Studie “Zur Wirtschaftlichkeit des Berliner Taxigewerbes”

Begonnen von ManOfConstantSorrow, 18:33:34 Mi. 14.September 2016

⏪ vorheriges - nächstes ⏩

ManOfConstantSorrow

Studie "Zur Wirtschaftlichkeit des Berliner Taxigewerbes" und der wahre Lohnraub bei den Taxi-FahrerInnen

verdi kämpft für Mindestlohn auch für TaxisIm Februar 2015 beauftragte die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (SenStadtUm) die Fa. Linne + Krause aus Hamburg mit der Erstellung einer Untersuchung zur Wirtschaftlichkeit des Taxigewerbes in der Bundeshauptstadt. Ziel dieser Studie war  es, für die zuständigen Behörden eine Datengrundlage zu erstellen, mit deren Hilfe die wirtschaftliche Lage des Taxigewerbes beurteilt werden kann. Die Datengrundlage diene im Wesentlichen folgenden Zwecken: Referenzwerte: Die Daten dienen laut webseite des Senats" als belastbare Referenzwerte bei den Plausibilitätsprüfungen des Landesamtes für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten (LABO) im Rahmen der intensivierten Überprüfung der ,,persönlichen Zuverlässigkeit". Aber auch die Berliner Finanzämter erhalten belastbare Referenzwerte für gezielte Betriebsprüfungen. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Kennzahl ,,Umsatz pro km", heißt es in der Aufgabenbeschreibung. Und Tarifgestaltung: Darüber hinaus dienen die ermittelten Werte  der" Fortschreibung des Berliner Taxitarifs" (Preis, den die Fahrgäste zu zahlen haben). Siehe die Studie auf der Seite der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt externer Link. Die Untersuchung hat einigen Wirbel in der Presse und auch im Taxigewerbe selbst ausgelöst. Ein in der überbetrieblichen Vertrauensleuteversammlung bei ver.di engagierter Kollege, Andreas K., hat dazu ein Thesenpapier verfasst:
Thesenpapier zum Gutachten "Zur Wirtschaftlichkeit des Berliner Taxigewerbes"

    Das Gutachten bestätigt, was (fast) alle wussten und bislang aber nicht belegen konnten: Im Berliner Taxigewerbe gibt es ein  massives Problem mit "Schattenwirtschaft", werden Einnahmen hinterzogen und Steuern sowie Sozialabgabgen nicht oder nur verkürzt abgeführt. Die angegebenen Zahlen der erdrückenden Mehrheit  von ca. 80% der Taxibetriebe bzw. 77% der Taxen  seien unplausibel bzw. verweisen auf  "semiprofessionelles" Arbeiten.

    Die scharfe Bestandsaufnahme begrüße ich grundsätzlich, da alle Akteure innerhalb  und außerhalb des Gewerbes nun von den Fakten ausgehen können; niemand mehr behaupten kann , es gehe nur um "einige Schwarze Schafe". Es ist die Gewerbestruktur, es sind die eingespielten Gewohnheiten von Alleinfahrenden, ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen, wo ein Wirtschaften an den gesetzlichen Regelungen vorbei alltäglich wird und nahezu nur so gewinnbringend ist.

    Auf die Problematik, dass eine ungeregelte, ständig steigende Taxenzahl den Druck auf die Akteure erhöht, wird verwiesen:
    "Anders als in Köln oder München besteht in Berlin keine Mengenbeschränkung, so dass Konzessionen in beinahe unbegrenzter Zahl beantragt werden können. Zuweilen sind solche Betriebe nur für zwei Jahre geplant – bis zur ersten Wiedererteilung (,,Zwei-Jahres-GmbH"). So entsteht ein fataler Drehtüreffekt – mit immer neuen Strohmannkonstruktionen"  (S. 17)

