Individualismus

Begonnen von Kuddel, 12:13:38 Mi. 22.November 2017

⏪ vorheriges - nächstes ⏩

Kuddel

Ich bin schon der Meinung, jeder Mensch sollte ein Maximum an individueller Freiheit besitzen.

Ich halte aber das Individuum und den Indivualismus für einen gefährlichen Mythos der westlichen Philosophie.
Der Mensch ist ein soziales Wesen und ohne Kooperation kaum überlebensfähig.

Der neoliberale Großangriff auf Lebensbedingungen und soziale Absicherungen ist nur möglich durch die Atomisierung der Klasse und die Zersplitterung aller sozialer Strukturen.

Troll

Massenhaft individuell:
http://www.digitalwiki.de/nudging/

Jaja, die Marionetten hocken nicht nur im Bundestag sondern direkt vor dem Bildschirm, und ärgern sich über die vielen Marionetten.
Politik ist der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.
Dieter Hildebrandt
Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein.
Jiddu Krishnamurti

Fritz Linow

Zitat von: Kuddel am 12:13:38 Mi. 22.November 2017
(...)
Ich halte aber das Individuum und den Indivualismus für einen gefährlichen Mythos der westlichen Philosophie.
(...)
Es bedarf einer näheren Definition, was unter "westlicher Philosopie" zu verstehen ist. Dann könnte die Diskussion ziemlich spannend werden.
Ich brauche mehr Details.

Rudolf Rocker


Kuddel

Zitat von: Fritz Linow am 22:22:07 Sa. 25.November 2017
Es bedarf einer näheren Definition, was unter "westlicher Philosopie" zu verstehen ist. Dann könnte die Diskussion ziemlich spannend werden.
Ich brauche mehr Details.

ich wollte mich nicht mit philosophischen Texten und Theorien herumschlagen.

Ich wollte eine kritische Betrachtung der Verhältnisse hier und der Mythen, die durch die Medien und Köpfe geistern.

Ich wollte auch nicht unbedingt eine Betrachung anderer Kulturräume.
Obwohl sich da vieles stark von der hiesigen Alltagskultur unterscheiden mag.
In China halten sich Rentner gern in großen Gruppen an den vor Wohnblöcken aufgestellten Sportgeräten auf, um dort ein wenig herumzuhampeln und zu quatschen. Und völlig normal sind Tanzabende auf öffentlichen Plätzen mit einem üblen Gebräu aus Pop, Volksmusik und Techno und es sind Hunderte, teilweise Tausende aller Generationen mit großer Begeisterung dabei.
In der Arabischen Sprache wird des menschliche Miteinander sehr blumig beschrieben und das Individuum wird nicht vergleichbar abgefeiert, wie bei uns. In Kulturen, bzw. Ländern, in denen es kein funktionierendes Sozialsystem gibt und staatliche Strukturen ein korruptes Chaos sind, ist man auf familiäre Hilfe und Netzwerke und eine alternative Schattenwirtschaft angewiesen. Wer auf sich allein gestellt ist, ist verloren.

Ich wollte nicht den Vergleich mit der Kultur und Philosophie anderenorts.
Ich halte den Kult um das Individuum bei uns für verlogen und unerträglich.
Ich fänd es interessant, das mal auseinanderzunehmen.



BGS

Wie sieht denn der "Kult um das Individuum" aus, konkret?

Bin gleichfalls der Meinung,  jeder Mensch sollte ein Maximum an individueller Freiheit besitzen.

MfG

BGS
"Ceterum censeo, Berolinensis esse delendam"

https://forum.chefduzen.de/index.php/topic,21713.1020.html#lastPost
(:DAS SINKENDE SCHIFF DEUTSCHLAND ENDGÜLTIG VERLASSEN!)

Troll

Das Individuum wird hochgehalten, bei genauerem hinsehen entpuppt sich dieses propagierte Individuum als Marktkonformer Massenkrüppel der auf alles einprügelt was nicht den politischen und medialen vorgegebenem Individuum entspricht, er darf und soll sogar blindlings losprügeln, ein Individuum außerhalb der Vorgaben darf es nicht geben. Die Toleranz für Individualität war selten begrenzter als in der Gegenwart.

