3.4. 19°° Lesung in Kiel zum Thema Arbeiterselbstverwaltung

Begonnen von admin, 17:26:10 Do. 15.März 2018

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admin

Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland

Buch von: Rainer Thomann (Zürich), Übersetzerin: Anita Friedetzky (Hamburg)

Die russischen Arbeiterinnen und Arbeiter schufen zu Beginn des 20. Jahrhunderts andere Organisationsformen als die in den meisten Ländern üblichen Parteien und Gewerkschaften. Ihre Fabrikkomitees waren Arbeiterräte, die direkt von den Belegschaften gewählt wurden. Die hier erstmals auf Deutsch erscheinenden Protokolle des Fabrikkomitees der Putilow-Werke, eines der bedeutendsten Industriebetriebe Russlands, erlauben eine ungewohnte Perspektive auf die Russische Revolution.

Dieses Buch will dafür sorgen, dass jene nicht in Vergessenheit geraten, die vor 100 Jahren die Herrschaftsverhältnisse in Russland zum Einsturz brachten und damit Weltgeschichte schrieben: die Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihre Fabriken besetzten, die Bauernsoldaten, welche massenhaft und kollektiv die Befehle verweigerten sowie die Bäuerinnen und Bauern, die sich auf eigene Faust das Land aneigneten. Sie alle sind die eigentlichen Protagonist_innen der Revolution von 1917.

http://diebuchmacherei.de/produkt/aufstieg-und-fall-der-arbeitermacht-in-russland/


Fabrik-Komitee des Putilow-Werks

Der Autor Rainer Thomann stellt am Dienstag, den 3.4. um 19°° sein Buch vor im Buchladen Zapata am Wilhelmplatz 6 in Kiel.



Demonstration von Arbeiterinnen und Arbeitern der Putilow-Werke am 23. Februar 1917

Ein Veranstaltung von chefduzen.de

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Buchvorstellung
mit den Autoren Rainer Thomann (Zürich) und Anita Friedetzky (Hamburg)


Sagbares und Essbares: Für eine kritische Aufarbeitung der Geschichte ist heute mehr Spielraum vorhanden.


Eine Besprechung: https://www.ajour-mag.ch/arbeitermacht-sowjets-russische-revolution/

Am Dienstag um 19°° im Buchladen Zapata, Kiel

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Die Buchvorstellung war ebenso großartig, wie sie schlecht besucht war. Inhaltlich wichtig und brandaktuell. In der Form höchst unterhaltsam.

Erst hinterher wurde uns klar, mit wem wir es zu tun hatten bei dem älteren Herren, der geschichtlich recht bewandert war und den glühenden Kommunisten mimte. Ein wenig Recherche ergab, daß es sich wohl um einen Kieler Historiker handelte, der zu dem Dunstkreis der Reichsbürger zählt.
Wir hatten nicht vor für solche Leute ein Programm zu machen.

Die Lesung machte ansonsten Spaß mit der Hamburgerin Anita Friedetzky, die in den 70er Jahren in Rußland studiert hat und dem Schweizer Rainer Thomann, die mit Herzblut von dem Kampf der Arbeiter der Putilow-Werke berichteten, die in einem Rätesystem den Großbetrieb in ihren Händen hielten und sich von den Strategen der Partei nach und nach entmachten ließen. Es ist ein Blick auf die Oktoberrevolution, der sie in einem anderen Licht erscheinen läßt und mit Mythen aufräumt. Die Texte wurden mit projizierten Bildern und Filmausschnitten ergänzt.

Vieles erinnert auch an Situationen in der heutigen Zeit, in der Arbeiter ihre Macht erkennen, die sie sich nach kurzer Zeit wieder nehmen lassen, wie bei dem Neupack-Streik.

