zum Verhältnis von Medizin & Ökonomie

Begonnen von Hajo, 20:23:35 So. 16.Mai 2004

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Hajo

Quelle: “quer“ Heft 3 + 4  2003

In diesem Geschäft ist nichts heilig

Interview mit Winfried Beck* zum Verhältnis von Medizin & Ökonomie,

Teil l + II

An Hysterie grenzt die Art und Weise, wie die Debatte um die Gesundheitsreform im Moment in der Öffentlichkeit geführt wird. Permanent „explodieren die Kosten", „bricht das System zusammen", ist „die medizinische Versorgung der Bevölkerung gefährdet", wenn nicht bald etwas passiert... Wieder ist eine Expertenkommission eingerichtet worden, die unter Anleitung von Herrn RÜRUP nun jede Woche eine neue Sau durchs Dorf treibt, um zu testen, was sich die Bevölkerung gefallen lassen würde: Sei es die Ausgliederung der Zahnbehandlung aus der gesetzlichen Krankenkasse oder die Abschaffung der Familienmitversicherung, sei es die Aufspaltung des Leistungskatalogs oder die Ausgliederung privater Unfälle aus der Gesetzliche^) Krankenversicherung (GKV)... Um die Lohnnebenkosten nicht weiter durch steigende Beitragssätze zu belasten, so das vorherrschende Argument, wird es zu einer Individualisierung des Kostenrisikos bei Krankheit kommen. Was die wirklichen Probleme und ihre Ursachen sind, wird dabei überhaupt nicht diskutiert. In der Auseinandersetzung finden wir nur den Austausch von Mythen, propagandistischen Verkürzungen und vermeintlichen Evidenzen. Um in dieser maximal unterkomplex geführten öffentlichen Debatte ein Licht der Aufklärung anzuzünden, haben wir WINFRIED BECK, den Vorsitzenden des VEREINS DEMOKRATISCHER ÄRZTINNEN UND ÄRZTE (VDÄÄ)
nach den Problemen im Gesundheitswesen gefragt. Da sich die Reform-Vorschläge von Woche zu Woche ändern und man der Aktualität sowieso nur hinterher hecheln könnte, haben wir dabei über die grundlegenden Probleme, Fragen und Perspektiven gesprochen, ohne auf einzelne Vorschläge einzugehen.

Mit WINFRIED BECK sprachen NADJA RAKOWITZ und ROLF SCHMUCKER für den EXPRESS.

     EXPRESS: Was sind Deiner Einschätzung nach die zentralen Probleme des deutschen Gesundheitswesens ?


Winfried Beck: Da muss man zwei Seiten unterscheiden: Wie ist zum einen die finanzielle Ausstattung des Gesundheitswesens, und wie ist zum anderen das Gesundheitswesen strukturell aufgebaut, wo sind die strukturellen Mängel?

Fangen wir mit dem Letzteren an. Unser Gesundheitswesen ist nicht systematisch geplant oder gestaltet worden, sondern Ergebnis von Lobbyistenarbeit -insbesondere von der Ärzteschaft. Wir haben Eigenarten in Deutschland: Wir haben erstens eine tiefe Kluft zwischen stationärer und ambulanter Versorgung, die fast unüberwindlich ist. Es gibt deswegen viele Doppeluntersuchungen. Das liegt daran, dass es die niedergelassenen Ärzte über ihre KASSENÄRZTLICHE VEREINIGUNG (KV) geschafft haben, sozusagen das wichtigere Element in der Gesundheitsversorgung darzustellen - im Gegensatz zu den stationären Ärzten. Sie dominieren das Ganze und sehen in der stationären Versorgung eine Konkurrenz. Das heißt, wenn die Kluft weg wäre, wenn die Krankenhäuser sich öffnen würden für ambulante Versorgung, gäbe es weniger zu tun für die niedergelassenen Ärzte. Das ist ja im Übrigen jetzt auch ein Vorschlag von Frau SCHMIDT - und sofort kommt der Protest von Fachärzten und Allgemeinärzten. Diese Kluft ist typisch interessegesteuert durch die Ärzteschaft und existiert in anderen Ländern nicht.

Zweitens haben wir im niedergelassenen Bereich, also in der ambulanten Medizin, Fachärzte. Das gibt es nur ganz selten auf der Welt. Sonst sind die alle an den Krankenhäusern. Dort sagt man: Die ambulante Medizin wird von gut ausgebildeten Allgemeinmedizinern gemacht, die dann, wenn es kompliziert wird, an Fachärzte in Krankenhäusern überweisen, weil sie ja auch eine Riesenausstattung brauchen. Das ist in England so, in Holland etc.