    Die Studie wurde vom Senat beauftragt. Es werden staatliche Interessen zugrunde gelegt: Abführung von Steuern und Sozialabgaben versus Betrug. Es geht nicht primär  um die Einhaltung des Mindestlohnes der Beschäftigten oder gar  deren Interessenvetretung. . Dennoch spielt  der ML eine Rolle, nämlich bei der Berechnung (fiktiver) Lohnkosten,  um neben anderen auch mit dieser Variable professionelle von "semiprofessionellen" Betrieben unterscheiden zu können. Hierbei wird eine 6-Tage-Woche a 8 Stunden/ Tag  zugrunde gelegt... also 48 h die Woche
    "Personalkosten: Aussagekräftig sind zudem die Personalkosten – besonders die der größeren Mehrwagenbetriebe. Seit dem 1. Januar 2015 gilt der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 € auch für das Taxengewerbe. Unter der Annahme von 48 Arbeitsstunden in der Woche (6 Schichten à 8 Stunden), einem Bruttolohn von 8,50 € zzgl. Arbeitgeberanteil, 4 Wochen Urlaub, 10 Tagen Krankheit und unter Vernachlässigung von Zuschlägen errechnet sich ein Aufwand von etwa 28.000 € für einen Vollzeitmitarbeiter" (S. 13 der Studie)
    Dies stellt die nach dem Arbeitszeitgesetz gerade noch erlaubte Obergrenze der Wochenarbeitszeit dar. In wohl allen Tarifverträgen verschiedenster Branchen  sind geringere Arbeitszeiten vereinbart. Diese können wohl kaum als "semiprofessionell" gebrandmarkt werden. Meines Wissens sind alle Arbeitsverträge ab 30 Stunden/Woche "Vollzeit".  Sie dienen dem Schutz und den Interessen der Beschäftigten.

    Die "Professionalität" wird an fiktiven Umsätzen pro Fahrzeug bemessen. Diese sind für Berlinner Verhältnisse recht hoch, an  nach meinen Erfahrungen nach gerade so eben erreichbaren Zahlen bemessen. Ein Einwagenunternehmen muss 35000 Euro  im Jahr Umsatz machen, ein Mehrwagenunternehmen 50.000 pro Fahrzeug im Jahr, um nicht als "semiprofessionell" zu gelten. Die Vergleiche von freiwillig gemachten Angaben und den 123 im Untersuchungszeitraum eingesetzten Fiskaltaxametern weichen stark voneinander ab und sind ein weiteres Indiz für Schattenwirtschaft. Weiterhin geht es um den sog. Kilometerschnitt, der in der Studie vom um die Umsatzseteuer bereinigten Umsatz ausgeht.
    Hier wird mit Vergleichsmaterial aus anderen Städten gearbeitet.

    Bei der Frage der "Professionalität" werden zusätzliche  hohe "benchmarks" gesetzt. Das beste Taxi in Berlin erwirtschafte  knapp 100.000 Euro Umsatz/Jahr, die "TOP 10 Betriebe 82.760 Euro Umsatz/Jahr. Warum steht das drin? Solche Zahlen sind mit Sonderkunden ggf. möglich, im reinen Gegelegenheitsverkehr jedoch auch bei legalem Dreischichtbetrieb höchst unwahrscheinlich. Es wird mit diesen Zahlen  Druck auf die Unternehmen aufgebaut, jeden Cent anzugeben, und ansonsten als "semiprofessionell" zu gelten. Es ist davon auszugehen, dass die Firmen diesen Druck nach unten, auf die FahrerInnen abwälzen.

    Dazu passt auch, dass das Gutachten semiprofessionellen EinzelunternehmerInnen zugute hält:
    "Neben Betrieben, die offenkundig in der Schwarzwirtschaft agieren, ist hier von einem Graubereich älterer und gesundheitlich eingeschränkter Unternehmer aber auch von Menschen mit undogmatischen Lebensentwürfen auszugehen, deren Handeln nicht immer von  betriebswirtschaftlicher Logik bestimmt ist. Dabei dürften die Übergänge fließend sein." (S. 16)