Ist nur meine Meinung!  ;D
Politik ist der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.
Dieter Hildebrandt
Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein.
Jiddu Krishnamurti

Kuddel

Zitat von: BGS am 20:40:54 Mo. 18.Dezember 2017
Wie sieht denn der "Kult um das Individuum" aus, konkret?

Bin gleichfalls der Meinung,  jeder Mensch sollte ein Maximum an individueller Freiheit besitzen.

Das Maximum an individueller Freiheit wollte ich ja nicht in Frage stellen, sondern die Illusion vom induviduum und von seinem absolut freien Verhalten und Willen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Damit meine ich nicht, daß er sich unbedingt sonderlich mitfühlend oder herzensgut verhält. Der Mensch verhält sich stets in einem Verhältnis zu anderen Menschen und zur Gesellschaft. Egal ob er sich nun herrschsüchtig oder unterwürfig fühlt oder verhält, es ist immer eine Haltung zu anderen Menschen.

In den 70er Jahren gab es einen Kult um tolle Individualität und Camel staffierte solche Indivdualisten mit der passenden Garderobe aus. Es galt, aus der Masse herauszustechen. Es wurde das Wort des "Aussteigers" erfunden für Menschen, die lieber auf materiellen Wohlstand verzichteten und aus freier Entscheidung nicht in den Mühlen täglicher fester Arbeit stecken wollten.

Klar, Begriffe wie "Aussteiger", "Gegenkultur" hatten den Geruch von Freiheit und Abenteuer. Ich war stets fasziniert, meine Haartracht durchging alle Möglichkeiten subkulturellen Ausdrucks und wilde Klamotten machten auch stets Spaß. Aber Spaß macht es nur, wenn man eine Gesellschaft hat, die man damit provozieren kann, die einen dafür haßt oder bewundert. Man kann sich weit außen positionieren von der Gesellschaft. Aber auch das ist eine Position zur Gesellschaft, mit der man sich vielleicht auch nur durch den wechselseitigen Haß verbunden sieht.

Ich dachte mal, es wäre eine tolle Sache, wenn man weit außerhalb der Gesellschaft steht. Damals gab es auch ökonomische Verhältnisse, die einem dieses Gefühl ermöglichten. Man konnte die Knechterei in einem Job verweigern, ohne dann Würmer fressen und sich Klamotten aus selbsterlegten Ratten nähen zu müssen.

Diese Freiheiten, sich mit einer hippiemäßigen Attidüde durchs Leben zu schlagen, sind verschwunden und gibt es bestenfalls für die Kinder der Wohlhabenden.

Es ist dann plötzlich nicht mehr cool weit außerhalb zu stehen, weil man Arm ist, weil die Gesellschaft von tödlichem Konkurrenzkampf geprägt ist und auf jeden spuckt, der es nicht geschafft hat, mitzuhalten. Es ist nicht geil "anders" zu sein, weil man krank, behindert, verrückt oder alt ist und man ausgespuckt wurde von der Gesellschaft.

Es ist mir damals nicht klar gewesen, daß man immer ein Verhältnis zur Gesellschaft suchte, selbst wenn es kritisch oder voller Verachtung war. Auch Konflikte mit anderen sind zutiefst menschlich und ein Mittel gegen die Einsamkeit. Und ganz ehrlich, auf die gesellschaftlichen Produkte, wie die Lebensmittelproduktion oder Gesundheitsversorgung, möchte ich nicht verzichten.

Ich bin auch Kind meiner Zeit und war von dieser individuellen Freiheit (wenn man nur will, kann man auch) überzeugt. Unter diesem weitverbreiteten Glauben, ließen sich wunderbar diverse gesellschaftlichen Errungenschaften und sozialen Absicherungen widerstandslos abbauen.

Kuddel

Ich hatte ja schon angedeutet, daß Subkultur und kulturelles Aufbegehren mit einem anderen Aussehen, anderer Musik etc. mir stets wichtig waren.
Ich habe diese Freiheit, die ich mir erkämpft hatte, enorm hochgehalten. Heute sehe ich diese Sub- und Gegenkulturen als völlig vereinnahmt vom System. Sie sind Teil der des Ganzen geworden, Schmiermittel für das Funktioneren in der der neoliberalen Welt. Einst waren Tätowierungen Erkennungszeichen von Seeleuten und Knackis, die stolz zeigten, daß sie auf bürgerliche Werte und Spießertum scheißen. Heute muß man volltätowiert bis unter den Haaransatz sein, wenn man eine Praktikumsstelle in einem Start-up kriegen will.

