»Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken«

Begonnen von Nao, 17:03:10 Sa. 19.Mai 2018

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Nao

ZitatDer Übersetzer Ralf Ruckus von Zhang Lus Buch »Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken« gibt einen analytischen Einblick in die neusten Entwicklungen der Automobilindustrie und fordert Solidarität.

Man möge meinen, dies sei ein abseitiges Spartenthema, doch Ruckus weiß dem zu widersprechen, handelt es sich bei China immerhin um das Zentrum der globalen Autoindustrie, in dem VW und General Motors mehr produzieren als in ihren Heimatstaaten. Den Ursprung dieses Wirtschaftszweiges, der in den 1980ern durch ausländische Investitionen – VW ganz vorn dabei – einen Aufschwung erfuhr, verortet Zhang Lu in der maoistischen Zeit. Seit über zehn Jahren, so Ruckus, sei China der größte Produzent und Markt für Autos weltweit. Das Buch sei aber nicht nur eine historische Abhandlung über die Entstehungsdynamiken der chinesischen Wirtschaft, sondern konzentriere sich vorrangig auf die Arbeiterinnen und Arbeiter, ihre Arbeitsbedingungen und -kämpfe in den Fabriken. Ihre Tätigkeiten beschreibt Ruckus als monoton, repetitiv und vor allem davon gekennzeichnet, dass das Arbeitstempo stetig angehoben werde. Dies führe dazu, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fabriken im Durchschnitt zwischen 20 und 30 Jahren alt seien, da in einem höheren Alter der Mensch mit dem Fließband nicht mehr mithalten könne.

Ruckus zeichnet in der Folge eine Spaltung in der Belegschaft nach. So gebe es einerseits Beschäftigte mit befristeten Arbeitsverträgen, die das Unternehmen direkt anstelle. Ihre Löhne seien in der Relation relativ hoch: umgerechnet 600 bis 800 Euro im Monat. Auf der anderen Seite gebe es die Leiharbeiter, die aus Landarbeitern, Jugendlichen aus den Städten und Migrantinnen und Migranten rekrutiert würden, denen die reguläre Sozialhilfe des Staates verwehrt bleibe. Dazu zählt die Autorin Zhang Lu auch Praktikantinnen und Praktikanten, die Berufsschulen mittels des chinesischen Staates an die Fabriken sozusagen ausliehen. Ihr Gehalt: etwa 50 Prozent dessen, was Direktbeschäftigte erhalten, bei teils gleicher, teils unangenehmerer Arbeit. Ralf Ruckus erklärt, dass sich unter diesen Umständen in den letzten Jahren vermehrte Streikbewegungen breitgemacht hätten – zu Recht, laste das sogenannte Wirtschaftswachstum Chinas auf den Schultern vor allem dieser Fabrikarbeiter. Die Streiks und Demonstrationen seien aber vornehmlich von Inhaftierungen und direkten staatlichen Interventionen gezeichnet, was die kämpferischen Arbeiter mehrfach dazu veranlasse, bei ausländischen Gewerkschaften Unterstützung zu suchen, auch in Deutschland. Die Suche nach Solidarität in internationalen Kreisen entpuppte sich jedoch als Fehlspekulation, gab es von der hiesigen IG Metall und dem VW-Betriebsrat kaum eine Reaktion. Den Kampf, so Ruckus, müssten die chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter anscheinend allein ausfechten.
http://www.leipziglauscht.de/wir-muessen-selbst-kaempfen/

Das Buch: Zhang Lu: Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken. Übersetzt und herausgegeben von Ralf Ruckus. Mandelbaum Verlag, Wien 2018, 436 Seiten, 20,00 Euro

Veranstaltungsinformationen
Der Herausgeber der gerade im Mandelbaum-Verlag (Wien) erschienenen deutschen Ausgabe, Ralf Ruckus, stellt das Buch vor und in den aktuellen Kontext chinesischer Politik.

Wann: Mo., 28.05.2018, 18.30 Uhr

Wo: taz Café

Rudi-Dutschke-Straße 23

10969 Berlin


Eintritt frei

Nao

Ein Interview mit dem Buchautor, in diesem Falle Übersetzer,  Ralf Ruckus.

