SPIEGEL: Herr de Jong, Ihr Buch beginnt damit, wie Adolf Hitler am 20. Februar 1933 Günther Quandt, Friedrich Flick, August Baron von Finck und andere Industrielle zu Spenden aufforderte, kurz nach seinem Machtantritt und zwei Wochen vor Reichstagswahlen. Welche Rolle spielte dieses Treffen?
De Jong: Dass die Männer für das Regime spendeten, ist der erste Beleg für ihren Opportunismus, den man in den kommenden zwölf Jahren immer wieder sah. Quandt, von Finck, Flick und Co. gehörten zum konservativen Establishment. Sie waren nicht so sehr an Hitler interessiert, hatten vielmehr 14 Jahre wirtschaftlicher Unsicherheit in der Weimarer Republik erlebt – und keine Probleme damit, die deutsche Demokratie zu verkaufen.
SPIEGEL: Die Zusammenarbeit mit den Nazis half Industriemagnaten wie Günther Quandt und Friedrich Flick, ihre Unternehmen zu Imperien auszubauen. Für Ferdinand Porsche war es der Rettungsanker, der die junge Firma vor dem Scheitern bewahrte.
De Jong: Quandt, von Finck, Flick und Oetker waren schon vorher wohlhabend und erfolgreich. Die Porsche-Piëch-Familie ist aus dem Kreis dieser Dynastien die einzige, die das Fundament für ihren wirtschaftlichen Erfolg im »Dritten Reich« gelegt hat.
SPIEGEL: Sie zeichnen in Ihrem Buch nach, wie der jüdische Porsche-Mitgründer Adolf Rosenberger unter die Räder geriet – Ferdinand Porsche und sein Schwiegersohn Anton Piëch drängten ihn zwecks »Arisierung« aus der Firma.
De Jong: Die Ironie daran: Rosenberger war der einzige deutsche Mitgründer bei Porsche. Anton Piëch war Österreicher, Ferdinand Porsche hatte einen tschechischen Pass. Sein Sohn Ferry Porsche veröffentlichte neun Jahre nach Rosenbergers Tod in den USA die Autobiografie »We at Porsche«. Darin verschleierte er die Porsche-»Arisierung« und warf Rosenberger für seine Bemühungen, entschädigt zu werden, sogar Erpressung vor. Hinzu kommt seine Bemerkung, viele Juden hätten sich nach dem Krieg so verhalten. Wie Ferry Porsche die Geschichte verdrehte, ist unglaublich. Das Unternehmen arbeitete schon damals am Mythos Porsche – koste es, was es wolle. In der deutschen Ausgabe wenige Jahre nach der US-Fassung sind die antisemitischen Passagen übrigens getilgt.
SPIEGEL: Haben die Deutschen ein falsches Bild von den Porsches?
De Jong: Vielen ist nicht klar, dass Ferry Porsche sich schon 1938 um den Eintritt in die SS beworben hat und 1941 eingetreten ist. Und dass er in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als Porsche-Geschäftsführer hochrangige frühere SS-Männer beschäftigte. Deshalb ist es besonders schlimm, dass die seit 2018 bestehende Ferry-Porsche-Stiftung eine Professur für Unternehmensgeschichte an der Universität Stuttgart finanziert mit Statements wie: »Zukunft braucht Herkunft«. Dass das so kommuniziert wird, ist wirklich eine Pervertierung der Geschichte. Denn die Porsche-Familie hat sich niemals ausgesprochen über die Verantwortung von Ferdinand Porsche als Geschäftsführer des Volkswagenwerks in Fallersleben…
SPIEGEL: …wo sich mehrere eingezäunte und bewachte Werks- und KZ-Außenlager für Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge befanden, die unter furchtbaren Bedingungen schuften mussten und starben.
De Jong: Genau.
SPIEGEL: Sticht eine Dynastie besonders heraus?
De Jong: In der NS-Zeit haben sich alle schuldig gemacht. Das Buch habe ich geschrieben, weil große Marken wie BMW und Porsche heute durch globale Wohltätigkeit über ihre Stiftungen ihre Geschichte reinwaschen. So betreibt BMW seit 2016 Philanthropie im Namen von Herbert Quandt (Sohn von Industriemagnat Günther Quandt, d. Red.), weil er die Automarke 1959 vor dem Bankrott rettete. Was sie verschweigen: dass Herbert Quandt ein KZ-Außenlager in Polen mitaufgebaut hat und verantwortlich war für den Personalbereich in den AFA- und Pertrix-Batteriefabriken in Berlin, wo Tausende Zwangsarbeiter und Frauen aus Konzentrationslagern arbeiten mussten. Die Stiftung schreibt auf ihrer Website, sie inspiriere »Führungspersönlichkeiten weltweit, ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen und sich als Responsible Leaders für eine friedliche, gerechte und nachhaltige Zukunft einzusetzen«. Das ist pervers – man kann nicht nur wirtschaftlichen Erfolg zelebrieren, aber NS-Verbrechen ignorieren.