Ach, vielleicht war einem diese subkulturelle Spielwiese deshalb so wichtig, weil man sich über eine soziale Grundsicherung keine Sorgen zu machen brauchte.

Heute sehe ich das Grundploblem darin, daß wir alle "Individuen" sind, in der Vereinzelung wehrlos und oftmals auch vereinsamt. Das haben wir von unserem tollen "Individualismus". In unserer Isolierung und Hilflosigkeit sind wir überhaupt nicht mehr individualistisch, sondern wir haben alle das gleiche Problem. Doch das bringt uns nicht zusammen.

Und ich sehe den Ursprung dafür hier:
Thatcher sagte 1987 in einem Interview:
ZitatSo etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und es gibt Familen. Keine Regierung kann existieren, ohne dass die Menschen zunächst für sich selbst sorgen.
Das ist die Grundlage neoliberaler Politik. Die Gewerkschaften, die Arbeiterbewegung und jeglichen sozialen Zusammenhalt zerschlagen und die Menschen vereinzeln. Dann kann man kann die sozialen Absicherungen abbauen, mit einem "schlanken Staat" regieren und die Wirtschaft hat die Möglichkeit gegen die atomisierte Arbeiterklasse immer miesere Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Das hat wunderbar geklappt. Jetzt sitzen wir da in der Scheiße.
Wir fragen uns, wie wir wieder aus der Vereinzelung herauskommen, aber wir kriegen es nicht hin.

Rudolf Rocker

ZitatHeute sehe ich das Grundploblem darin, daß wir alle "Individuen" sind, in der Vereinzelung wehrlos und oftmals auch vereinsamt.
;D

https://www.youtube.com/watch?v=rhJCQCk3sO0

Troll

ZitatWir leben in einer Anpassungsgesellschaft, in der wir statt auf unseren inneren Kompass nur noch auf die Mehrheit hören.

Von Deborah Ryszka.

,,Verwirkliche dich selbst!", lautet ein Mantra unserer Zeit, das wir sowohl im Berufsleben als auch in der Psycho-Szene wiederfinden. Doch gerade in diesem Drang nach Selbstverwirklichung sind die meisten Menschen Opportunisten. Sie tun es, weil es alle tun. Die Meinung und der Geschmack der Masse bestimmen unsere Orientierung. Überall versuchen wir uns mit den Mitteln der Selbstvermessung und Selbstoptimierung marktkonform zu machen. Digitale Technologien unterstützen diesen Prozess. Damit geben wir auch die Verantwortung für unser Leben ans Kollektiv ab. Wirkliche Individualität sieht anders aus.

...

HTML5:
http://kenfm.v38432.goserver.host/kenfm-media-de/mp3/tagesdosis-20190713.mp3
Quelle: KenFM

,,Freiheit bedeutet Verantwortlichkeit. Das ist der Grund, weshalb die meisten Menschen sich vor ihr fürchten."
George Bernard Shaw
Politik ist der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.
Dieter Hildebrandt
Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein.
Jiddu Krishnamurti

Kuddel

Großbritannien scheint so etwas wie ein Vorreiter zu sein.
Erst hat Thatcher die traditionellen Organisationen der Arbeiterklasse zerschlagen und dabei nicht lange um den heißen Brei geredet. Als sie die streikenden Bergarbeiter in die Knie zwingen und aushungern wollte, sagte sie, "Let them eat grass!", frei übersetzt, "Sollen sie doch Gras fressen!"

Nachdem Thatcher eine Schneise der Verwüstung hinterlassen hat, machte New Labour an der Stelle weiter und raubte den Menschen noch ihre Hoffnungen. Eine sozialdemokratische Regierung setzte einen unglaublichen Sozialkahlschlag durch. Tony Blair war das Vorbild für Gerhard Schröder. Mit der Agenda 2010 haben wir dann auf die Fresse gekriegt.

Es sind erst die Organisationen des Widerstands zerschlagen worden, dann wurde der soziale Zusammehalt aufgelöst. Die Neoliberale Politik hat sich ausgelebt und alles zerschlagen, ganz wie Thatcher es wollte: "So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und es gibt Familen." Es gibt keine Gesellschaft mehr, nur noch Individuen. Jeder für sich, alle gegen alle. Der feuchte Traum der Neoliberalen.