Er ist nicht nur Kenner der Klassenauseinandersetzungen in China, sondern auch aktiv in der grenzüberschreitenden Organisierung von Beschäftigten im Logistikbereich in Europa. In dem Interview bei den Linken Buchtagen in Berlin beschreibt er auch das Verhältnis zwischen Linken und Arbeitskämpfen.

ZitatINTERVIEW: Linke Buchtage Berlin -
regulierte Freiheit, freier Streik ... Ralf Ruckus im Gespräch
(SB)


Gespräch am 2. Juni 2018 in Berlin-Kreuzberg

Ralf Ruckus schreibt, übersetzt und publiziert Texte zu sozialen Kämpfen, Genderverhältnissen und Migration in China und anderswo. Er gab unter anderem 2014 in der Reihe kritik & utopie des Mandelbaum Verlags "Streiks im Perlflussdelta" heraus, das er auch übersetzt hat. [1]

Ruckus gehört dem Kollektiv Gongchao an, dessen Mitglieder in Europa, den USA und in China leben. Gongchao steht im Chinesischen für Streik, Streikbewegung oder -welle, Arbeitermobilisierung oder -bewegung. Gongchao.org startete im September 2008 als Projekt zur Erforschung und Dokumentation von ArbeiterInnenkämpfen und sozialen Bewegungen in China aus der Perspektive von Klassenkampf, Migration und Gender. Die Webseite bietet eine Auswahl von analytischen Texten und ArbeiterInnenerzählungen in mehreren Sprachen. Neben dem Schreiben und Übersetzen von Artikeln und Büchern beteiligt sich gongchao.org an Untersuchungen und Interviewprojekten in China und organisiert Veranstaltungen und Diskussionen zu den ArbeiterInnenkämpfen in China und anderen Ländern. [2]

Im Rahmen der Linken Buchtage, die vom 1. bis 3. Juni 2018 im Berliner Mehringhof stattfanden, wurde das im Mandelbaum Verlag erschienene Buch "Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken" [3] von Zhang Lu, übersetzt und herausgegeben von Ralf Ruckus, vorgestellt, der den Workshop [4] leitete. Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Schattenblick (SB): Ralf, was hat dich dazu bewogen, die Arbeitskämpfe in China zu einem zentralen Thema deines politischen Engagements wie auch deiner Forschungsarbeit zu machen?

Ralf Ruckus (RR): Ich beschäftige mich schon seit Anfang der 80er Jahre mit Klassenkämpfen. In den 90er Jahren, als China zum sogenannten "Fließband der Welt" wurde, haben wir angefangen, diese Entwicklung genauer zu beobachten. Wir hatten damals keine Kontakte in China, niemand von uns sprach Chinesisch, und die westliche maoistische Linke, die sich bis in die 80er Jahre dafür interessiert hatte, war praktisch nicht mehr präsent.

Die Gruppe "Welt in Umwälzung" aus dem Wildcat-Zusammenhang befasste sich ab 1995, 1996 mit Kämpfen in Asien und betreibt seitdem eine Datenbank im Netz und berichtet über soziale Auseinandersetzungen. Das war ein erster Ansatzpunkt, der mich bewog, mehr in diese Richtung zu schauen. Dann kam hinzu, daß ich mit anderen aus dem Wildcat-Zusammenhang das Buch "Forces of Labor" von Beverly Silver übersetzte, die sich darin mit 150 Jahren Geschichte der Kämpfe gegen den Kapitalismus auseinandersetzt. In dem 2003 veröffentlichten Buch stellt sie die These auf, daß die nächste große Welle von Klassenkämpfen in China hervorbrechen werde. Schon im Zuge der ersten Diskussion darüber habe ich 2003 entschieden, daß wir das aus der Nähe untersuchen müssen.

Ich habe daraufhin begonnen, Chinesisch zu lernen, und dann viel Glück gehabt. Ich konnte in China rasch Kontakte zu Leuten aufbauen, die die sozialen Kämpfe systematisch untersuchen und zudem einen Blick von unten haben, was mir wichtig war. Ich habe angefangen zu übersetzen, Interviews zu machen und mit Leuten zu sprechen, die diese Geschichte von unten aufschreiben. Dann kam eins zum andern.

