Gräfenhausen reloaded

Begonnen von Kuddel, 10:59:40 Mi. 19.Juli 2023

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Kuddel

Die Bedeutung der beiden Truckerstreiks in Gräfenhausen ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Es geht um die Zukunft der Arbeitskämpfe von prekären und migrantischen Arbeiter:innen in Deutschland.

Im Grunde gab es zwei Kräfte in dieser Auseinandersetzung.

Auf der einen Seite waren migrantische Arbeitskräfte (zusammengewürfelter Nationalität), die nicht nur Extremausbeutung ausgesetzt waren, sondern gezwungen waren, sich zu wehren, weil ihre Löhne komplett ausgeblieben sind. Der inzwischen berühmt-berüchtigte Spediteur Lukasz Mazur ist keine Ausnahmeerscheinung in der Branche. Tausende Fahrer sind von ähnlichen Bedingungen betroffen.

Auf der anderen Seite steht die deutsche Wirtschaft (nicht nur die Speditionsbranche!), die Interesse an billigen und zuverlässigen Transporten hat. Auf der Seite steht auch der Staat, der sowohl die Interessen der deutschen Wirtschaft durchssetzen, alsauch Ruhe im Land und in der Arbeitswelt erhalten will.

Ich möchte an dieser Stelle einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen.

Ich möchte sichtbar machen, welche Kräfte im Spiel waren und welche Rolle die Gewerkschaften und die Unterstützer spielten.

hartz4hilfe-of.de

beim ersten mal waren 2 EU bürger dabei. bei diesen kommt nach 16 tagen aufenthalt im landkreis den lohn ersetzendes arbeitslosengeld II in frage.
welches - das ist der witz an der sache - dann hinterher im rahmen von ersatzansprüchen vom jobcenter zeitnah vom arbeitgeber zurückgefordert werden wird.

diese gespräche mit dem jobcenter und einem passenden anwalt zu führen war damals meine aufgabe als regionaler hartz IV wichtigtuer.

in einem zweiten  schritt hätte man dann versuchen können, leistungen unter dem §73 SGB XII (z.b. lebensmittelgutscheine bei mittellosigkeit, hilfe zur ausreise) auch für die nicht-EU bürger beim landkreis zu beantragen.

hätten wir das so umsetzen können und müssen, hätte eine deutsche behörde bei einem polnischen gericht zwangmsmittel gegen mazur beantragen können. sicherlich neuland für die beteiligten, geht aber durchaus, wie ich von einem anderen jobcenter gehört habe (sogar wenn der arbeitgeber in der schweiz sitzt)

das größte und schönste an der unterstützung war, dass so unheimlich viele ganz verschiedene stellen und personen da dabei waren. die rolle der gewerkschaften beschränkte sich auf ihre kernaufgabe, aber auch die struktueren der hauptamtlichen migrationsberater entfalteten hier ihre wirkung.
natürlich waren auch die FAU und die KAB mit am tisch.
auch stefan vom DGB hat ein gutes bild abgegeben und war ob fehlender zuständigkeit regelmäig präsent.

was mir persönlich sehr gefehlt hat war, dass die geschichte von niemandem von außen so wirklich politisiert wurde. ihr wisst schon, solidaritätsstreiks von anderen branchen usw.
die gesamte kampagne wurde im prinzip vom hessischen rundfunk getragen. freiwillig und alleine. die sind zwar klasse, aber das sagt eben auch etwas über alle anderen aus.


Kuddel

Zitat von: hartz4hilfe-of.de am 03:08:40 So. 21.Januar 2024beim ersten mal waren 2 EU bürger dabei. bei diesen kommt nach 16 tagen aufenthalt im landkreis den lohn ersetzendes arbeitslosengeld II in frage.
Was redest du da? Es handelte sich um einen Streik, der kollektiv ein kollektives Problem lösen wollte und nicht um den Versuch, Einzelpersonen herauszupicken, um deren finanzielle Situation zu verbessern.

Zitat von: hartz4hilfe-of.de am 03:08:40 So. 21.Januar 2024die rolle der gewerkschaften beschränkte sich auf ihre kernaufgabe, aber auch die struktueren der hauptamtlichen migrationsberater entfalteten hier ihre wirkung.
natürlich waren auch die FAU und die KAB mit am tisch.
Du beschreibst eine völlig andere Veranstaltung, als die, die ich erlebt habe.