Menschen beraubt ihrer Sicherheiten und sozialen Bindungen drehen durch. Es werden menschliche Wracks. Psychische Krankheiten und menschliches Elend sind das Ergebnis dieser Politik.

ZitatGroßbritannien: Einsam und allein

Die Hälfte der über 75jährigen Briten lebt heute schon allein. Neun Millionen Briten sagen, sie fühlen sich einsam. Auch immer mehr Jüngere spüren dieses Gefühl fehlender Verbundenheit. Trotz WhatsApp-Gruppen und sozialer Medien.
https://www.dw.com/de/gro%C3%9Fbritannien-einsam-und-allein/av-45106675

ZitatGroßbritannien bekommt Ministerin für Einsamkeit
Jobverlust, Trauerfall oder Trennung: Mehr als neun Millionen Briten fühlen sich häufig einsam. Die Regierung ernennt nun eine Ansprechpartnerin.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-01/tracey-crouch-grossbritannien-ministerin-einsamkeit

Ist aber inzwischen auch hier angekommen:
ZitatSoziale Isolation
Die Einsamkeit breitet sich in Deutschland aus wie eine Epidemie

Wer ganz alleine ist, erkrankt häufiger schwer. Experten sprechen bereits von einem Megatrend.
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/soziale-isolation-die-einsamkeit-breitet-sich-in-deutschland-aus-wie-eine-epidemie/21035520.html

ZitatStudie zu gesundheitlichen Folgen
Die Einsamkeit in Deutschland wächst

Zunehmende Einsamkeiten hat Folgen für die Gesundheit von Menschen.


    Immer mehr Menschen leiden darunter, einsam zu sein.
    Ihr Anteil ist nach Regierungsangaben in einzelnen Altersgruppen um fast 60 Prozent gestiegen.
https://www.rundschau-online.de/politik/studie-zu-gesundheitlichen-folgen-die-einsamkeit-in-deutschland-waechst-32622478

milchbrötchen

und der allererste Wegbereiter ist die KITA. Emanzipation hin oder her. Kinder sind die Opfer, die der Mutterbeziehung entrissen werden und damit für den Rest des Lebens Bindungsprobleme haben. Auf verschiedenen Ebenen. Eltern, Geschwister, Freunde ...

Fritz Linow

Zitat von: milchbrötchen am 20:21:08 So. 18.August 2019
und der allererste Wegbereiter ist die KITA. Emanzipation hin oder her. Kinder sind die Opfer, die der Mutterbeziehung entrissen werden und damit für den Rest des Lebens Bindungsprobleme haben. Auf verschiedenen Ebenen. Eltern, Geschwister, Freunde ...


ManOfConstantSorrow

Danke, Fritz Linow.

Schon vergessen? "Die Familie ist die Keimzelle das Faschismus."
ZitatDie patriarchalische (Zwangs-)Familie als Keimzelle des Staates schaffe die Charaktere, die sich der repressiven Ordnung, trotz Not und Erniedrigung, unterwerfen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Autorit%C3%A4rer_Charakter
https://taz.de/Historikerin-Gisela-Notz-ueber-Familien/!5388812/

Oder auch: https://forum.chefduzen.de/index.php/topic,28026.0.html
Arbeitsscheu und chronisch schlecht gelaunt!

Kuddel

Es gibt noch eine Menge zu sagen zu dem beschissenen Individualismus, der zum Leitbild der heutigen Zeit gemacht wurde.
Einsamkeit ist eine logische Folge. Dabei fällt mir ein, daß das Internet die Illusion einer Vernetzung produziert, aber isolierte und vereinsamte Menschen hinterläßt.

Manfred Spitzer kannte ich nicht und bin durch ein von Troll gepostetes Video über ihn gestolpert. Er hat als Wissenhaftler auch interessantes über Einsamkeit gesagt:


https://youtu.be/jpv0rXket2E


BGS

besten Dank fuers Einstellen. Informativ und interessant.

MfG

BGS
"Ceterum censeo, Berolinensis esse delendam"

https://forum.chefduzen.de/index.php/topic,21713.1020.html#lastPost
(:DAS SINKENDE SCHIFF DEUTSCHLAND ENDGÜLTIG VERLASSEN!)