Hier ein Kommentar zu der Buchvorstellung von DW, der die Entstehung des Buches begleitete:
ZitatDie Idee zum Buch ist vor fast vier Jahren entstanden, als Rainer, Jochen und ich bei einem Treffen zusammenstanden und anläßlich des bevorstehenden 100. Jahrestages der russischen Revolution wir über die Frage sprachen, warum Fabrikkomitees und Sowjets, die die Macht seit der Februarrevolution in den Händen hatten, zumindest in einer Art Doppelherrschaft, sie diese wieder verloren haben. Günstig war, daß Herbert Mißlitz, den einige von euch kennen, weil er beim Jour Fixe schon mal über die Wende 1989/1990 berichtet hat, bereit war, in Archiven in St. Petersburg und Moskau Material für uns zu besorgen. Das zerschlug sich nach einigen Monaten und wir hatten das große Glück, daß Anita sich bereit erklärte, für uns Texte aus dem Russischen zu übersetzen. Ohne sie wäre das Buch nicht entstanden.

Ich brauch nicht zu erklären, daß Rainer und Anita nicht tausende von Stunden gearbeitet haben, um ein weiteres historisches Buch zur russischen Revolution zu schreiben. Wir meinen, daß es einen Nutzen für heute hat.

Rainer sah seinen Teil darin, eine Einleitung zu den Übersetzungen von Anita zu schreiben von ca. 70 Seiten – wie er damals glaubte. Es wurde dann ein Buch von 460 Seiten von ihm. Und 170 Seiten übersetzte Protokolle von Anita!

Mein Statement:
Der Grund für das Buch
Die Idee des Kommunismus wurde durch die 70jährige Herrschaft des autoritären Kommunismus schwer diskreditiert und macht einen Neuanfang einer Arbeiterbewegung schwer.
Beispiele für die Diskreditierung:
Moskauer Prozesse,
GULAG,
nach 1945 Vertreibung der Ostpolen und der 13 Millionen Ostdeutschen.
August 1968: Panzer in Prag. Usw, usw.

Das alles schuf schuf und förderte den Antikommunismus.
Es war Wasser auf die Mühlen des Kapitals und der Sozialdemokraten.

Auch heute noch gibt es:
Den Herrschaftsanspruch gegenüber sich eigenständig zeigenden Betriebskämpfen und einer neu entwickelnden Arbeiterbewegungen.
Deshalb unser credo vom Jour Fixe: Unterstützung eigenständiger Kämpfe, damit sich diese Konstellation, daß sich autoritäre kommunistische Parteien der Bewegungen bemächtigen, und die ArbeiterInnen zu Objekten degradiert werden wie im Kapitalismus, nicht wiederholt.

Die Führung der Bolschewiki und dann der ganze Parteiapparat handelten nach dem Prinzip:
Der Zweck heiligt die Mittel.
Der Zweck war, dem Lande das Heil zu bringen und der Welt die Weltrevolution. Sie glaubten, dazu seien sie von der Geschichte berufen. Daher nahmen sie die Kraft für ihr Handeln und für ihren unbegrenzten roten Terror.
Und die Rechtfertigung, alle anderen Parteien und Richtungen zu liquidieren. Dann auch die Abweichler in den eigenen Reihen von der richtigen Linie: (in den Moskauer Prozessen 1938 die gesamte alte Garde der Revolution, bis auf Kollontai).

Wie heute die Dschihadisten sich als Vollstrecker eines Glaubens sehen, einen Gottesstaat zu errichten, so sahen sich die Bolschewiken als Vollstrecker eines Glaubens, daß nach dem Feudalismus und Kapitalismus jetzt das kommunistische Reich anbräche.

Von den Apologeten des autoritären Kommunismus heute wird angeführt: Aber die Bolschewiken konnten doch nicht anders handeln als sie gehandelt haben. Die waren doch nicht doof und sie wollten doch das Beste. Aber die Bedingungen waren damals schlimm:
Der Friede von Brest-Litowsk mit seinen Verlusten an Boden und Bodenschätzen
Krieg gegen die Weißen und die westlichen Interventionsarmeen,
Zerstörungen des Krieges,
Hungersnot, Flucht aufs Land,
Widerstand der Bauern (80 Prozent des Volkes).

Damit wird eine Haltung eingenommen, die auch heute von den Neo-Liberalen Führungen eingenommen wird: Blair, Schröder, Merkel:
Wir haben keine Alternative! Für sie gilt das von Thatcher postulierte TINA-Prinzip (there is no alternative).