Zitat von: hartz4hilfe-of.de am 03:08:40 So. 21.Januar 2024auch stefan vom DGB hat ein gutes bild abgegeben...
Stefan Krötzel übte sich in Verbalradikalität ohne gewerkschaftliche Kampfformen zu nutzen oder unter den Gewerkschaftsmitgliedern und in der Bevölkerung praktische Solidaritätsarbeit zu organisieren.

Kuddel

Ich bemühe mich um eine Materialsammlung für einen kritischen Rückblick auf die migrantischen Arbeitskämpfe und ihre Unterstützer.

Aus diesem Material soll später ein zusammenhängender Artikel entstehen.

Teil 6

Gräfenhausen II: So geht man nicht mit Streikenden um!

Der erste Streik war ein Glücksfall für alle Beteiligten. Auf einer Veranstaltung bedankte sich Edwin Atema bei Lukasz Mazur, der in seinem Größenwahn mit dem Panzerwagen und der Schlägertruppe des Securityunternehmens Rutkowski Patrol für spektakuläre Medienbilder sorgten, die rund um den Globus gingen. Es kamen Solidaritätsbotschaften aus der ganzen Welt und auf dem Rastplatz Gräfenhausen standen Aktivisten diverser Gewerkschaften Schlange, um an diesem legendären Streik mit Lebensmittelspenden teilhaben zu können. Es wurden Grillstände, Pavillonzelte und eine Gulaschkanone aufgebaut. Es herrschte bisweilen Volksfestatmosphäre und man tanzte zu scheppernder Georgischer Popmusik. Der erfolgreiche Streik von Gräfenhausen wurde zu einer Legende, von der wohl jeder russischsprachiger Fahrer in Europa schon einmal gehört hat.

Als sich die ersten Fahrer sich zu einem weiteren Streik auf der Raststätte einfanden, gesellten sich immer weitere hinzu und das Streikcamp wuchs und wuchs, bis der Parkplatz nicht mehr alle LKW fassen konnte. Man nahm auch den Parkplatz auf der anderen Seite der Autobahn in Beschlag. Der Ausbeuter Mazur zeigte sich verhandlungswillig und wickelte so manchen Fahrer um den Finger. Die ersten Streiktage waren chaotisch und als die Fahrer entschieden, wieder den niederländischen Gewerkschafter Edwin Atema zu ihrem Verhandlungsführer zu wählen, schien der Streik wieder Form anzunehmen.

Doch dieses Mal lief vieles anders. Die so viel größere Anzahl an Streikenden sorgte bereits für logistische Probleme. Es waren wieder altbekannte professionelle Unterstützer vor Ort, Edwin Atema als Vertreter der Stiftung Road Transport Due Diligence (RTDD), Faire Mobilität, die katholische KAB, und Verdi und der DGB waren auch immer wieder vor Ort. Die Öffentlichkeit zeigte weniger Interesse an dem Streik und die professionellen Unterstützer zeigten sich weit weniger engagiert. Allein die Toilettensituation sprach für sich. Es wäre für Institutionen wie DGB und Verdi ein Leichtes gewessen, Toiletten- und Duscheinheiten dort aufstellen zu lassen. Stattdessen begnügte man sich mit ein paar schlecht gewarteten, ekligen Dixiklos und organisierte zweimal die Woche einen Shuttleservice zu den Duschen einer Schule.

Zu jedem Warnstreik in Deutschland, ist man in der Lage ein Streikzelt, Tische, Bänke, Kaffeemaschine, Thermoskannen und Feuertonne und mehr aufzustellen. Für die asiatischen Kollegen hielt man so etwas nicht für notwendig. Die Streikenden sind seit Monaten nicht bezahlt worden, sie hatten nichts als die Hoffnung, mit dem Kampf an ihr Geld zu kommen. Sie hatten oft nicht einmal genug, um sich an der Tankstelle oder im nächsten Ort etwas zu kaufen. Es war unwürdig, wie die Streikenden ihre Tage zu verbingen hatten. Unterstützer von außen besorgten Karten- und Brettspiele, da die Streikenden an quälender Langeweile litten. Es kam weiteres hinzu: Über die Auswahl der Verpflegung hatten Unterstützer unterschiedliche Ansichten. Es gab die Ansicht, es reiche ein "satt und sauber" als Ziel.  Andere bestanden auf Tabak und für die muslimischen Kollegen halal zertifiziertes Fleisch.