Kuddel

ZitatTelepolis: Kommen wir mal auf die Zeiten von Corona. Du hattest vorhin gesagt, das in der griechischen Antike jene als Idioten galten, die sich nicht am Politischen beteiligen, auch wenn der Feind vor den Toren steht. Idioten waren die, die zu Hause bleiben.

Zoran Terzic: Für mich drückt sich darin sinnbildlich etwas aus, das schon längst vor Corona da war. Nämlich das, was Soziologen als die Singularisierung der Gesellschaft beschreiben, als die "Gesellschaft der Singularitäten", also die Rückführung des Gesellschaftlichen auf das einzelne Individuum. Die Privatisierung sozialer Probleme auf die Psyche des Einzelnen. Die Depression ist zur Modediagnose geworden. Da wird deren gesellschaftlicher Ursprung immer wieder durch die Probleme des Einzelnen verdeckt. Wir erleben solche Abwälzung von allem auf den Einzelnen. Dies ist das Grundprinzip in der Idiokratie, der Herrschaft des Idiotischen.
https://www.heise.de/tp/features/Die-Vereinzelung-in-der-Gesellschaft-als-erzwungene-Idiotie-4840100.html

Fritz Linow

Zitat von: Kuddel am 11:21:16 So. 12.Juli 2020
ZitatTelepolis: Kommen wir mal auf die Zeiten von Corona. Du hattest vorhin gesagt, das in der griechischen Antike jene als Idioten galten, die sich nicht am Politischen beteiligen, auch wenn der Feind vor den Toren steht. Idioten waren die, die zu Hause bleiben.
(...)

(Da die taz nun auch auf die Idioten angesprungen ist: https://taz.de/Covidioten-und-Sprachkritik/!5700025/ )

Man könnte den antiken griechischen Idioten auch als Normalo übersetzen, der halt eben nicht die Möglichkeit hatte, sich in einer feinen Gesellschaft zu bewegen oder Einfluss zu haben. Nicht jeder Grieche hatte genug Ländereien und Sklaven, und erhalten sind nur die Zitate derjenigen, die es sich leisten konnten und auf andere herabschauten.


Kuddel

Ich beobachte seit langem die rasanten Veränderungen der medialen Berichterstattung, insbesondere der Onlinemedien. Es ist auffällig, daß sie sich nahezu synchron verändern, egal ob sprachlich, visuell oder inhaltlich. Stern Online hat sich allen voran vom Journalismus verabschiedet und veröffentlicht nur noch schrillen, bzw. völlig ausgelutschten Trash.

Die Vorzeigequalitätsmedien spiegel-, süddeutsche- oder zeit-online bewegen sich inhaltlich in identische Richtung: Sie versuchen sich an einer aggressiven Entpolitisierung und verleugnen die gesellschaftlichen Interessenskonflikte und die Existenz von Klassen.

Zuerst beschäftigte man sich eher um Stars und deren Privatleben. Auch bei Politikern ging es eher um das Privatleben, um Lifestyle, Aussehen, deren Erfolge oder Peinlichkeiten. Dann mischten sich stets Produktplacement und Journalismus, nicht nur Unterhaltungs- um Kommunikationeselektronik, auch Reisen und Reiseziele standen hoch im Kurs. Es ging mehr und mehr um Formen des individuellen Genusses. Berichte über Restaurants, Kochen und Kochrezepte wurden plötzlich mit Journalismus verwechelt.

Damit ging es von dem Einzelnen in dessen Inneren. Die Innerlichkeit wurde mehr und mehr zum Thema. Erst gab es Berichte über (rätselhalfte) Krankheiten, es ging dann weiter mit Küchenpsychologie. Inzwischen gehört das In-sich-Hineinhorchen zum guten Ton im Profijournalismus, die Ängste, ob man nicht stylish genug ist, wie man dies oder jenes genießt, dann werden die sonstigen Ängste und Phobien zum Thema und natürlich geht es weiter in die privaten zwischenmenschlichen Beziehungen und auch da quatschen uns die neoliberalen Pißmedien rein. Paartherapeuten werden öfter zitiert als Politiker. Und jetzt labern die Mainstreamjournalisten ständig von Sex, von offenen Beziehungen und besonders abgefahrenen Erlebnissen. Und wie man verkorkste Beziehungen rettet. Neuerdings auch darüber, daß die Menschen heute angeblich immer weniger Bock auf Sex hätten. Und was daran vielleicht gut sei.