Mein Interesse galt den neuen Kernen und Hotspots der sozialen Auseinandersetzungen, verbunden mit der Herausforderung, in einem Bereich, in dem es damals weder Kontakte noch Einschätzungen gab, ein Fundament zu schaffen, das es ermöglicht, hier bei uns überhaupt wieder darüber zu diskutieren. Das wuchs sich alles rasch aus, weil wir gewissermaßen eine Lücke besetzt haben. Wir haben viele Übersetzungen gemacht und Veranstaltungsreisen unternommen, nicht nur in Deutschland. Manchmal ist das ziemlich schief, wenn ich beispielsweise in Südkorea etwas über China berichte, obwohl das sozusagen gleich um die Ecke liegt. Es gibt eben nur wenige Leute, die nicht akademisch, journalistisch oder bei einer NGO beschäftigt sind, sondern sich als Teil der Bewegung sehen und darin mitmischen.

SB: Daß sich bürgerliche Wissenschaft und Berichterstattung nicht ernsthaft für die Arbeitskämpfe in China interessiert, liegt nahe. Erstaunlich ist jedoch, daß offenbar auch innerhalb der Linken an dieser Stelle eine Art schwarzes Loch zu existieren scheint.

RR: Ich würde es anders ausdrücken und sagen, daß sich bürgerliche Kreise mitunter mehr für Arbeitskämpfe interessieren, weil das zentrale Brennpunkte sind, wenn es um ihr Interesse geht, die Herrschaft zu sichern.

Was die radikalere Linke betrifft, unterscheidet sie sich meiner Meinung nach in Deutschland und Nordwesteuropa doch recht deutlich von der in anderen Ländern oder Regionen. Die hiesige stark subkulturell geprägte radikale Linke ist mehr mit sich selber und bestimmten Debattenformen beschäftigt und trennt sich von sozialen Auseinandersetzungen und Klassensubjekten oft ab. Um es etwas polemisch auszudrücken: Die erleuchteten Linksradikalen, die sich korrekt ausdrücken können und wissen wo's langgeht, wollen andere belehren, obgleich sie selbst wenig Anbindung an die sozialen Kämpfe und ihre Subjekte haben. Diese Aufspaltung ist hier in Deutschland ja schon in den 70er Jahren entstanden.

Dabei ist es nicht unser Anliegen, uns ausschließlich mit Arbeitskämpfen zu befassen. Uns geht es um Brennpunkte oder Orte sozialer Kämpfe, an denen Veränderung, Umwälzung sichtbar wird, wo soziale Subjekte in Kämpfen zusammenfinden und sich weiterentwickeln.

In Polen, Italien oder China gibt es diese Abtrennung der linksradikalen Szene weniger. In Polen ist es meiner Erfahrung nach zum Beispiel gängiger, daß sich Leute etwa mehr für Veganismus interessieren und trotzdem mit zum Flugblattverteilen vor den Betrieb gehen. So etwas wird man hier bei uns wenig finden, und das liegt auch daran, daß viele polnische anarchistische VeganerInnen auch in Fabriken, Logistiklagern oder auf dem Feld malochen müssen.

SB: Erlebst du es so, daß die deutsche Altlinke mitunter den Anschluß an die realen Kämpfe verloren hat oder diese nur in bestimmten Sektoren der Arbeitswelt wahrnimmt?

RR: Die Leute der klassischen K-Gruppen kommen oftmals aus Bewegungen, die tatsächliche Kämpfe gesehen und geführt haben. Man muß den Linksradikalen in Deutschland von heute zugute halten, daß ihnen diese Erfahrung oft fehlt, weil hier die Klasse als kämpfende Macht in den letzten Jahren wenig sichtbar gewesen ist und man sich erst einmal in kleine Auseinandersetzungen hineinbegeben muß, um zu lernen, was da alles möglich ist. Das war Anfang der 70er Jahre und teilweise selbst in die 80er hinein anders, damals gab es noch Massenstreiks und -bewegungen. Daß große Teile der K-Gruppen-Linken eher verknöcherte Vorstellungen haben, daran hat sich allerdings nichts geändert.

