Geschichtsschreibung und Herrschaft

Begonnen von ManOfConstantSorrow, 21:07:33 Fr. 25.Mai 2012

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ManOfConstantSorrow

Die Entwicklungen sind gruselig.
Ich unterstelle jeder linken Organisation oder Bewegung, die kein Interesse zeigt an einer eigenen Geschichtsschreibung "von unten", daß sie kein echtes Interesse an dem Umsturz der herrschenden Verhältnisse hat. Die herrschende Geschichtsschreibung ist eine Geschichtsschreibung der Herrschenden und eine zentrale Säule ihrer Macht.

Man interessiert sich in den heutigen Bewegungen kaum für die Geschichte der einfachen Menschen, ihr Leid, ihre Rebellionen und alltäglichen Kämpfe. Wo bleiben die Dokumente, die Erinnerungen, die Einordnungen? Mit dem Verschwinden diverser Organisationen landen Aufzeichnungen und Spuren vergangener Zeiten im Altpapierschredder.

Die Herrschenden haben ein Interesse daran, daß ihre Interpretation der Welt unwidersprochen im Raum steht. Der neoliberale Zeitgeist fegt alles fort, was ohne produktiven Wert ist. Es verschwinden nicht nur Blibliotheken, sondern auch Archive. Ich beobachte, wie ein paar Aktivisten versuchen etwas Material zu retten aus Archiven, denen die finanzielle Unterstützung gestrichen wurde. Ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Selbst die großen, berühmten Archive sehen erheblichen Finanzkürzungen entgegen. Eine Entwicklung, die nichts Gutes ahnen läßt.
Arbeitsscheu und chronisch schlecht gelaunt!

Tiefrot

Grundsätzlich hast du Recht, aber es besteht eine kleine Hoffnung.
Bei vielen Leuten liegen Docs im privaten Bereich "herum".
Nicht für alle zugänglich, aber sie sind da. Mal ganz davon abgesehn, daß die alten Schriften
uns heute nur sehr bedingt nützlich sind (damals gabs z.B. kein Internet), sollte
sich doch langsam in den Weiten des Weltweiten Gewebes ein Platz finden,
wo alle und jeder das bisher Geschriebene nachlesen kann.
Es wird zwar die Diskussion über heutige Kämpfe nicht groß beeinflussen,
aber über erfolgreiche Vorgehensweisen geben die Texte sicherlich Auskunft.

Unsere Altvorderen waren ja schließlich auch nicht doof.  ;)
Denke dran: Arbeiten gehen ist ein Deal !
Seht in den Lohnspiegel, und geht nicht drunter !

Wie bekommt man Milllionen von Deutschen zum Protest auf die Straße ?
Verbietet die BILD und schaltet Facebook ab !

der große Zampano

@ManOfConstantSorrow:

Für mich stecken folgende Grundprobleme dahinter:

Ich würde mal so antworten. Das Problem liegt nicht unbedingt "nur" bei denen die machen. Das Hauptproblem sind diejenigen die es sich gefallen lassen. Denn diese Personengruppe steht in riesiger Überzahl den "Herrschern" gegenüber.

Nun haben wir aber, wenn wir Marx (bezugnehmend zur Argumentation) glauben dürfen, aber ein Problem:

Beim "kleinen Mann" wird das eigene Bewusstsein durch seine Lebensumstände bestimmt und er ist sozusagen "gefangen" im "Moloch der Rationalisierung".

Es liegt nun an denen die wissen was abgeht, denen welche in der Starre ihrer Lebensumstände und im veränderten Bewusstsein festsitzen den Ausweg zu zeigen.


Ich sehe folgende Probleme dabei:

Wollen die Sklaven aus ihrer Sklaverei raus ?  (Ein bisschen Plakativ ála Hollywood - wollen die Menschen aus der Matrix befreit werden ? )

Sind die Menschen fähig selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu leben und in Rücksicht gegenüber den anderen zu leben ?
(Wie soll der "Neue Mensch" bzw. "der aufgewachte Mensch" aussehen der dazu in der Lage ist)

Was macht das "neue und gute System" mit denen die nicht mitmachen wollen ?
( diese Problematik ist besonders im 20. Jahrhundert am Beispiel gewisser totalitärer Systeme ersichtlich)

Welche "absoluten" (denn absolut müssen sie sein sonst könnte man nicht behaupten das beste System zu haben) Normen und Werte sind grundlegend für "das neue System" ?

Leben wir vielleicht in anbetracht der Eigenschaften des Menschen in besten aller möglichen Systeme ?
(siehe religiöses Theodizee Problem und mit Hollywood und Matrix: "Wir haben versucht euch eine perfekte Welt zu geben, doch ihr habt sie nicht angenommen )



Ich möchte bitten mich nicht als totalitär zu verstehen, sondern ich spiele nur die Grundprobleme einer "neuen Politik der Gerechtkeit" beim zusammenleben der Menschen an.

Die "Hollywoodbeispiele" sind nicht aus irgendeinem Grunde gewählt, sondern weil es im erwähnten Film und den zu Grunde liegenden philosophischen Überlegungen auch genau um das geht.

In welcher Gesellschaft kann der Mensch leben ?
Wie gut ist der Mensch ?
Ist der Mensch an sich fähig im Interesse aller zu handeln ?
Was sind seine Motivatione ?
Leben wir in der besten aller möglichen Welten ?
Welches System ist für uns alle das Richtige ?