Ich komme mir vor, wie auf der Dr. Sommer-Seite der Bravo. Das ist der heutige Spitzenjournalismus.

Es wäre vielleicht irgendwie absurd komisch, amüsant und unterhaltsam, wenn man einfach nur auf Trashniveau gesunken wäre und sich den Journalismus sparen würde. Es ist aber nicht nur Faulheit und Geldgeilheit der Medienmacher. Sie setzen mit dieser Art von Journalismus politische Ziele um: Es geht um die Entpolitisierung, es geht um die Auflösung gesellschaftlicher Zusammenhänge und damit die Auflösung kollektiven Widerstands. Atomisierung der Klasse und Vernebelung kollektiver interessen. Jeder soll sich ganz neoliberal um sich selbst kümmern und die Probleme in sich selbst suchen. Das ICH ist das Goldene Kalb der heutigen Gesellschaft und niemand fragt mehr danach, warum Depressionen und psychische Krankheiten um ein mehrfaches angestiegen sind.

Hier nochmal eine Kostprobe, die "Zeit" von heute:
ZitatSo bringst du Abwechslung in deine Masturbationsroutine

Ob Küchenutensilien, Kerzenwachs oder Analplugs – wir haben Pornoregisseurinnen, Sexualpädagoginnen, Sexarbeiter*innen und Dominas nach ihren Solosextipps gefragt.
https://ze.tt/so-bringst-du-abwechslung-in-deine-masturbationsroutine/?utm_campaign=ref&utm_content=zett_zon_parkett_teaser_x&utm_medium=fix&utm_source=zon_zettaudev_int&wt_zmc=fix.int.zettaudev.zon.ref.zett.zon_parkett.teaser.x


Kuddel

Ach, das freie Individuum ist ein Scheißmythos.
Gäbe es keine Kooperation der Menschen, würden wir (fast) alle nicht mehr leben, wir hätten keine Gesundheitsversorgung, Häuser, Lebensmittel, Kleidung, Heizung etc..
Wären wir allein auf einer Insel, würde uns die Einsamkeit wahnsinnig machen.

Den Glauben an den Individualismus gibt es schon lange. Seit dem Neoliberalismus dominiert der Schwachsinn alles andere.

Wenn die Menschen aber nicht mehr geschützt sind durch halbwegs auskömmliche Löhne und Renten, wenn das Sozialsystem zerbröselt, macht sich Panik breit. Die Panik wird unter der Pandemie noch verstärkt.

Meine Theorie: Rein instinktiv suchen die Menschen dann Schutz in Gruppen, die möglichst stark erscheinen und sich aggressiv nach außen abgrenzen. Inhalte sind da erstmal egal.

Das sind dann Fußballfans oder Hooligans, Pegida, Trump-Anhänger oder jetzt Querdenker.

Denen brauchst du nicht mit Argumenten zu kommen. Für die ist das nur ein Versuch, sie aus der Sicherheit der Gruppe herauszureißen und sie reagieren aggressiv.

Kuddel

Vor einigen Tagen habe ich an einer Diskussionsrunde teilgenommen bei der ich der einzige alte Sack war. Die Leute waren jung, teilweise sehr jung, sahen sich als links oder linksradikal.

Sie machten sich gute Gedanken über die Welt, doch die Konsequenzen daraus fand ich deprimierend.

Jeder versuchte für sich auf Umweltzerstörung und Ausbeutung zu reagieren. Letztendlich ging es immer wieder um einen bewußten Konsum. Darum macht man sich einen Kopf und hat scheinbar bei jedem Kauf ein schlechtes Gewissen. Und man wirft anderen einen "falschen" Konsum vor.

So ändert man die Welt mit Sicherheit nicht.

Nikita

"Und man wirft anderen einen "falschen" Konsum vor."
Linke Hochnäsigkeit. Man sollte aufklären, aber bitte nicht oberlehrerhaft.
Diese Indoktrinierung, für alle Probleme der Welt sei das Individuum mit seinem Verhalten verantwortlich, ist für mich ein Teil des Problems. Die Großkonzerne und Politik haben es gut geschafft, uns zu erklären, dass nicht sie die Probleme verursachen, sondern der Einzelne mit seinem Verhalten.