Ansonsten sind heute die Probleme bei Jungen und Alten meist ähnlich. Häufig trifft man auf diese Abtrennung oder die Unkenntnis dessen, wie soziale Bewegungen von unten entstehen und wie man sich da einbringt, ohne von außen belehrend zu wirken, also wie man gemeinsam eine Klassenposition entwickeln kann.

SB: Die Berichte von den Auseinandersetzungen, die in China geführt werden, sind auch insofern beeindruckend, als sie unter sehr repressiven Bedingungen stattfinden und zugleich ein enormes Ausmaß an Kampfbereitschaft entwickeln.

RR: In Deutschland sind die Kämpfe stark reguliert, Arbeitsauseinandersetzungen unterliegen dem Tarifrecht und Gewerkschaftsrecht. Es gibt ein Streikrecht, das man eigentlich als Streikverhinderungsrecht bezeichnen müßte, weil es in diesem vorgegebenen Rahmen sehr schwierig ist, Streiks zu organisieren.

In China sind Streiks hingegen nicht reguliert, die Gewerkschaft gehört zum Staat oder Management, spielt also keine wichtige Rolle bei der Organisierung. So gesehen gibt es also zunächst einmal nicht die Hindernisse, die wir hierzulande überwinden müssen.

In China kommt es zu sozialen Kämpfen, wenn die Leute den Eindruck haben, sie können etwas durchsetzen. Teilweise ist ihre Verzweiflung und Wut einfach so groß, daß sie etwas unternehmen. Oftmals ist es eher das Kalkül, etwas erreichen zu können, frei nach der chinesischen Redensart, daß man große Unruhe stiften muß, wenn man große Ergebnisse anstrebt.

In China herrscht ein autoritäres Regime, und die Leute riskieren viel, wenn sie sich bewegen. Das heißt aber nicht, daß es keinerlei Spielräume gäbe. Vielleicht vergleichbar mit den damaligen Verhältnissen in der DDR lernen die Leute, Grenzen auszutesten, und die bleiben nicht immer gleich, sondern verändern sich. Im Unterschied zu Militärdiktaturen wie jenen in Lateinamerika in den 80er Jahren, wo massenweise Leute umgebracht wurden, gibt es diese Form der Repression in China heute nicht. Beim Streik kann man entlassen werden, geht aber meistens dafür nicht ins Gefängnis.

SB: Ich habe auf einem Kongreß über Megacities von chinesischen Wissenschaftlern gehört, in China existiere eine andere Kultur der Konfliktbewältigung, die eine Wiederherstellung der Harmonie anstrebe. Entspricht es deinen Erfahrungen, daß solche kulturspezifischen Momente eine Rolle bei sozialen Auseinandersetzungen spielen?

RR: Diese kulturalistischen Erklärungen halte ich für übertrieben und oftmals konstruiert. Die Idee der Harmonie entspringt dem Konfuzianismus, den die Kommunistische Partei früher als feudalistisch verteufelt hat, und es handelt sich in der Tat um reaktionäre Konzepte einer Herrschaftsideologie. Anfang der 2000er Jahre hat die Partei angefangen, Teile des Konfuzianismus in ihr eigenes Rechtfertigungskonzept zu übernehmen und von der harmonischen Gesellschaft zu sprechen.

Wenn ein Kader von Harmonie spricht, ist es im Prinzip eine Drohung an alle, die etwas tun und sich disharmonisch verhalten, daß der Staat mit Repression antworten wird. Es gibt von Staat und Partei organisierte Schulungsprogramme für alle lokalen und regionalen Staatsbediensteten, die sich mit sozialen Kämpfen auseinandersetzen müssen. Sie werden geschult, wie sie auf einen Streik oder eine Demonstration reagieren und deeskalieren müssen, ob sie nun mit einem Geldkoffer hingehen, um das zu entschärfen, oder ob sie die sogenannten "Rädelsführer" festnehmen.

Das chinesische Regime ist sich bewußt, welche Konflikte es gibt und daß es Techniken entwickeln muß, wie es diese durch Bestechung oder Repression in den Griff bekommt.

