierten Einwanderer bezifferte die EU-Grenzschutzbehörde Frontex in 2009 auf bis zu 500 000 Personen jährlich. In 2008 seien laut Frontex an die 200 000 dieser undokumentierten Migranten bei Versuch, die Grenzen der „Festung Europa“ zu überschreiten, festgenommen und oftmals in Lagern interniert worden. Dieser kriminalisierte Migrationsstrom verläuft immer noch von Süd nach Nord. Hierbei handelt es sich zumeist um eine durch die verzweifelte sozioökonomischen Lage in den Ursprungsländern der Flüchtlinge ausgelöste Arbeitsmigration. Es sind Menschen aus den Zusammenbruchsregionen des subsaharischen Afrika und des Nahen- und Mittleren Ostens, die unter hohem Risiko auf überfüllten Booten den Fluchtweg in die EU suchen, oder die militärisch gesicherten Grenzen in der südöstlichen Peripherie Europas zu überwinden trachten. Schätzungen zufolge fielen allein im Jahr 2006 an die 6 000 Flüchtlinge dem immer weiter perfektionierten, perfiden Grenzregime der EU zum Opfer.
Für diese permanent von Festnahme und Abschiebung bedrohte Einwanderergruppe bestehen nur wenige Verdienstmöglichkeiten, da ihre Tätigkeit zumeist auf wenige Wirtschaftsfelder beschränkt bleibt. Hierunter fallen der Bausektor, das Hotelgewerbe und die Gastwirtschaft, die Landwirtschaft, Transport und Logistik sowie die Arbeit in Privathaushalten. Die undokumentierten afrikanischen Einwanderer wurden beispielsweise bis zum Krisenausbruch in der spanischen Landwirtschaft durchaus toleriert, da sie mit Hungerlöhnen abgespeist werden konnten. Auf dem Höhenpunkt des durch eine spekulative Blasenbildung auf dem iberischen Immobilienmarkt befeuerten Wirtschaftsaufschwungs gewährte die spanische Regierung sogar 700 000 irregulären Migranten eine Aufenthaltserlaubnis, um so dem wachsenden Arbeitskräftebedarf in der Landwirtschaft und im Bausektor zu decken. In einem Relativ knappen Zeitraum von acht Jahren entwickelte sich Spanien von einem Auswanderungsland mit weniger als einem Prozent von Migranten zu einem Einwanderungsland, in dem 2008 Arbeitsmigranten mehr als ein Zehntel der Bevölkerung stellten – während zugleich die Arbeitslosenquote von 18 Prozent auf 10 Prozent sank!
Die Migration in Europa bei Krisenausbruch
Anfang 2009 betrug der Anteil der ausländischen Migranten an der Bevölkerung der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Durchschnitt 6,7 Prozent. Die europäische Statistikbehörde Eurostat gab an, dass rund ein Drittel dieser etwa 32 Millionen Ausländer in der Europäischen Union aus anderen EU-Staaten stammt. Die meisten dieser geschätzten 12 Millionen Binnenmigranten der Europäischen Union stammen aus Rumänien, Polen und den klassischen Auswanderungsländern Italien und Portugal. Etwas mehr als 7 Millionen der „legalen“ Migranten in der Europäischen Union stammen aus europäischen Ländern, die nicht Mitgliedstaaten der EU sind. Hiernach Folgen Bürger afrikanischer Staaten (knapp 5 Millionen), Asiens (etwa 4 Millionen) und Nord-, Mittel- sowie Lateinamerikas (3,3 Millionen).
Dabei weisen die osteuropäischen Staaten, die zu den wichtigsten Herkunftsländern der jüngsten Migrationsströme zählen, die niedrigsten Quoten an Einwanderern auf. In Polen, Rumänien und auch Bulgarien stellen Migranten weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Einen überdurchschnittlichen Anteil an Migranten wiesen - neben Spanien - Länder wie Griechenland (8,3 Prozent) Deutschland (8,8 Prozent), Belgien (9,1 Prozent), Österreich (10,3 Prozent) oder auch Irland (11,3 Prozent) auf. Die jüngsten Migrationsbewegungen in Europa waren aber vor allem dadurch charakterisiert, dass sie mit Irland, Großbritannien, Spanien oder Griechenland Volkswirtschaften zum Ziel hatten, die derzeit besonders heftige wirtschaftliche Einbrüche erleben. Die meisten dieser Länder bildeten eine zumeist mit spekulativer Blasensbildung auf den Immobilienmarkt einhergehende Defizitkonjunktur aus, bei der ausartende private oder staatliche Verschuldung als ein Konjunkturtreibstoff fungierte, der maßgeblich zu dem Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahre in diesen Staaten beitrug. Grade dieser schuldenfinanzierte Wirtschaftsboom wirkte auf die - legalen oder undokumentierten - Migranten aus dem Osten oder Süden so anziehend! Um beim Beispiel Spanien zu bleiben: Während der Anteil der Migranten an der spanischen Bevölkerung von einem auf über 10 Prozent zwischen 2000 und 2008 anstieg, verzeichnete die iberische Halbinsel ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von 2,8 Prozent. In der Eurozone waren es nur 1,5 Prozent. Die mit diesem höheren Wirtschaftswachstum einhergehenden Arbeitsgelegenheiten zogen die Arbeitsmigranten über Jahre an, die sich nun nach dem Platzen der spanischen Immobilienbalse in einer besonders schwierigen Situation wiederfinden.

Gespeichert
Arbeitsscheu und chronisch schlecht gelaunt!