SPIEGEL: Nach dem Krieg bekamen Industriekapitäne nach kurzer Haft die Kontrolle über ihre Unternehmen und Vermögen zurück. Als der Kalte Krieg begann, rückten die Amerikaner von der Strafverfolgung ab, weil sie ein wirtschaftlich starkes Deutschland brauchten. Hat der Kapitalismus einmal mehr über die Moral gesiegt?
De Jong: Das trifft es exakt. Damals gab es zwei Entscheidungen. Erstens wurden mit dem Beginn des Kalten Kriegs 1947 die Nürnberger Prozesse eingeschränkt: Statt die Täter vor weitere Kriegstribunale zu stellen, übergaben die Amerikaner einen Großteil zum Entnazifizierungsverfahren an deutsche Laiengerichte. Die Deutschen hatten wenig Interesse daran, ihre Landsleute zu verurteilen. So kamen Tausende, Hunderttausende ohne Strafe davon. Zweitens entschied der US-Hochkommissar John J. McCloy, zuständig für den Wiederaufbau der neu gegründeten Bundesrepublik, beim Ausbruch des Koreakriegs 1950 die Gefängnisstrafen verurteilter Kriegsverbrecher zu verkürzen oder Todesstrafen in lebenslange Haft umzuwandeln.
»Die Welt brauchte Konsumgüter – die sollte die westdeutsche Wirtschaft produzieren.«
SPIEGEL: Was den US-Ankläger Telford Taylor ärgerte, der die Verfahren und Verurteilungen angestrengt hatte.
De Jong: Taylor war wütend. Aber Amerika brauchte Deutschland politisch und wirtschaftlich, als Bollwerk in Europa gegen die kommunistische Bedrohung. Außerdem hatte US-Präsident Harry S. Truman mithilfe des Defense Production Act 1950 alle US-Fabriken zur Kriegsproduktion von Waffen und Rüstungsgütern verpflichtet. Die Welt brauchte Konsumgüter – die sollte die westdeutsche Wirtschaft produzieren. Dafür brauchten die USA den guten Willen von Adenauer und seiner Regierung. Und die wollte nicht, dass ihre Wirtschaftselite weiter in Gefängnissen saß.
SPIEGEL: Hätten die Alliierten die Unternehmen von Quandt, Flick, Oetker, von Finck und Co. zerschlagen oder unter staatliche Aufsicht stellen sollen?
De Jong: Das haben sie ja bei der I.G. Farben getan, zu deren Nachfolgeunternehmen heute die Bayer AG und BASF gehören. Und Alfried Krupp von der Friedrich Krupp AG wurde beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess für schuldig befunden, man beschlagnahmte sein Unternehmen. Aber McCloy hat ihn begnadigt und es zurückgegeben. Mit Beginn des Kalten Kriegs war die Idee einer Restrukturierung der deutschen Wirtschaft für die Amerikaner schnell vom Tisch. Die Interessen hatten sich verschoben.
SPIEGEL: Wie würde Deutschland heute wirtschaftlich dastehen, hätte man die Unternehmen damals liquidiert oder zerschlagen?
De Jong: Dann wäre es nicht die Wirtschaftsmacht, die es heute ist. Kann man sich ein Europa vorstellen ohne eine starke deutsche Wirtschaft? Ich nicht. Es ist gut, dass die Bundesrepublik diese starke Wirtschaft hat. Mir geht es nicht um den Fortbestand von Macht und Geld, sondern um die heutige Aufarbeitung.
SPIEGEL: Unternehmerfamilien wie Quandt, Flick und Oetker haben Historikerinnen und Historiker beauftragt, ihre Firmengeschichte und die Nazivergangenheit zu untersuchen.