SB: Ungeachtet der rasant wachsenden Riesenstädte ist die Binnenmigration in China immer noch staatlicherseits vorgesehen, um den Nachschub an Arbeitskräften sicherzustellen. Verläuft diese Wanderbewegung kontrollierter als in anderen Weltregionen?

RR: In vielen Ländern gibt es wenig oder keine Arbeit mehr auf dem Land und in der Stadt auch nicht, nur bietet die Stadt mehr Möglichkeiten, trotzdem noch irgendwie zu überleben. Oder die Menschen werden vom Land vertrieben und haben aus diesem Grund gar keine andere Wahl, als in die Stadt zu gehen und dort in den Slums zu leben.

In China ist der Staat von Anfang an ein Bündnis mit dem chinesischen und ausländischen Kapital eingegangen, und die Leute wurden und werden für die Industrialisierungsprojekte in der Stadt gebraucht, ob in der Fabrik, auf dem Bau oder als Hausangestellte oder Prostituierte. Allerdings gilt in China weiterhin ein staatliches Migrationsregime, das die Wanderung kontrolliert und die Migranten und Migrantinnen in den Städten diskriminiert.

Dieser Prozeß der Wanderung ist immer noch nicht abgeschlossen. Der Staat will weitere 100 bis 150 Millionen Menschen zusätzlich vom Land in die Städte holen. Dann würde China die Grenze von zwei Dritteln urbaner Bevölkerung überschreiten, die als Gradmesser für eine entwickelte moderne Gesellschaft angesehen wird. Die Menschen werden in verschärftem Maße als Arbeitskräfte benötigt, weil aufgrund der Ein-Kind-Politik und weil Kinder zu haben sehr teuer geworden ist, die Bevölkerung kaum noch wächst und es eine deutliche Überalterung der Gesellschaft gibt, wie man sie ansonsten nur aus "entwickelten" Ländern kennt.

SB: Ist die Abschwächung des Wirtschaftswachstums absehbar, droht eine Blasenbildung im Bausektor, sind womöglich sogar Vorboten einer tiefgreifenden Krise auch in China zu erkennen?

RR: Die Blasenbildung gibt es schon länger und seit der Krise 2007/2008 in verstärktem Maße, weil China mit einem riesigen Konjunkturprogramm geantwortet hat, das weitgehend über staatliche Kredite finanziert wurde. Man kann also sagen, daß die Erholung der chinesischen Wirtschaft - und damit der Weltwirtschaft - weitgehend über Schulden finanziert worden ist.

Die am deutlichsten sichtbare Blase gibt es im Immobiliensektor. Nicht so sehr durch wachsendes Einkommen als vielmehr durch der Kauf und die anschließende Wertsteigerung von Immobilien ist die Mittelklasse zu ihrem Wohlstand gekommen. Das funktioniert seit einigen Jahren nicht mehr so gut, so daß es zu Verwerfungen kommt.

Die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums ist nicht verwunderlich. In den USA und in Westeuropa stellte sich nach einer anfänglichen Periode starken Wachstums ebenfalls eine allgemeine Abschwächung ein. Ein vergleichbarer Prozeß ist gegenwärtig in China zu beobachten. Die Ankündigungen der Regierung und die Schätzungen des IWF gehen von 5 bis 6 Prozent Wachstum für 2020 aus.

Grundsätzlich hat niemand den rasanten Aufstieg Chinas vorhergesehen, der sich in beispiellos kurzer Zeit vollzog. Südkorea oder Taiwan hatten als sehr viel kleinere Länder ein ähnliches Tempo vorgelegt, aber daß ein Land der Größe Chinas einen derartigen Entwicklungsschub vollzieht, ist beispiellos.

Das hat den gesamten Weltkapitalismus verändert, wird ihn aber möglicherweise auch an seine Grenzen treiben. Die Mittelklasse in China wird auf 100 bis 150 Millionen Menschen geschätzt. Das System könnte eine ökonomische Grenze erreichen, wenn ein noch größerer Teil der Bevölkerung am Reichtum beteiligt wird. Auch die sozialen Konflikte und Kämpfe drohen weiter zu eskalieren. Zugleich führt der ungeheure Verbrauch von Ressourcen und der wachsende Konsum und Müll zu immensen Umweltproblemen, die schon für sich genommen - und sicher im Verbund mit den anderen Problemen - das gesamte System gefährden könnten.