Kuddel

ZitatIch fühle mich nicht gut regiert. Nicht von meiner Regierung – und nicht von meiner Gemeinschaft. Denn dies ist keine Gemeinschaft. Es ist eine Ansammlung von 83 Millionen Individuen, die sich die Schuld an der Misere nun gegenseitig in die Schuhe schieben. Ich schäme mich für diese Gemeinschaft, die keine ist. Und ich schäme mich, dass ich im Sommer nicht auf den Plätzen meiner Stadt war, um das zu ändern.
https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/ich-fuehle-mich-nicht-gut-regiert

ZitatSo etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und es gibt Familen.
Maggie Thatcher

Es gibt Machtverhältnisse. Es gibt diejenigen, die die Produktionsmittel besitzen. Es gibt die Ausgebeuteten. Eine Gegenwehr gegen die Besitzenden, gegen die Mächtigen, ist nur dann möglich, wenn man sich kollektiv wehrt.

Diese Kollektivität hat sich mit dem Neoliberaismus und der Entpolitisierung der Linken aufgelöst. Die Linke entwickelt einen Zusammenhalt eher über Identität, über einen kulturellen Zusammenhang, Bildung, ein besonders moralisches Auftreten, über einen eigenen Sprachgebrauch.

Das hat nichts mit einem Klassenstandpunkt zu tun. Die Klasse ist jedoch kein Paradies, kein goldener Pfad in eine bessere Gesellschaft. Die Unterschichten wurden auch durch dieses kaputte Bildungs- und Mediensystem geprägt. Man findet dort nicht nur Resignation, sondern genauso Anpassung, Selbstzerstörung, Rassismus, Sexismus und andere Idiotien.

Mit diesen Irrungen und Wirrungen müssen wir umgehen und in diesen "unpolitischen" Menschen potentielle Mitstreiter erkennen. Sie können lernen, sie können sich ändern und als Linke müssen wir genau diesen Prozeß vorantreiben. Dazu muß man erstmal die herablassende Haltung diesen Leuten gegenüber ablegen.


counselor

Interessant ist, dass die bürgerliche Psychologie den Standpunkt einnimmt, dass man Erwachsene nicht mehr ändern kann, man sich aber selbst verändern kann.
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

Kuddel

Resilienz ist derzeit die Antwort auf Krisen. Ob Pandemie, Klima oder allgemeine Misere: Anstatt Missstände zu beheben, wird die Verantwortung ins Individuum deligiert.


https://youtu.be/zl7sWEDc67I

Kuddel

Ich habe das Gefühl, daß die Ideologie des Individualismus an ihrem Ende angekommen ist. Sie verfängt nicht mehr. Diese neoliberale Vorstellung davon, daß jeder seines Glückes Schmied ist, funktionerte noch irgendwie, so lange es ein gewisses Maß an Sozialer Absicherung gab und der Glaube daran, daß man mit viel Mühe noch auf der Sozialen Leiter aufsteigen kann.

Die soziale Sicherheit auf niedrigem Niveau ist jedoch auf echte Armut abgerutscht. Und der Aufstieg wird immer unrealistischer, je mehr die Mittelschicht sich selbst im sozialen Niedergang befindet.

Die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse sind brüchiger geworden. Man weiß nicht einmal mehr, ob sie überhaupt noch weiter existieren werden oder es radikale Verwerfungen oder einen Zusammenbruch des Bestehenden geben wird. Die Coronapandemie und der Ukrainekrieg haben die sicher geglaubten Fundamente brüchig gemacht.

Unsicherheit und Angst sind allgegenwärtig. Der Glaube an die Macht und die Möglichkeiten der Individuums ist dahin.

Man sucht wieder Halt in einer Gruppe. Religiöse Spinner haben Zulauf. Fußball gibt noch das Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Die Querdenker vermittelten das Gemeinschaftsgefühl einer großen Oppositionsbewegung. Unter jungen Leuten haben dogmatische neoleninistische Gruppen Zulauf, die mit Roten Fahnen, Hammer und Sichel und marxistischer Sprache ein starkes Gemeinschaftgefühl entwickeln.