In der jungen ,,Sowjet"-Union war es so, daß die sozialistischen, kommunistischen, anarchistischen Kräfte, die die neue Gesellschaft mit hätten aufbauen können, mit denen man sich allerdings hätte diskursiv auseinandersetzen müssen, um den Weg zur sozialistischen Gesellschaft zu finden – daß diese Kräfte liquidiert wurden. Gleich nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki wurden durch Partei und Staat alle anderen sozialistischen Parteien und Strömungen beseitigt: Rechte und linke Sozialrevolutionäre, Menschewiki, Anarchisten. 1938 dann bei den Moskauer Prozessen die gesamte alte Garde der Revolution.

Zum Gegenargument zu ,,Sie mußten so handeln, sie hatten keine Alternative".
Es gibt bei allen Problemen, vor die eine Gesellschaft gestellt ist, unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten, das wesentliche Moment ist die Grundeinstellung der Akteure:

a) ein aktuelles Beispiel, die Migration ab 2015 betreffend:
Badiou, ein französischer Philosoph, sagt, daß die Vorstellungen in jeder Situation Teil der Realität und davon nicht zu trennen seien. Es macht viel aus, ob man glaubt, ein Nomadenproletariat oder eine Ausländerinvasion vor sich zu haben. Je nachdem, was für eine Vorstellung der Mensch oder der Politiker im Kopf hat, hat das Auswirkungen auf sein Handeln!

b) ein historisch-pädagogisches Beispiel:
Die schwarze Pädagogik, nach der in Schulen und Heimen bis in die 70er Jahre erzogen wurde. (Alice Miller und Katharina Rutschky)
Nach der Methode der schwarzen Pädagogik mußte der Wille des Kindes gebrochen werden, um es zu einem vollwertigen Objekt der Gesellschaft zu machen.
(Nach der Logik der Apologeten des autoritären Kommunismus: Sie konnten nicht anders, sie hatten keine Alternative! Es ist richtig, daß es keine keine Alternative zur schwarzen Pädagogik gab. Nämlich: Es gab keine Alternative in ihren Köpfen.)

Was hat das alles mit heute zu tun?
Die Maxime von unserem Jour Fixe ist, seit unserem Entstehen 2005, ,,Die Unterstützung eigenständiger Betriebskämpfe". In dieser Praxis haben wir seitdem Erfahrungen gesammelt. Erfahrungen nicht nur mit den BetriebskollegInnen sondern auch mit den Gewerkschaftsapparaten und mit politischen Gruppen, die sich ebenfalls in den Betriebskämpfen engagierten. Auf die Gewerkschaften will ich an dieser Stelle nicht eingehen, aber auf die politischen Parteien und Gruppen. Wir haben festgestellt, daß ihr Verhalten förderlich ist, oder störend oder zerstörerisch.
Förderlich hat sich zB eine K-Gruppe in Bremen verhalten nach der Entlassung von 1100 KollegInnen beim GHB in Bremen. Und auch beim betrieblichen Widerstand bei Daimler in Bremen.

Ansonsten waren unsere Erfahrungen, daß die Aktivitäten von autoritären Gruppen immer störend oder zerstörerisch waren. Der Grund: Sie haben die Vorstellung im Kopf, daß ihnen die Führung im Kampf zusteht. Danach handeln sie gegenüber den BetriebskollegInnen und den GenossInnen der anderen Gruppen. Es gibt kein Verhältnis zu den betrieblich Kämpfenden in der Weise: Wir sind auf gleicher Augenhöhe, wir sind nur Berater und Unterstützer. Sondern: Wir wissen es besser, uns gebührt die Führung!

Das Buch von Rainer Thomann und Anita Friedetzky schildert eine Ur-Szene der Arbeiterbewegung: Die ArbeiterInnen haben in der Februar-Revolution große Macht (Doppelherrschaft) in den Betrieben erobert, die sich mittels Betriebskomitees manifestiert. Sie haben begonnen, sich städteweit und landesweit zu organisieren. Diese Selbstermächtigung der Arbeiterklasse und demokratische Verhältnisse in den Betrieben widersprachen den Vorstellungen der Führung der Bolschewiki und mußte deshalb beseitigt werden, damit die Betriebe in ihrem Sinne effektiv, dh nach militärischen und kapitalistischen Prinzipien funktionierten. Die Instrumente zur in ihren Köpfen alternativlosen Entmachtung hatten sie: Sie hatten die Staatsmacht: Partei, Polizei, Justiz, Presse, Armee hinter sich.