Es gab von einem Teil der professionellen Helfern ein bewundernswertes Engagement, doch insgesamt war das ein herablassendes "Helfen" armer, in Not geratener, asiatischer Arbeiter mit Almosen, damit sie nicht verhungerten. Es wenig von einem gemeinsamen Kampf gegen einen kriminellen Spediteur, der seine Beschäftigten und den Lohn prellte und noch weniger von einer gemeinsamen Aktion gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen auf europäischen Autobahnen, von denen Tausende Fahrer betroffen sind.

Den Streikenden nur Lebensmittel zukommen zu lassen, sprach für sich. Es erinnert daran, wie einige Menschen Bettlern nur etwas zu essen kaufen, um zu verhindern, dass sie Bargeld für Alkohol oder andere schlimmen Dinge ausgeben.

Noch problematischer war die politische Entmündigung der Streikenden. So talentiert Edwin Atema im Organisieren medienwirwirksamer Aktionen gewesen sein mag, sie wurden über die Köpfe der Streikenden hinweg geplant. Die Fahrer wurden zu Statisten und Politiker im Wahlkampf machten Selfies mit streikende Truckern. Was es sonst noch für Gespräche und Verhandlungen mit Politik und Wirtschaft gegeben haben mag, entzog sich der Kenntnis der Fahrer.

Kuddel

Gräfenhausen Rückblick

Teil 7.

Ein zentrales Problem: Die Fehlende Transparenz.


Es geht ums Geld. Es wurde für die Streikenden gesammelt. Es gab verschiedene Konten, auf die man Geld zur Unterstützung des Streiks überweisen konnte. Basisgewerkschaften wie Unterbau und die FAU haben eigene Spendenkonten eingerichtig, doch das wichtigste ist von der katholischen Arbeitnehmerbewegung KAB eingerichtet worden und das wurde auch von den DGB Gewerkschaften beworben. Wer ist auf die Idee gekommen, die Spendengelder nicht den Streikenden zukommen zu lassen, sondern sie nur mit Naturalien (Hauptsächlich Lebensmittel, aber auch Hygieneartikel) zu unterstützen? Warum hat man das nicht öffentlich bekannt gemacht, denn die Spender sollten wissen, was mit dem Geld gemacht wird.

Es fehlt insgesamt eine Transparenz darüber, wie viel Geld auf dem Spendenkonto zusammengekommen ist. Sind auch Gelder der unterstützenden Gewerkschaften und von weitern Organisationen in den Streik geflossen? Wie viel Geld hat zur Verfügung gestanden und wie viel ist davon in den Streik geflossen? Wie setzen sich diese Ausgaben zusammen?

Der Lohn, den die Fahrer einfordern, ist denkbar niedrig. Die ZEIT schrieb in ihrem Bericht "Hungern auf der Ladefläche" (26.9.2023) "Bezahlt worden sei demnach nur die reine Fahrtzeit mit einem Stundenlohn von 1,30 bis 1,40 Euro. Die Zeit fürs Be- und Entladen der Lastwagen allerdings nicht." Ein polnischer Kollege der Gewerkschaft Inicjatywa Pracownicza (IP) kritisierte die zu bescheidenen Forderungen der Streikenden: " Wenn sie in Deutschland arbeiten, sollten sie den deutschen Mindestlohn zuzüglich der zusätzlichen Kosten für den Aufenthalt im Land erhalten, zum Beispiel, um dort zu übernachten. Aber die Arbeitgeber respektieren es nicht. Diese Fahrer verlangen sehr bescheidene Forderungen, sie verlangen nicht einmal, was sie nach dieser EU-Verordnung verdienen sollten." (Transnational Strike Platform vom 3.5.2023)

Eine ganze Reihe Fahrer hat den Streik nach und nach verlassen, weil jede Menge Arbeitsangebote vom anderen windigen Spediteuren eine Alternative darstellten. Mit jedem Tag Wartezeit auf ein Einknicken von Mazur wuchsen die Schulden ihrer Familien. Es gab auch besondere Schwierigkeiten in den Familien der Fahrer, wie Klinikaufenthalte und OPs, die bezahlt werden mußten. So verschlechterte sich die Stimmung mit jedem Streiktag ohne Verhandlungsbereitschaft des Spediteurs. Bei einigen Fahrern führte es zur Verzweiflung, einer versuchte sich zu erhängen, wurde jedoch von Kollegen gerettet.