Kuddel

Inzwischen ist wirklich Feierabend mit der Glorifizierung des Individualismus.

Auch in den bürgerlichen Medien spricht man nun davon, daß der Mensch ein Soziales Wesen ist, das nicht allein existiert.

https://krautreporter.de/zusammenhaenge/146-warum-du-ohne-andere-nichts-bist


Kuddel

Thatcher sagte, "There's No Such Thing as Society" (So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht.)
Der Mensch wird als soziales Wesen verleugnet. Gesellschaftliche Machtverhältnisse werden abgestritten.

Während Staat und Wirtschaft als geschlossene Kräfte auftreten, soll der Mensch vereinzelt und wehrlos sein.

Es ist unglaublich, mit welcher Wucht der Individualismus in den Medien propagiert wird.

Man soll sich nicht länger mit den Machtverhältnissen auseinandersetzen, sondern mit sich selbst.

Es wird behauptet, der individuelle Konsum sei ein Durchsetzungsmittel gegen ungerechte Verhältnisse. Dabei kommt heraus, daß die Armen an allem Schuld sind. Wer sich ein billiges T-Shirt bei KiK gekauft hat, ist schuld an den Arbeitsbedingen in Bangldesh und wer sich eine billige Wurst kauft, ist schuld an Massentierhaltung und den Zuständen bei Tönnies.

Man soll nur noch in sich hineinhören und an seinem indivudellen Verhalten herumfeilen.

ZitatLeben mit Depressionen
»Ich habe keine Kraft für Nähe«
(spiegel)

ZitatLeben mit Alzheimer
Jetzt ist er im Heim. Und das Haus ist leer, obwohl es voller Möbel steht
(spiegel)

Zitat»Sie sollten respektvoll sprechen«
Wie Eltern und Kinder gut durch eine Scheidung kommen
(spiegel)

ZitatPodcast über Selbsthilfetechnik bei Stress
Zittern bis zur Entspannung
(spiegel)

ZitatOktoberfest
Wenn jeder Rülpser zur Gefahr wird
(Süddeutsche)

ZitatTrauerarbeit
Über Tote nur Gutes
(Süddeutsche)

ZitatBeziehung
"Man bekommt alles wieder hin"
(Süddeutsche)

ZitatCharles III.
God save the King
Sein Leben in Bildern.
(Süddeutsche)

ZitatFamilientrio
Ist es fair, wenn Eltern sich einen Hortplatz erschwindeln?
(Süddeutsche)

ZitatMeine Leidenschaft
"Tagebuchschreiben ist zum Wütendsein, Unfairsein, Unreifsein."
(Süddeutsche)

ZitatFamilie
Ich will euch nicht mehr sehen
(Süddeutsche)

ZitatKindererziehung
"Viele Eltern stören die Selbstregulation des Babys"
(Zeit)

ZitatDie Sextagebücher
"Während wir Abendessen kochen, machen wir in der WG-Küche rum"
(Zeit)

ZitatMedical Gaslighting
"Ich brauchte keinen alten weißen Mann, der mir Menstruieren erklärt"
(Zeit)

Ist ja schlimmer als Dr. Sommer in der Bravo.

Kuddel

Die Medien machen weiter mit dem individualistischen Scheiß, wie fühlst du, wie sind deine Beziehungen, was ißt du, blablabla.

Ich habe das Gefühl, daß der Individualismus in Krisenzeiten immer weniger funktioniert. Die Menschen schieben Panik, nichts ist von Dauer, Weltbilder und ökonomische Sicherheiten gehen flöten.

Es wird nun Halt gesucht. Der Halt einer Gruppe scheint wichtiger zu sein als rationale Argumente.

Gruppenzugehörigkeit hat eine enorme Wichtigkeit. Man möchte einem mächtigen Stamm, einer starken Gang angehören. Es kann alles sein, man sammelt sich hinter einer Fußballmannschaft, einer Musik- oder Modekultur, aber auch schillernde Persönlichkeiten sind ein Magnet für Menschen, die Halt suchen, eine Sarah Wagenknecht oder ein Donald Trump.

Da kommt man mit Argumenten nicht weiter. Gruppendynamik und die Sehnsucht nach Zusammenhalt sind weitaus stärker.

  • Chefduzen Spendenbutton