Auch das ist in Deutschland wieder interessegesteuert durch die Fachärzte. Sie sagen: Wir haben eine Praxis als „Einzelkämpfer", Kleinunternehmer und können dort ordentlich verdienen - mehr als ein angestellter Arzt im Krankenhaus. Dadurch haben wir natürlich eine doppelte Vorhaltung von Facharztwissen: ambulant und stationär. Ein ziemlicher Luxus, das muss man einfach so sagen. Auf der anderen Seite ist das natürlich angenehm für die Patienten. Bei Umfragen kommt immer wieder heraus, dass es als sehr angenehm empfunden wird, einfach zum Augen- und zum Ohrenarzt etc. gehen zu können. Das ist ja auch nachvollziehbar. Die Frage ist aber: MUSS das sein? Gibt es da nicht auch Nachteile? Nämlich dass man z.B. - weil man keine Ahnung hat -zum Falschen geht, der dann erst mal alles macht. Nehmen wir das Beispiel Rückenschmerzen: Ein Patient mit Rückenschmerzen geht zunächst zum Orthopäden - ich bin ja Orthopäde. Der macht alles und stellt am Schluss fest: Ich finde nichts. Dann schickt er ihn zum Urologen. Der Urologe macht alles, findet nichts. Er schickt ihn zum Internisten, der macht auch alles, findet aber auch nichts. Was ist es nachher? Eine psycho-somatische Krankheit. Wäre der Patient vielleicht gleich zu einem hochqualifizierten und - das ist natürlich die Voraussetzung - gut ausgebildeten Allgemeinmediziner gegangen, hätte dieser das erkannt. Er hätte Kosten gespart und dem Menschen vor allen Dingen geholfen.


     Ist es tatsächlich so, dass die meisten Leute direkt den Facharzt aufsuchen, oder ist es nicht so, dass viele zuerst zu. ihrem Hausarzt gehen?


Die Mehrheit geht direkt zum Facharzt. Das ist aber abhängig vom Bildungsstand und vom Einkommensniveau. Je höher das Einkommen und je höher die Bildung, umso mehr wird der Facharzt aufgesucht. Alles, was wir hier reden, gilt natürlich nur für GKV-Versicherte.

Zurück zu den Eigenarten. Auch im Krankenhaus haben wir Strukturen, die es woanders nicht gibt: die Hierarchie von Chefarzt, Oberarzt, Assistenzarzt. MUSS es die geben? Wer hat daran Interesse gehabt? Auch wieder die leitenden Ärzte. Nur die dürfen privat liquidieren, private Sprechstunde haben, all diese ganzen Geschichten. Diese Hierarchie ist natürlich qualitätsfeindlich - wie jede Hierarchie. Also hier hat es die Ärzteschaft hingekriegt, ein Gesundheitswesen nach ihrem Gusto zu gestalten. Und das ist etwa seit der Gründung des HARTMANNBUNDES so, einer Kampforganisation der Arzte gegen die Krankenkassen, also etwa seit 1900. Da haben die Ärzte gesagt: Wir können nur gewinnen, indem wir uns als Monopol verstehen gegenüber den zersplitterten Krankenkassen - vorher war es umgekehrt -, also brauchen wir einen Verband und treten geschlossen auf. Der Hauptknaller kam dann natürlich in der Nazizeit, als ihnen die reichsweite Kassenärztliche Vereinigung gegeben wurde - ein großer Wunsch der Ärzteschaft. Sie wurde zwar kurz nach dem Krieg mal aufgelöst, aber de facto ist dieses Monopol seit dieser Zeit vorhanden. Erst jetzt beginnt es zu bröckeln. Die Bedingungen haben sich so geändert, dass der Streit untereinander ausgebrochen ist. Aber darauf kommen wir später ...

Wenn man also das Gesundheitswesen gestalten will, muss man logischerweise diejenigen, die es bisher gestaltet haben, schwächen. Man muss also ran an den Speck! Es geht nicht anders. Und in der Situation befinden wir uns jetzt.