Derweil gab es Gerüchte über ein üppiges Tageshonorar des Verhandlungsführers Edwin Atema.

Selbst die Beendigung des Streiks ist von Intransparenz geprägt. Es wurde geheim gehalten, wo das Geld, 90% der von der Fahrern geforderten ausstehenden Löhne, hergekommen ist. Das einzige, was feststand war, daß dieses Geld nicht von dem polnischen Spediteur gezahlt worden ist. Die Überweisungen trafen bei den Fahrern nach und nach als "Spende" deklariert ein.

Kuddel

Gräfenhausen und die Situation migrantischer Trucker machen medial gerade wieder eine Welle.

Grund ist, ihre Situation hat sich durch die beiden Streiks in Gräfenhausen nicht verbessert. Man will jedoch weitere Arbeitskämpfe an deutschen Autobahnen verhindern.

ZitatBafa-Chef zum Lkw-Streik
,,Ich hatte Angst, dass es Tote gibt"
https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/wirtschaft/bafa-chef-zu-lkw-streik-in-graefenhausen-hatte-angst-dass-es-tote-gibt-19600868.html

Die Konsequenz sieht im Moment etwa so aus: Gewerkschaftsnahe NGOs wie Faire Mobilität und RTDD sind auf den Autobahnraststätten unterwegs, um potentielle Brandherde zu entdecken. Dann wird ein gerade entstandenes Netzwerk mobilisiert, staatliche Stellen wie die BAFA werden informiert, es geht auch an Politiker und Medien. Juristische Schritte werden erwogen. Das Lieferkettengesetz wird als Allheilmittel gesehen.

Nur Aktivitäten der Fahrer, Arbeitskämpfe, sind nicht vorgesehen.

Kuddel

Teil 8

Die Entmachtung der Streikenden und die feindliche Übernahme durch eine Antistreikkoalition


in den letzten 7 Teilen fiel ein Licht auf viele Probleme des zweiten Truckerstreiks in Gräfenhausen. Es folgt nun ein letzter Teil, der noch negativer ausfällt.

Nach dem ersten Streik verkündeten Politiker von Berlin bis Brüssel, dieser Streik habe die Situation auf den Autobahnen grundlegend geändert, denn die Fahrer hätten die Öffentlichkeit und Politik mit ihrem mutigen Protest aufgerüttelt und die menschenverachtenden Zustände im Straßentrasport bekannt gemacht. Darauf werde man nun politsch reagieren. Pustekuchen! Nach Gräfenhausen I fand Gräfenhausen II statt, ohne andere Bedingungen vorgefunden zu haben. Und nun ist knapp ein halbes Jahr nach dem Abschluß des Arbeitskampfes Gräfenhausen II ins Land gegangen und es hat sich weiterhin nichts getan. Die Mazur Speditionen treiben weiter ihr Unwesen auf den Straßen Westeuropas. Nur der Firmenname ist von den blauen LKW verschwunden, doch sie fahren wieder Unternehmen an, die im Zusammenhang mit dem letzten Streik in Erscheinung getreten sind.

Ein Sieg? Welcher Sieg?

Der Streik wurde am 30.9. mit einer Pressekonferenz aif der Rastplatz für als siegreich beendet erklärt. Doch dieser "Sieg" hat an der Situation in der Branche nichts geändert. "Eine Wende zum Besseren habe es seither nicht gegeben, sagt Anna Weirich von Faire Mobilität." heißt es in einem Bericht der Frankfurter Rundschau vom 11.3.2024.

Und der Ausgang dieses Arbeitskampfes kann auch von den Streikenden nicht als Sieg gefeiert werden. Ihr krimineller Chef kam ungeschoren davon und ändert nichts an seinen Geschäftspraktiken. Die Auszahlung an die Streikenden aus unbekannter Quelle kann auch nur als Trostpflaster bezeichnet werden. Es war nicht einmal der von ihnen geforderte bescheidene Betrag. Wenn sie in den 10 Wochen Streik einen Job bei einem anderen Ausbeuter angenommen hätten, hätten sie möglicherweise mehr Geld eingefahren, als diese symbolische Entschädigung.