    In Bezug auf abhängig Beschäftigte heisst es dagegen:
    "Zugang zu Transferleistungen: Die Analyse zahlreicher Jahresabschlüsse legt den alarmierenden Schluss nahe, dass der primäre Geschäftszweck vieler Berliner Taxibetriebe nicht die Personenbeförderung ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der eigentliche Geschäftszweck vieler Großbetriebe darin besteht, einerseits den eigenen "Gewinn" zu maximieren und gleichzeitig den Fahrern kollektiven Zugang zu Schwarzgeld und Transferleistungen zu verschaffen. Kontrollen des Zolls zeigen immer wieder, dass unverhältnismäßig viele Taxifahrer als sogenannte Aufstocker gemeldet sind." (S. 100)
    Das klingt für mich nach einer generellen Unterstellung von vornherein krimineller Kollaboration.  Richtiger dürfte sein, dass die meisten Berufsneulinge tatsächlich ihren Lebensunterhalt mit Taxifahren verdienen wollen...  dabei jedoch illusionäre Lohnvorstellungen haben... und  vom Chef aufs Jobcenter plus "Schwarzarbeit" verwiesen werden, wobei letzter Begriff im Betrieb doch bitte nicht fallen soll (in meiner 1. Anstellung so erlebt). Wer zaghaft legale Bedingungen fordert, bekommt einen einzufahrenen Stundenumsatz an den Kopf geknallt, der völlig  überhöht ist und auch die letzten entmutigen soll, wenigstens auf einer  -von beiden Seiten kündbaren- Probezeit ohne Beschiss zu bestehen.  So fügen sich die meisten KollegInnen ins Gegebene. Manche finden eine legale  Nische, die aber von freiwilliger oder unfreiwilliger starker Arbeitsverdichtung geprägt ist, da alle am selben -übersättigten – Markt konkurrieren müssen.

    Dem LABO, das für die Kontrolle des Taxigewerbes zuständig ist, wird in der Studie ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt:
    "Die personelle Ausstattung des LABO der Jahre 2011 bis 2014 lässt erkennen, warum das Hamburger Modell in Berlin schon rein personell zum Scheitern verurteilt war. Zwar sank die Anzahl Fahrzeuge je Mitarbeiter in dieser Zeit von in der Spitze 1.463 auf zwischenzeitlich 1.056, aber auch mit einer solchen Betreuungsspanne ist eine Verwaltung und Prüfung nicht zu realisieren." (S. 97)
    Von dieser Seite ist keinerlei Eigeninitiative zur Bekämpfung der Schattenwirtschaft im Taxigewerbe zu erwarten. Sie reagieren allenfalls auf Druck von außen. Eine Aufstockung des LABO, die die am Ende der Studie angeregten Aufgaben meistern kann, wird es nur durch öffentlichen Druck geben. Derzeit führen mehrere Parteien Wahlkampf mit Ordnungsthemen.... um Wirtschaftskriminalität geht es dabei jedoch nirgendwo.
    Es ist davon auszugehen, dass ein größerer Teil der bislang an  LABO, Steuer und Sozialversicherungen vorbei wirtschaftenden Mehrwagenunternehmen sich nolens volens auf die Einführung des Fiskaltaxameters einstellt. Sie wollen jedoch dennoch nicht auf die durch Betrug erlangten Extraprofite verzichten. Also wird sich der Druck auf die angestellten FahrerInnen hier erhöhen.
    Eine Steilvorgabe zur Gesetzesumgehung ist hierbei die "Passivpause" plus (nicht) zu drückendem "Totmannschalter", die in den meisten angebotenen Fiskaltaxametern einprogrammiert ist. Stehzeiten am Halteplatz werden nicht bezahlt, sondern gelten als Pausen, z.T. auch Fahrten ohne Fahrgäste. Dies ist Lohnraub an den KollegInnen  sowie Steuer- und Sozialbetrug. Zu dieser Problematik sagt das Gutachten nichts aus. Es wird unsere Sache sein, es zu skandalisieren, ggf. auch durch Aktionen vor Vertretungen der Hersteller, dem  halbblinden LABO oder gar Taxi Berlin. Parteilichkeit für die Interessen der abhängig Beschäftigten ist jetzt noch mehr gefragt. Es gilt, Gegendruck zu erzeugen.

Andreas K.

    Wir haben den Text erhalten von der Berliner Aktion Gegen Arbeitgeberunrecht – danke!
    https://berlineraktiongegenarbeitgeberunrecht.wordpress.com/
    https://www.facebook.com/berlineraktiongegenarbeitgeberunrecht/
Arbeitsscheu und chronisch schlecht gelaunt!