Die Frage bleibt doch... Wie wecke ich DIE MENSCHEN auf, so daß sie ein Bewusstsein für ihre eigene Geschichtlichkeit entwickeln ?
Denn wer keine Vergangenheit hat, hat auch keine Zukunft.


Ich treffe, insbesondere wenn ich "unterwegs" bin viele Menschen die einfach nicht ausbrechen wollen. (hat jetzt nichts mit arbeitslos oder so zu tun, ich meine den letargischen Geisteszustand der viele in der Welt überfallen hat). Selbst auf stichhaltigste Argumente meinerseits kommt keine Reaktion.
Die leben nach der Devise. Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Und wenn ich sehe was bei den aktuellen Wahlumfragen abgeht, dann zweifle ich persönlich an der geistigen Ausstattung eines Großteils der Bevölkerung. Selbst wenn man die Nichtwähler beiseite lässt fass ich mir regelmäßig an den Kopf..............

Nick N.

Zitat von: ManOfConstantSorrow am 21:07:33 Fr. 25.Mai 2012
Man interessiert sich in den heutigen Bewegungen kaum für die Geschichte der einfachen Menschen, ihr Leid, ihre Rebellionen und alltäglichen Kämpfe.

Geschweige denn, dass man mal fragt, was können wir heute, in einer ganz anderen Zeit, daraus lernen? Was kann man sich abgucken, was lässt man lieber sein?

Ich sehe da auch Parallelen dazu, wie man ganz aktuell mit den Erfahrungen anderer umgeht, so über-pauschalisierend, als seien Einzelerfahrungen dann nichts wert, wenn sie sich nicht auf jeden Einzelnen übertragen lassen, sondern nur auf einen Teil.

Um es mal zu konkretisiseren, ich spreche zum Beispiel von den Erwerbslosen.
Ich picke mal eineinzelnes Beispiel heraus, für eine Tendenz, die mich generell nervt.
Da gibt es zum Beispiel ein bestimmtes Vorgehen gegen Eingliederungs"vereinbarung" und diese ersetzende Verwaltungsakte, das es eben erfordert, dass man den "Pflichten" tatsächlich nicht nachkommt, nachdem man eine Klage eingereicht hat, somit eine Sanktion riskiert, und wenn sie kommt, mit dieser Begründung das Verfahren beschleunigt. Wenn keine Sanktion kommt, hat man sowieso gewonnen.

So. Statt zu sagen: Dieses Vorgehen ist aber nur dann geeignet, wenn man es in Kauf nimmt, eine Sanktion zu riskieren, und wenn man wirklich nicht diesen "Pflichten" nachkommt, zieht man lieber den Schluss: Nein, das ist überhaupt ein ungeeignetes Vorgehen.
Weil, ein "Standardvorgehen" muss für alle Millionen von Hilfeempfängern dasselbe sein und funktionieren (und da liegt es natürlich auf der Hand, dass es sowas nicht geben kann, ist es doch die Politik der Herrschenden, die Erwerbslosen möglichst zu zersplittern!).

(Dieses Einzelbeispiel ist in diesem thread etwas näher besprochen, etwa ab hier:
https://www.chefduzen.de/index.php?topic=25588.msg258213#msg258213     )

Millionen von Erwerbslosen machen täglich ihre Erfahrungen mit dem Amt, aber diese fruchtbar zu machen, zu sortieren, und sich zum Beispiel zu fragen: wann kann ich damit Erfolg haben, wann ist das ungeeignet, was ist eigentlich genau das Ziel und somit auch der eventuelle Erfolg, ist eine Arbeit, die immer wieder verweigert wird.

Wenn wir schon mit unserem aktuellen Erfahrungswissen so umgehen, dann wundert es mich gar nicht, dass das mit historischem Wissen um so weniger klappt.

Und nach wie vor bin ich der Meinung, das liegt auch daran, dass es so bestimmte Vorstellungen gibt von der "Arbeit mit Betroffenen" (GRRRR, GRRRRRR, GRRRRR, wir brauchen wirklich einen Kotz-smilie!), die auch ein bestimmtes MenschenBetroffenenbild implizieren, in dem einfach nicht vorgesehen ist, dass "Betroffene" selbst denken oder sich selbst wehren. In diesem Moment fallen sie aus der Rolle, und im Idealfall (das heisst, zumindest für den jeweiligen "Betroffenen" noch ideal unter diesen Bedingungen) ist der Übergang zur Rolle des "Aktivisten" relativ reibungslos. Ein Aktivist ist dann immer noch nicht unbedingt jemand, von dem man erwartet, dass er was sinn- oder wertvolles zu sagen, zu schreiben oder zu hinterlassen hat, aber zumindest eher als ein "Betroffener".
Durch diese Herausdefinition aus der Gruppe der "Betroffenen" bleibt dieses Bild bestehen, dass "Betroffene" eben nicht Sprechende, Schreibende, Handelnde sein können, weil sie dann nicht mehr in erster Linie "Betroffene" sein können.

Aus dieser Perspektive lässt sich weder ein Geschichtsverständnis noch ein substantielles, differenziertes Begreifen aktueller Erfahrungen realisieren.

Imho.
Satyagraha

Fritz Linow

Zitat
21.1.20
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