Die Abhängigkeit der Streikenden von den Unterstützern

Die Streikenden brauchten Unterstützung von außen, in einem Land, dessen Sprache und juristischen Spielregegeln sie nicht kennen und sie mußten sich verpflegen. Ein Edwin Atema war für sie ein Glücksfall, der als ehemaliger Trucker die Arbeit auf der Straße kennt, der als Gewerkschafter sich mit Recht und Gesetz in der Branche auskennt und der praktische Verhandlungserfahrung besitzt bei Arbeitskämpfen. Er weiß medientaugliche Aktionen zu inszenieren und ist vor Ort ein mitreißender Redner mit bisweilen proletarischer Wut in seinen Auftritten. Beim zweiten Streik in Gräfenhausen hatten die Fahrer chaotisch und individualistisch die Verhandlungen mit Mazur geführt und sich dabei über den Tisch ziehen lassen. Sie wählten Edwin Atema zu ihrem Sprecher und Verhandlungsführer, was den Streik erst einmal wieder zusammen- und voran brachte. Gräfenhausen war wieder in den Medien. Doch nach einiger Zeit bewegte sich wenig, zwischen Medienauftritten, die die westlichen Auftraggeber für den zwielichten Spediteur anprangerten oder Politikern unterschiedlicher Couleur Termine für Selfiesessions mit Streikenden organisierte.

Für die Trucker war das Leben auf den Parkplatz voller Tristesse. Sie hatten wenig zu tun und nicht darüber mitzureden, wie der Streik geführt werden sollten. Aufmerksame Unterstützer brachten Karten- und Brettspiele, kamen mit Instrumenten und musizierten für die Streikenden.

Seilschaften unter den Unterstützern

Die Unterstützer waren bunt gemischt und könnten kaum unterschiedlicher sein. Einige tauchten nur auf, um kleine symbolische Spenden zu überreichen. Es gab auch Unterstützertreffen für Absprachen unter den Helfern. Es gab Supporter, die nur den Kontakt zu den Streikenden suchten und die gewerkschaftliche Funktionäre mieden, andere fühlten sich ausgegrenzt von diesem Unnterstützer-Netzwerk. An der Stelle haben sich Strukturen entwickelt, die das Sagen über das Streikgeschehen hatten.

Edwin Atema ist von den Fahrern zum Sprecher und Verhandlungsführer gewählt worden. Er hat es scheinbar als Mandat zur Streikführung  mißverstanden. So gut er als Pressesprecher und Verhandler aufgetreten sein mag, an seiner Machtstellung gab es viel Kritik.

Die italienische Truckerorganisation "Agorà 2.0 – MT" formuliert es auf ihrer Hompage: "Edwin Antema vertritt auch eine Gewerkschaft, die die neuen EU-Richtlinien zum Mobilitätspaket bejubelt hat, die zusammen mit anderen institutionellen Vertretern dieses kriminelle EU-Transportmodell, das hauptsächlich auf der Ausbeutung von Arbeitern, Betrug und Steuervermeidung beruht, konzipiert, geschrieben und unterzeichnet hat.
Wer ist Edwin Atema? Wen vertritt er wirklich? Die Gewerkschaft oder einen Block niederländischer und deutscher Unternehmen, die ihn benutzen, um die Konkurrenz wie Mazur auszuschalten?"

Ein Bündel verpaßter Chancen


Die Fahrer wollten nicht passiv bleiben und gelegentliche Aktionen der selbsternannten Streikführung warten. Sie bemühten sich trotz Sprachbarrie um Kontakt zu eintrudelnden Unterstützern und beeindruckten mit ihrer Gastfreundschaft und Herzlichkeit.  Die Gewerkschaftsprofis meinten, mit ihren Kontakten zu den Medien und in die Politik die Auseinandersetzung in die richtigen Bahnen zu lenken. Es gab kein Flugblatt, auf dem die Trucker die zum Tanken dort haltenden PKW Fahrer informieren konnten, warum der Rastplatz zum Bersten mit blauen LKW gefüllt war. Man hätte auf eine Solidaritätsbewegung hinarbeiten können und sich ein paar Fahrer schnappen können, um mit einem Dolmetscher eine Veranstaltungstour zu machen in Gewerkschaftshäusern, in Bürgertreffs, Jugendzentren und auf Marktplätzen über die Situation der Trucker und ihren Kampf zu informieren. Das hätte Potential gehabt, denn die Öffentlichkeit hatte große Sympathien für den Streik.