Es gab unter uns eine Diskussion, ob die Fabrikkomitees entmachtet wurden oder sich selbst entmachtet haben. Meine Position ist, daß die Umstände nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki in der Oktoberrevolution für die Entmachtung günstig waren:
a) von den ArbeiterInnen, die mit ihren Fabrikkomitees nach der Februarrevolution einen eigenständigen Kraftpol darstellten, gingen viele aus Gründen der Hungersnot aufs Land zurück, in Petrograd und Moskau hatten 50-60 Prozent des Proletariats die Stadt verlassen.
b) Von den restlichen wurde viele Arbeiter, gerade die Bewußtesten, für die Armee und den Verwaltungsapparat gebraucht. Daher gab es wenig Widerstand bei der Eingliederung und Unterordnung der Fabrikkomitees in die Gewerkschaften, die inzwischen nicht mehr von Menschewiken und Sozialrevolutionären beherrscht wurden sondern von staatstreuen Bolschewiken.

Rainer bringt in seinem Buch auf Seite 359 ein anschauliches Beispiel:
Die meisten betrieblichen Aktivist_innen, die den Bolschewiki nahestanden oder sogar Parteimitglieder waren, vertrauten der neuen Regierung. Charakteristisch dafür ist die Aussage eines (bolschewistischen?) Sprechers des Zentralrates der Fabrikkomitees anlässlich der Konferenz im Februar 1918, welche die Eingliederung in die Gewerkschaften mit überwältigender Mehrheit guthiess:
,,Wenn wir von Anfang an eine Einstellung des Misstrauens an den Tag legen, werden diese Organe [Oberster Volkswirtschaftsrat] kaum ordentlich funktionieren können. (...) Nur ein Anarchist, der im Allgemeinen jeder Führung misstraut, könnte eine solche Einschränkung vorschlagen. Aber wir, das Proletariat, (...) bauen eine Führung nach dem Prinzip der vollendeten Demokratie. (...) Wenn diese Organe sich wirklich von den Massen abwenden, werden wir selbstverständlich eine solche Einschränkung einführen. In der Tat, wir würden diese Organe stürzen und vielleicht eine neue Revolution machen müssen. Aber bisher meinen wir, dass der Rat der Volkskommissare unser Rat ist und dass die Institutionen, die er einrichtet, mit uns übereinstimmen." (Arbeitermacht Russland, S. 359)

Nun, dieser klassenbewußte und stolze Genosse hatte keine Gelegenheit mehr ,,diese Organe zu stürzen" nachdem er eingesehen hatte, daß das Proletariat sich keine vollendete Demokratie aufbauen konnte. Als die Kronstädter Matrosen eine neue Revolution (sie nannten es die dritte Revolution) machen wollten, weil sie auf den Prinzipien der Revolution beharrten, wurden sie abgeschossen wie die Rebhühner (wie Trotzki es nannte).
Es werden unglaubliche Freuden-Szenen geschildert, nachdem Bauern, Arbeiter und Soldaten in der Februarrevolution die Zarenherrschaft besiegt und sich den Traum von Generationen erfüllt hatten. Wie selbstverständlich nahmen sie sich dann die Arbeitermacht an ihrem Ort, den Fabriken. Und diese Macht sollen sie quasi freiwillig wieder aus den Händen gegeben haben? Das wäre eine Darstellung der Geschichte, als wäre die Arbeiterklasse nach dem epochalen Sieg gegen den Zarismus schlapp, verwirrt und feige gewesen.

Es standen sich zwei Ideen gegenüber: Emanzipation und Selbstermächtigung mittels libertärem Kommunismus und autokratisch-autoritärer Kommunismus.
Die Bolschewiken mußten diese Arbeitermacht beseitigen! Um jeden Preis.
a)durch die Niederschlagung der Kronstädter Revolution.
b)die Niederschlagung der Machno-Bewegung.
c)die Beseitigung der Arbeiter-Opposition mit Kollontai und Schlappnikov an der Spitze.
d)den Krieg gegen die Klasse der Bauern, die 80 Prozent des Volkes ausmachten.

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