»Ich finde es pervers, dass die Herbert Quandt Stiftung im Namen eines Mannes agiert, der so viel Schuld auf sich geladen hat.«
De Jong: Entscheidend ist, was sie machen, wenn die Studien herauskommen. 2011 hat der Historiker Joachim Scholtyseck eine gute Untersuchung über den Aufstieg der Quandts vorgelegt. Aber wie kann es sein, dass die BMW-Quandt-Erben ein Jahrzehnt danach noch immer eine reingewaschene Biografie von Herbert Quandt auf ihrer Medienpreis-Website veröffentlichen? Die Ergebnisse einer solchen Studie müssen transparent gemacht werden, alles andere ist beleidigend für die Historiker nach ihrer jahrelangen Arbeit. Und warum werden diese Studien nicht in andere Sprachen übersetzt? Die meisten Opfer und Nachfahren der NS-Verbrechen leben im Ausland.

SPIEGEL: Konsumenten achten inzwischen stärker auf ethisches und soziales Verhalten von Unternehmen. Könnte eine klare Aufarbeitung der Vergangenheit Konzernen mehr nützen als schaden?
De Jong: Das spielt sicher eine Rolle. Umso unverständlicher finde ich, dass die Herbert-Quandt-Stiftung von BMW mit dem Slogan »inspire responsible leadership« im Namen eines Mannes agiert, der so viel Schuld auf sich geladen hat. Und dass auch ein Medienpreis seinen Namen trägt. Ich habe dort im Juni 2021 nachgefragt, ob es ein Beispiel für Transparenz ist, wie mit der Biografie des Namensgebers auf der Website umgegangen wird. Ich habe keine Antwort bekommen. Ende Oktober 2021 erschien dann plötzlich ein neuer Text , der immer noch nicht alles offenlegt. Ohne Druck hätte Stefan Quandt, der Vorsitzender des Stiftungs-Kuratoriums für den Award ist, nichts gemacht. Das ist ein Medienpreis! In der Jury sitzen prominente Journalisten wie Jan-Eric Peters von der »NZZ Deutschland« und Horst von Buttlar vom Magazin »Capital«. Eine reingewaschene Biografie des Namensgebers für einen Medienpreis ist doch lächerlich, eine Beleidigung des Journalismus.
SPIEGEL: Die Familie Reimann hat die Vergangenheit ihres Geschäftsführers Albert Reimann junior aufgearbeitet, der einst die Joh. A. Benckiser GmbH in Ludwigshafen leitete. Reimann, Antisemit und NSDAP-Mitglied, zeugte in einer außerehelichen Beziehung mit der Jüdin Emily Landecker drei Kinder. Die Erben sind heute Teilhaber des Unternehmens.
De Jong: Der Kontrast ist bemerkenswert: Die Reimanns sind nach den Quandts die reichste Familie Deutschlands, die historische Aufarbeitung läuft noch. 2019 haben die Reimanns die Firmenstiftung nach ihrem ermordeten jüdischen Großvater Alfred Landecker umbenannt. Und zeigen zugleich sehr transparent, dass Albert Reimann senior und junior überzeugte Nazis und Antisemiten waren.
SPIEGEL: In Ihrem Buch legen Sie dar, dass der Ende 2021 verstorbene August von Finck junior auch nach dem Krieg rechtskonservativen bis rechtsextremen Haltungen anhing.
De Jong: Anders als Quandt und Oetker, die Großspender der CDU sind, bewegte er sich näher am rechten Rand. Mit Millionenspenden unterstützte August von Finck junior drei Jahrzehnte lang erst den »Bund Freier Bürger«, dann die Lobbyorganisation »Bürgerkonvent«, damals unter Führung der heutigen AfD-Frau Beatrix von Storch. Finck förderte EU- und Euro-feindliche Ziele. Wie er den Aufstieg der AfD vermutlich mitfinanziert hat, hat der SPIEGEL ja 2018 aufgedeckt. Bei den Recherchen hat mich aber am meisten schockiert, dass er den Markennamen Degussa gekauft hat. Degussa war in der NS-Zeit an der Produktion von Zyklon B beteiligt und half, das Gold von ermordeten Juden einzuschmelzen. Das Finck die Degussa ausgerechnet als Goldhandel wiederbelebt hat, zeugt mindestens von historischer Geschmacklosigkeit.
SPIEGEL: Sie sprachen von der historischen Verantwortung der Nachkommen, die heute globale Konsumunternehmen lenken. Würden Sie Kekse aus der Bahlsen-Fabrik, die damals Zwangsarbeiter beschäftigte , kaufen oder BMW oder Porsche fahren?
De Jong: Ich mag deren Kekse. Und ich bin Journalist, nicht Aktivist. Da muss jeder seine eigenen Entscheidungen treffen. Ich zeige nur an Beispielen, wie diese Familien ohne historische Transparenz noch immer Stiftungen, Medienpreise oder Konzernhauptsitze führen im Namen von Patriarchen, die in NS-Verbrechen verstrickt waren.