Die Abwendung von einem gewerkschaftlichen Kampf


Die Pressekoferenz auf dem Rastplatz, die die prominenten Auftraggeber wie DHL, Audi, Ikea oder Red Bull anprangerten, war eine gute Aktion, doch die unzähligen Termine für Politiker zum Selfie-Knipsen mit Streikenden Truckern, mag ihnen beim Wahlkampf geholfen haben, doch für die Fahrer blieben sie folgenlos. Die Politiker sind spätestens mit dem 1. Gräfenhausenstreik aufgeklärt worden über die menschenverachtenden Bedingungen für die Migrantischen Fahrer, doch dieses Wissen hat zu keiner Veränderung der Situation in der Branche geführt.

Die streikenden Trucker wurden nicht als handelndes Subjekt oder als kämpferische Kollegen, gesehen sondern als hilflose Opfer eines kriminellen Ausbeuters. Ein Transparent an der Seitenwand eines Trucks untermauert diese Haltung. In großen Letttern hieß es: "Wir wissen ihre Sorge um uns zu schätzen". Es geht um "Sorge" und nicht um einen gemeinsamen Kampf. Wir brachten den Streikenden ein Transparent mit den Worten "International Workers Solidarity". Die Fahrer waren begeistert und hängten es neben das andere Transparent. Es wurde zu einem beliebten Fotohintergrund für Streikunterstützer, doch es mußte abgenommen werden, als die solzialdemokratische EU Politikerin Gaby Bischoff ihren Besuch ankündigte.

Den Streikenden wurde eine besondere Überraschung angekündigt, als habe man eine Game Changer vorbeitet, eine für den Streikausgang notwendige Aktion. Man zeigte sich mächtig Stolz auf so hochkarätigen Besuch von dem Parteivorsitzenden der SPD in journalistischer Begleitung von der BILD Zeitung. Man hätte die BILD-Journalisten mitsamt Lars Klingbeil, der einige Wochen später eine Verschärfung von Abschiebungen forderte,  mit Schimpf und Schande vom Rastplatz jagen sollen.

Mir wurde vorgeworfen, ich hätte die Aussage von Andrea Kocsis (stellvertretende ver.di-Vorsitzende), ,,Dass immer wieder Fahrer aus Europa nach Deutschland kommen, um für ihr gutes Recht zu demonstrieren, darf nicht zur Regel werden" aus dem Zusammenhang gerissen. Ich werde ihren Ausspruch mit anderen aus dem Zusammenhang gerissene Aussagen ergänzen: Stefan Körzell (Mitglied im geschäftsführenden Bundesvorstand des DGB) : "Weil "Gräfenhausen sich nicht wiederholen darf".  "Ziel der (...) BAFA [Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle)] war es, den Arbeitskämpfen Gräfenhausen I und II keine weiteren folgen zu lassen", berichtete die DVZ am 16.10.2023.

In wessen Händen lag die Führung des Streiks?

Von außen sah man streikende LKW Fahrer und Gewerkschaften und gewerkschaftsnahe Organisationen, die den Arbeitskampf unterstützten. Wie der Unterstützerkreis zusammensetzte und wie sich die Machtverhältnisse in diesem Kreis eintwickelten, war der Öffentlichkeit nicht bekannt.

Es hat sich ein innerer Kreis gebildet, der in einer Klassenauseinandersetzung nicht die Interessen der arbeitenden Klasse vetrat. Dazu gehörte der Unternehmerverband BGL, der Verband in dem die Großspediteure organisiert sind. BAFA-Präsident Thorsten Safarik gab zu, seine Behörde sei schon beim 1.Streik dabei gewesen, jeoch medial nicht in Erscheinung getreten. Er erkärte, "Gemeinsam mit Vertretern von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft will sie [die BAFA] ähnliche Zustände künftig verhindern." (DVZ vom 16.10.2023). Diese Zusammenarbeit bestimmte den 2. Arbeitskampf  in Gräfenhausen. Die gewerkschaftlichen Funktionäre hatten scharfe Worte für Lukasz Mazur übrig, man fordere den Entzug seiner Lizenz und wünschte ihn in den Knast. Doch die anstehenden Schritte gegen den Spediteur und darüber hinaus, gegen die furchtbaren Zustände im europäischen Transportsektor, sahen sie nicht als Aufgabe ihrer Gewerkschaften, sondern erwarteten ein Einschreiten der Politik. So wollte man dem Arbeitsminister Heil auf den Weg geben, das Problem beim nächsten Besuch des polnischen Amstskollegen, auf den Tisch zu bringen. Und mit den Vertretern der Zivilgesellschaft, sind wohl die gewerkschaftsnahen NGOs gemeint, die auf dem Rastplatz anwesend waren. Die niederländische RTDD (Road Transport Due Diligence) hat ihren Schwerpunkt bei "Compliance", der unternehmerischen Regelkonformität, das Einhalten eines Unternehmenskodexes. Die Organisation ist in mehreren europäischen Staaten aktiv. Faire Mobilität wird zu 90% von der Bundesregierung finanziert, beschreibt sich selbst als gewerkschaftsnah. Sie ist durch ihre Sprachkompetenz eine Anlaufstelle für Arbeitsmigranten in Not. In ihrer Praxis bemüht sich Faire Mobilität um individuelle und juristische Lösungen und nicht um das Organisieren kollektiver Kämpfe. Faire Intergration wird finanziell gefördert vom Bundesministerium und der EU und kooperiert mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und dem Jobcenter.