Kuddel

ZitatLohnraub ist gängige Praxis
Soziallotse Klaus Meier über systematische Ausbeutung und Betrug im Berliner Taxi-Gewerbe


Was macht ein Taxi-Soziallotse ?

Meine wichtigste Aufgabe besteht darin, den Berliner Taxifahrer*innen Hilfestellung dabei zu geben, Auswege aus ihren wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu finden. Es geht zum Beispiel darum, ob sie Arbeitslosengeld II als Aufstocker*innen erhalten können. Auch selbstständigen Kolleg*innen vermittle ich Beratungen.

Welche Auswirkungen haben die Corona-Pandemie und der Lockdown auf die Berliner Taxifahrer*innen?

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie haben die Einnahmen zeitweise fast auf null gebracht. Die Zahl der Berliner Taxis ist im vergangenen Jahr um etwa 1000 auf unter 7000 gesunken. Etwa 400 von über 2000 Solo-Selbstständigen haben aufgegeben. In der Pandemie wurde die bis dahin gut versteckte systematische und illegale Ausbeutung sichtbar, die sich mangels Umsatzvolumens nicht mehr mit Buchhaltungstricks verschleiern ließ. Leider haben sich weder die Taxi-Aufsichtsbehörde noch das Finanzamt oder der Zoll dafür interessiert.

Zurzeit wird vor dem Berliner Arbeitsgericht ein Fall von besonders schwerem Lohnraub im Taxigewerbe verhandelt. Worum geht es dabei?

Der Kollege befand sich in akuten finanziellen Nöten, sodass ihm sogar der Wohnungsverlust drohte. Der Abgleich seiner Arbeitszeitaufzeichnungen und der Lohnabrechnungen zeigte, dass ihm sein Chef nur einen Bruchteil des ihm zustehenden Lohns bezahlt hatte. Ihm wurden über Jahre bis zu 70 000 Euro vorenthalten. Vor Gericht wird jetzt über die genaue Höhe seines Anspruchs verhandelt. Bisher kam es zu keiner Einigung. Am 22. Juli wird das Verfahren fortgesetzt.

Kommt so etwas häufiger vor?

Das Ausmaß des Lohnraubs ist ein Extremfall. Doch es ist bekannt, dass fast alle Berliner Taxibetriebe Löhne zahlen, die weit unter dem Mindestlohn liegen. Sie nutzen ein Zusatzgerät zum Taxameter, um die Warte- und Bereitschaftszeiten an Halteplätzen als Pausen und nicht als Arbeitszeit zu erfassen. Dabei hat das Berliner Arbeitsgericht bereits 2018 in einem Urteil festgestellt, dass die Erfassung von Arbeitszeiten auf diese Weise unzulässig ist. Die Kolleg*innen werden um einen großen Teil ihres Lohns betrogen.

Könnte das derzeit im Bundestag diskutierte Taxibeförderungsgesetz die Lage der Berliner Taxifahrer*innen verbessern?

Die Diskussion darum lenkt vom Wesentlichen ab: Solange den Taxibetrieben gestattet wird, ausschließlich eine Umsatzbeteiligung zu zahlen, gibt es keinen gesetzeskonformen und armutsfesten Stundenlohn.

Welche Rolle spielen die Gewerkschaften?

Die AG-Taxi bei Verdi macht seit Jahren auf das Problem aufmerksam. Ich beginne durch meine Gespräche mit Taxifahrer*innen zu verstehen, warum sich so wenige gewerkschaftlich organisieren. Viele sehen ihre Situation als alternativlos und haben Angst vor negativen Folgen, wenn sie sich wehren. Deshalb richtet sich ihr Protest gegen Uber und so gut wie nie gegen ihre eigenen Betriebe.

Verschärft Uber die Situation?

Im Jahr 2018 sind die Einnahmen der Berliner Taxis durch Uber um 20 bis 30 Prozent gesunken. Anfangs konnte ich nicht glauben, dass Uber hier Fuß fassen würde. Seit CSU-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer die Ortskundeprüfung für Mietwagen abgeschafft hat, finden sich Menschen in Notlagen, die bereit sind, für noch weniger Geld als die Taxifahrer*innen zu arbeiten.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1149593.taxi-gewerbe-lohnraub-ist-gaengige-praxis.html

  • Chefduzen Spendenbutton