SB: Trifft die Einschätzung zu, daß die chinesische Regierung die Umweltproblematik inzwischen umfänglich realisiert und sehr schnell darangeht, notwendige Maßnahmen einzuleiten?

RR: Im Unterschied zur Entwicklung des britischen, amerikanischen oder deutschen Kapitalismus sieht sich der chinesische mit einer bereits existierenden weltweiten ökologischen Krise konfrontiert.

Die Regierung reagiert nicht zuletzt deswegen zügig, weil die Mittelklasse in den Städten dies verlangt und der soziale Druck wächst. Die Leute fordern saubere Luft, gesundes Essen und eine intakte Umwelt. Ob die Reaktion des Staates angesichts der katastrophalen Situation im Land tatsächlich zu Ergebnissen führen wird, läßt sich schwer einschätzen.

SB: Was sind deine Pläne für die nächsten Projekte?

RR: Was Bücher angeht, gibt es zwei konkrete Projekte. Ich übersetze aus dem Englischen ein Buch von Wu Yiching, einem chinesischen Sozialforscher, der sich viele Jahre in chinesische Archive begab, um die Kulturrevolution zu verstehen. Eine Besprechung des Buches ist auf der Webseite Gongchao.org zu finden.

Wu beschreibt sehr genau die Revolution in der Revolution, als sich eine Bewegung von unten gegen die Klassenherrschaft im maoistischen China erhob. Das ist spannend, weil wir daraus lernen können - sowohl über den Charakter des Sozialismus als auch über mögliche neue Versuche, eine andere Gesellschaft aufzubauen. Sozialistische und sogar stalinistische Konzepte erleben ja heute eine gewisse Renaissance, was wahrscheinlich auch damit zusammenhängt, daß sich viele nicht mehr an den Realsozialismus erinnern können oder wollen. Wir müssen weiter darüber diskutieren und nicht zuletzt auch die Kämpfe im Sozialismus unter die Lupe nehmen. Das Buch von Wu wird im nächsten Frühjahr auf Deutsch erscheinen, wahrscheinlich unter dem Titel "Die andere Kulturrevolution. Der chinesische Sozialismus in der Krise".

Das zweite Projekt ist ein Buch über die Linke in China, das in etwa zwei Jahren herauskommen wird. Es geht auf einen Vorschlag des Mandelbaum Verlags zurück, der eine Reihe über die Linke in verschiedenen Weltregionen konzipiert hat.

Ich will schauen, welche verschiedenen Strömungen es in den letzten 50 Jahren innerhalb der Linken in China gegeben hat. Das ist interessant, weil die Kommunistische Partei dort nach wie vor herrscht und sich die Frage stellt, was überhaupt noch links in China ist. Manch Überraschendes kommt da zutage, weil es parallel zu den Wellen von Kämpfen immer auch Strömungen gegeben hat, die eine Kritik an den jeweils herrschenden sozialisti- schen Klassenverhältnissen formulierten, auch wenn sie sich meistens weiterhin auf den Maoismus in irgendeiner Lesart beriefen. Von der Veröffentlichung dieses Buches in Deutschland erhoffe ich mir sowohl eine Diskussion über die Linke in China als auch über die Linke hier.

SB: Ralf, vielen Dank für dieses Gespräch.

Fußnoten:

[1] Ren Hao: Streiks im Perlflussdelta. ArbeiterInnenwiderstand in Chinas Weltmarktfabriken. Herausgegeben und übersetzt aus dem Englischen von Ralf Ruckus, Mandelbaum Verlag, Wien 2014, 200 Seiten, 16,90 Euro, ISBN-13: 9783854766339

[2] http://www.gongchao.org

[3] Zhang Lu: Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken, herausgegeben und übersetzt von Ralf Ruckus, Mandelbaum Verlag, Wien 2018, 436 Seiten, 20.00 Euro, ISBN: 978385476-673-5

[4] BERICHT/077: Linke Buchtage Berlin - Arbeitskämpfe bodenlos ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0077.html
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0098.html


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