Bei dieser Zusammensetzung wundert es wenig, daß ihnen ein "International Workers Solidarity" Transparent nicht in den Kram paßte.

Eine Streikführung ohne Willen zum Klassenkampf?


Für Mazur war die Arbeitsniederlegung verschmerzbar, inklusive des Einbehaltens der Fahrzeuge. Ausschlaggebend war  beim 1. Streik die angedrohte enorme Vertragsstrafe durch General Electric wegen des Lieferverzugs.  Es kamen beim 2. Streik auch Auftraggeber direkt zum Rastplatz, um an ihre ihre Ladungen heranzukommen, doch sie hatten nicht die  juristischen/finanziellen Druckmittel wie General Electric.

Es hieß, es sei nicht möglich Mazur unter Druck zu setzen. Die Forderungen von gewerkschaftlicher Seite, Mazur die Lizenz zu entziehen und ihn "in den Knast" zu stecken, blieben fromme Wünsche. Mazur kann sich in Deutschland frei bewegen, er tauchte bei der Staatsanwaltschaft in Darmstadt auf und er erstatte mit dem Vorwurf der Erpressung von "Lösegeld" durch die Fahrer Anzeige. Die Staatsanwaltschaft reagierte in seinem Sinne, nahm die Ermittlungen auf und schickte die Polizei auf den Rastplatz zur Personalienaufnahme der Streikenden.

Es war eine Situation, in der man den Druck durch eine Ausweitung des Streiks hätte erhöhen können. Die Ausweitung schien sich wie von selbst zu entwickeln. Gräfenhausen galt als Ort, an dem man kämpfen und gewinnen kann. Das hat sich unter Fahrern mit ähnlichem Schicksal herumgesprochen und die beiden Parkplätze füllten sich mit weiteren LKW. Laut Faire Mobilität waren es bis zu 200 Fahrer und 150 LKW. Der Ort wurde zu einem Magnet und Edwin Atema berichtete, "es gab Gräfenhausen II, III und IV" und es seien auch Fahrer anderer Speditionen aufgetaucht, die ihr Problem dort lösen wollten. Ihnen wurde erklärt, man könne ihnen nicht helfen.

Die "Streikführung" stellte sich bei Hilfsangeboten quer. CamionPro ist ein Spediteursverband, der hauptsächlich Kleinspediteure vertritt. Andreas Mossyrsch, Vorsitzender des fahrernahen Unternehmerverbands, der sich seit Jahren für die Rechte migrantischer Fahrer einsetzt, kam persönlich auf den Rastplatz Gräfenhausen, um seine Vorschläge zu unterbreiten. Dazu gehörte das Angebot mit einem TV Team die Streikenden zu besuchen. Er bot auch an, einen juristischen Kampf der Fahrer um den deutschen Mindestlohn mit ihnen gemeinsam zu führen. Er sah auch die Möglichkeit, in seiner Position als Vertreter eines Unternehmerverbands gegen den polnischen Spediteur vorzugehesn, indem er seine Fahrzeuge samt Ladung beschlagnahmen läßt, um diese zu versteigern, wenn er nicht bereit ist, die nicht gezahlten Fahrergehälter zu begleichen. All diese Angebote wurden von der selbsternannten  Streikleitung ausgeschlagen.

Die Fahrer hatten sich am vorangegangenen Streik orientiert und entschieden sich für einen gemeinsamen Kampf, den niemand verläßt, falls es zu einer individuellen Erfüllung der Forderung einzelner Fahrer kommt. "Einer für alle, alle für einen" war die Devise und gegenüber der Presse erklärten sie, man sei entschlossen durchzuhalten "bis in den Tod".

