Berlin: Zahl der Kinder in Not steigt

Begonnen von Kater, 17:28:14 Di. 13.September 2005

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Kater

ZitatAllein in Berlin
Die Zahl der Kinder in Not steigt. Trotzdem kommen immer weniger in Krisenhäusern unter - denn die Stadt spart
Birgit Walter

BERLIN, im September. Mariella hat etwas Schneewittchenhaftes - bleiche Haut, tiefschwarze Haare und schöne dunkle Augen. Auch einige Tropfen hellroten Blutes auf dem Fußboden des Flurs sind von ihr, von ihrer jüngsten Selbstverletzung. Die 15-Jährige fügte sich an diesem Abend so tiefe Schnitte an den ohnehin schon vernarbten Armen zu, dass eine Betreuerin mit ihr zum Arzt fahren musste, statt die Wunden einfach nur zu verbinden. Jetzt scheint Mariella* stabil, doch ihr Blick hat schon diese Leere, die nach der Verzweiflung kommt.

Es ist eine warme, mondhelle Sommernacht, und in der Krisenunterkunft in der Schönhauser Allee bleibt es ruhig. In diesem Haus werden Jugendliche bis achtzehn Jahre aufgenommen, die nicht wissen, wo sie hin sollen. Die von zu Hause abgehauen sind, die missbraucht, verprügelt, bedroht wurden oder sonst wie gepeinigt sind. Sie finden den Weg hierher selbst oder das Jugendamt weist sie ein; der Begriff dafür heißt Inobhutnahme. Wer hier ankommt, befindet sich meist in einer kritischen Verfassung, er braucht Zuwendung. Bis zu neun Mädchen und Jungen können gleichzeitig in diesem Haus bleiben, für sie steht Tag und Nacht ein Betreuer bereit. In letzter Zeit ist wenig Betrieb. Heute sind neben Mariella nur Ronny* und Lucas* da.

Das klingt doch wie eine gute Nachricht, vielleicht vertragen sich Kinder und Eltern gerade besser im Berliner Großbezirk Pankow als noch vor einem halben Jahr. Da nämlich war das Pfefferwerk-Krisenhaus voll bis unters Dach, auch das "casablanca", für Kinder bis dreizehn. Im März mussten zusätzliche Betten aufgestellt werden. Doch der Frieden trügt.

Die Zahl der bekannt gewordenen Misshandlungen von Kindern in Berlin verdoppelte sich in den letzten zehn Jahren. Seriöse empirische Untersuchungen gehen davon aus, dass in Deutschland zehn Prozent der Eltern Gewalt gegen ihre Kinder ausüben. Und trotzdem bleiben plötzlich die Einrichtungen der Notdienste halb leer?

Der Sozialarbeiter Peter Neumann erklärt den Leerstand in seinem Krisenhaus an der Schönhauser Allee so: "Die Ämter bringen Jugendliche in Not nicht mehr unter, wie es ihre Pflicht wäre. Sie brechen ihre eigenen Gesetze, weil sie die Kosten drücken müssen." Die Berliner Jugendämter haben unübersichtliche Aufgaben ausgelagert. Sie üben nur noch die Aufsicht aus und bezahlen soziale Dienstleister wie Neumann und das Krisenhaus dafür, dass sie zur Verfügung stehen, wenn Eltern plötzlich ausfallen.

Kostenabbau ist gewöhnlich ein schleichender Prozess, doch in diesem Fall hat er ein Datum. Es gibt eine Dienstanweisung vom 13. Mai 2005 in Pankow, wonach eine "akute Inobhutnahme" die Dauer von zwei Tagen nicht überschreiten soll. Heimeinweisungen seien "grundsätzlich zu vermeiden". Zwei Tage also bleibt ein misshandeltes Kind in einem Krisenhaus - und dann?

Ende der Neunziger Jahre hat man sich für solche "Krisenbewältigung" drei bis sechs Monate Zeit genommen. 2004 waren noch 35 bis 60 Tage Verweildauer üblich. Schließlich hat Berlin penible Vorschriften für Inobhutnahmen festgelegt: Das Kind wird untergebracht und versorgt, Pädagogen ergründen die Ursachen für die Flucht, stellen Kontakt zu Familie und Lehrern her, bevor sie schließlich eine Lösung vorschlagen: ob es in die Familie zurück kann, ob eine Wohngemeinschaft in Frage kommt oder eine Heimeinweisung unvermeidlich wird. Diese Vorschriften gelten noch immer, jetzt müssten sie in zwei Tagen erfüllt werden. Die Auslastung der Krisenhäuser ist nach dem 13. Mai 2005 von 80 bis 90 Prozent auf 30 bis 40 Prozent gesunken.

weiter:

http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/seite_3/482422.html

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