VERHUNGERN IM HEIM
Jeder fünfte Pflegebedürftige akut unterernährtMediziner schlagen Alarm: In deutschen Altenheimen herrschen zum Teil katastrophale Zustände. Leidtragende sind vor allem alte pflegebedürftige Menschen: Bis zu 40 Prozent erhalten zu wenig Nahrung - die Hälfte davon droht sogar zu verhungern.
Mitten in Deutschland verhungern pflegebedürftige Menschen, weil ihnen Ärzte und Pflegepersonal aus Unwissen oder Sparzwängen zu wenig Nahrung verschreiben. Das behauptet das ARD-Magazin "Report aus Mainz". Einige Mediziner ließen ihre schwerkranken Patienten auch verhungern, um Sterbehilfe zu leisten.
Inzwischen hat der Deutsche Hausärzteverband die Anschuldigungen als "Unsinn und unverschämte Unterstellung" zurückgewiesen. Auch der Bundesverband Deutscher Pflegeberufe widersprach den Aussagen. Dagegen bestätigten Experten gegenüber SPIEGEL ONLINE, dass es in deutschen Pflegeheimen ein oft heilloses Durcheinander bei der künstlichen Ernährung Schwerkranker gebe.
"Report aus Mainz" hatte von dem Fall Roger Henrichs berichtet, der nach einem halbseitigen Schlaganfall über eine Magensonde künstlich ernährt wurde. Über einen Schnitt in der Bauchdecke wird dabei speziell zubereitete Kost direkt in den Magen gepumpt. Offensichtlich aber bekam Henrich zu wenig und verhungerte bei vollem Bewusstsein - quälend lange vier Jahre. Übrig blieb eine Notiz Henrichs: "Das Essen ist viel zu wenig. Ich will hier raus."
Das Magazin beruft sich außerdem auf Untersuchungen der Medizinischen Dienste der Krankenversicherungen (MDK) in Hessen und Sachsen-Anhalt. Nach Angaben von Hubert Bucher vom MDK Sachsen-Anhalt erhielten die Patienten teilweise nur zwei Drittel der nötigen Nahrungsmenge. Das bedeute auf lange Sicht, "dass die Leute verhungern". Betroffen seien vor allem Schlaganfallopfer, Demenzkranke oder Krebspatienten, die über Magensonden ernährt werden müssen.
Nach Meinung des leitenden hessischen MDK-Arztes Günther Deitrich wüssten viele der behandelnden Ärzte schlichtweg nicht, wie viel Kalorien ihr Patient benötige. Heinz-Harald Abholz von der Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin äußerte dagegen den Verdacht, durch die Unterernährung der oft schwer Kranken solle Sterbehilfe geleistet werden.
Der Deutsche Hausärzteverband wies die Anschuldigungen als "Unsinn und unverschämte Unterstellung" zurück. Vorstandsmitglied Heinz Jarmatz sagte gegenüber SPIEGEL ONLINE, durch Herstellerhinweise und Kalorienangaben auf den Nahrungsprodukten könne ausgeschlossen werden, dass sich der behandelnde Arzt bei der Verordnung der nötigen Kalorienmenge irre. Aus Sparzwängen einem Patienten weniger Sonden-Kost zu verschreiben, sei "unethisch" und werde von seinem Verband abgelehnt.
Report Mainz/ ARD
Verhungernder Henrich: "Das Essen ist viel zu wenig"
Nach Angaben des Sozialministeriums Sachsen-Anhalt sind die von Hubert Bucher beschriebenen Zustände längst abgestellt. Auf die Untersuchung aus dem Jahr 2002, auf die Bucher sich beziehe, habe man seitdem mit über 1000 Kontrollen offensiv reagiert.
Doch laut Jürgen Brüggemann vom Medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) sind die aus Sachsen-Anhalt berichteten Fälle von Unterernährung keine einmaligen Vorkommnisse: "Die Probleme sind auch heute noch ganz aktuell."
In Hessen und Rheinland-Pfalz hätten Untersuchungen ähnliche Ergebnisse zu Tage gefördert, sagte ein Vertreter der MDK Hessen gegenüber SPIEGEL ONLINE. So würden rund 40 Prozent der Heimbewohner in den überprüften hessischen Pflegeeinrichtungen zu wenig Kost erhalten, 18 Prozent seien sogar "bedrohlich untergewichtig".
Eine Untersuchung in Rheinland-Pfalz kommt auf die erschreckende Hungerquote von 40 Prozent. Die ärztliche Leiterin des MDK Rheinland-Pfalz, Ursula Weibler-Villabos, sagte SPIEGEL ONLINE, aus anderen Bundesländern gebe es ähnliche Erkenntnisse. Da man das Problem in Rheinland-Pfalz mittlerweile erkannt habe, stehe man im bundesweiten Vergleich sogar vermutlich noch etwas besser da.
Die Berichte aus den Bundesländern zeigen allesamt ein unglaubliches Wirrwarr in deutschen Alten- und Pflegeheimen bei der Zwangsernährung: Immer wieder bemängeln die Kontrolleure fehlende pflegerische Versorgung und fachliche Inkompetenz. Oft wüssten die Verantwortlichen noch nicht einmal, wer die künstliche Ernährung überhaupt angeordnet hat. Bei jedem zweiten bis dritten der Zwangsernährten versäumten es Mediziner und Pflegepersonal, das Gewicht ihres Patienten bei der Einlieferung festzustellen - und könnten folglich auch nicht erkennen, wenn dieser immer mehr Gewicht verliere.
Nach Aussage Franz Wagners, Geschäftsführer des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe, ist es dagegen für das betreuende Personal oft schwierig, den korrekten Kalorienbedarf eines bettlägerigen und alten Menschen zu ermitteln. "Ich schließe aber energisch aus, dass die Unterernährung absichtlich herbeigeführt wird, sei es aus Sparzwängen oder um Sterbehilfe zu leisten", so Wagner.
Auch bei der Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik sind die Missstände in deutschen Pflege-Einrichtungen bekannt. Die Politik müsse endlich die bestehenden Vorschriften bedeutend verbessern, fordern nun die Ernährungsexperten. Eine Sprecherin des Gesundheitsministerium teilte inzwischen mit, eine entsprechende Arzneimittel-Richtlinie, in der auch die Versorgung älterer Menschen in Heimen geregelt wird, werde zurzeit überarbeitet. Letztlich seien aber die Bundesländer dafür zuständig, wie es in den Heimen aussehe.