Edwin Atema machte jedoch Deals mit Auftraggebern, die ihre Ware freikauften indem sie die Gehaltsforderungen des Fahrers des jeweiligen LKW beglichen. Der Fahrer wurde ausgezahlt, den LKW ließ man abholen und der Fahrer wurde nachhausgeschickt. So bröckelte die Streikfront weiter. Es verließen weitere Fahrer den Rastplatz, weil die Familien der Fahrer, die auf die Überweisungen aus Europa warteten, sich immer tiefer verschuldeten.

Der schwedische Gewerkschafter Pelle Sunvisson verbrachte eine Woche bei den Streikenden und schilderte die Situation seiner Gewerkschaft "Solidariska Byggare" (Solidarische Bauarbeiter). Sie besteht hauptsächlich aus migrantischen Arbeiter:innen, wohl 99% sind Migranten. Sie sind zumeist aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Ukrainer, Usbeken, Georgier, etc., also ähnlich zusammengesetzt wie die Streikenden in Gräfenhausen. Die Kollegen in Schweden beschlossen einen Streikfonds einzurichten, um den Streikenden ein Streikgeld zukommen zu lassen. Edwin Atema drohte den Streikenden in Gräfenhausen, wenn sie mit der schwedischen Gewerkschaft kooperieren und ihr Angebot annehmen würden, würde man ihnen die Untertützung vor Ort entziehen. Die Begründung Atemas ließ tief blicken: es würde "Begehrlichkeiten bei anderen Fahrern wecken".

Die Stimmung der zur Untätikgkeit verurteilten Fahrer sank weiter, da Mazur keinerlei Interesse an Verhandlungen zeigte. Einer von ihnen versuchte sich das Leben zu nehmen, was aufmerksame Kollegen verhindern konnten. Den Streikenden wurde eine besondere Überraschung angekündigt, als habe man einen Game Changer vorbereitet, eine für den Streikausgang entscheidende Aktion. Man zeigte sich mächtig Stolz auf so hochkarätigen Besuch von dem Parteivorsitzenden der SPD in journalistischer Begleitung von der BILD Zeitung. Man hätte die BILD-Journalisten mitsamt Lars Klingbeil, der einige Wochen später eine Verschärfung von Abschiebungen forderte,  mit Schimpf und Schande vom Rastplatz jagen sollen.

Ein Teil der Streikenden entschied sich, nicht auf weitere Aktionen dieser Art zu warten, sondern das Heft wieder selbst in die Hand zu nehmen. 30 von ihnen traten entgegen dem Rat der Unterstützer in einen Hungerstreik. Sie wollten ihre Entschlossenheit unter Beweis stellen.

Torsten Safarik, Präsident des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (Bafa) erklärte: ,,Ich hatte Angst, dass es Tote gibt"

Am 30. September wurde den Streikenden die Auszahlung von 90% ihrer Forderungen angekündigt. Dieses Angebot wurde von den Streikenden akzeptiert, obwohl nach 10 Wochen(!) Streik ohne Streikgeld, und Begleichen der Schulden der Familien nicht viel nachgeblieben sein dürfte.  Es gab einiges an Geheimniskrämerei über die Herkunft des Geldes, das den Arbeitskampf beendete. Es hieß, ein Auftraggeber habe es springen lassen. Es wurde aber auch gemutmaßt, ob es nicht von dem Bundesamt für Wirtschaft gekommen sei, das diese lästige Auseinandersetzung endlich vom Tisch haben wollte.

Gräfenhausen hat seinen Ruf als Ort erfolgreicher Arbeitskämpfe verloren. Es sind tausende Fahrer mit den gleichen Problemen auf den Autobahnen unterwegs, doch seit einem halben Jahr ist es zu keinem kollektiven Kampf mehr gekommen. Es finden wieder individuelle Auseinandersetzungen statt, die kaum eine Chance auf Erfolg haben. Der Frankfurter Verdi-Funktionär Tiny Hobbs erzählte, immer wieder weigerten sich Betroffene weiterzufahren, weil der Lohn ausbleibe. Dann käme in der Regel ,,ein VW-Bus mit Ersatzfahrer und zwei kräftigen Jungs", die dem streikenden Fahrer den Lkw abnähmen. ,,Das passiert jeden Tag in Deutschland.", so Hobbs in der FR vom 15.3.2024.

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