Es gehört noch zur strukturellen Seite des Gesundheitssystems dazu, dass auf der anderen Seite, nämlich der Seite der Kostenträger, Zersplitterung herrschte und auch immer noch herrscht, nicht ein Monopol. Es gibt immer noch über 300 Krankenkassen - früher waren es mal mehrere tausend -, deren Verbände getrennt voneinander mit der Ärzteschaft verhandeln. Das ist also eine Schwächung auf dieser Seite. Ein weiteres strukturelles Problem ist, dass die Krankenkassen ihre Mitglieder schon lange nicht mehr im ursprünglichen „basisdemokratischen" Sinn repräsentieren. Es gibt ja keine richtigen Wahlen. Das ist im Grunde mehr eine Verwaltung, eine Verwaltung von Geld mit dem Interesse, nicht mehr auszugeben, als rein gekommen ist. Ursprünglich waren die Krankenkassen etwas anderes. Das waren die Vertretungen ihrer Mitglieder, eine Art Selbsthilfegruppen, um sich im Gesundheitswesen zurecht zu finden. Das ist inzwischen auch ein struktureller Mangel.


     Können wir in diesem Zusammenhang auf den Wettbewerb eingehen, der mittlerweile unter den Krankenkassen eingeführt wurde? Das hat da ja inzwischen auch noch mal Veränderungen gebracht



Der Wettbewerb hat bislang hauptsächlich um die Prämien stattgefunden und nur bedingt um die Leistungen. Und solange es nur um Prämien geht, ist die Kasse am besten, die am billigsten ist. Einen anderen Wettbewerb gibt es nicht. Wie kann eine Kasse billig sein? Indem sie nur gesunde Mitglieder hat, dann muss sie nichts ausgeben. Also wirbt sie um Gesunde und verdrängt möglichst Kranke: Oder, wie jetzt die Techniker-Krankenkasse (TKK) sagt: Die Gesunden sparen Geld, weil sie nicht zum Arzt gehen; damit kann man die Prämien senken. Es ist allerdings noch die Frage, ob das län-gerfristig geht. Das wäre natürlich alles ganz anders, wenn es eine Konkurrenz um Leistung gäbe. Dann wird es kriminell. Das muss verhindert werden, weil das ruinös wird.


     Wir hatten vorhin als zweites großes Problem die Einnahmeseite der GKV gesehen ...


Ja. Es ist so, dass die Finanzierung gekoppelt ist an die Lohnsummenentwicklung, also an die Löhne und Einkommen der abhängig Beschäftigten. Das ist so lange in Ordnung, so lange das einigermaßen stabil ist oder so lange diese Methode tatsächlich parallel läuft zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, zur allgemeinen ökonomischen Entwicklung einer Gesellschaft. Das bricht dann zusammen, wenn die Lohnsummen relativ sinken im Vergleich zu den Einnahmen durch Kapital, Vermögen usw. Und diese Situation haben wir jetzt schon seit einer ganzen Weile.

Hauptgrund dafür ist die Arbeitslosigkeit, aber nicht nur. Auch die gestiegene Produktivität ist ein Grund, denn es wird ja nicht nach Produktivität in die Krankenkasse eingezahlt, sondern nach Lohn. Also ist die sinkende Lohnquote der entscheidende Punkt. Und wenn das so ist, bricht auf einmal das Geld weg, obwohl die Kosten nicht sinken. Sie steigen natürlich tendenziell - wegen des medizinischen Fortschritts, wegen der demographischen Entwicklung, weil die Menschen länger leben. Letzteres wirkt aber auf die Kassen nicht so stark, wie häufig vermutet wird. Und die Kosten steigen wegen des Anspruchsdenkens - aber nicht der Patienten, sondern der Anbieter. Also weil immer mehr gemacht wird, als eigentlich nötig ist. Das ist wiederum auch ein strukturelles Problem, das mit der Art der Honorierung zusammenhängt.

Mit der Einzelleistungsvergütung bei den Niedergelassenen - also für jeden Handgriff Geld (früher war es noch schlimmer, heute gibt es ein paar Komplexgebühren) - kann man natürlich mehr Geld verdienen, weil man es einfach selbst steuern kann. Ich kann viel machen; ob der Patient oder die Patientin das braucht, ist eine andere Frage. Die Tatsache, dass die niedergelassenen Ärzte Privatunternehmer sind, führt notwendigerweise zu einer Verbetriebswirtschaftlichung des Denkens - das ist ganz klar. Jeder niedergelassene Arzt hat Computerprogramme, die z.B. bei der Diagnose Rückenschmerz sagen, was er alles machen kann. Und wenn ich ein guter Unternehmer bin - ist gleich: schlechter Arzt -, dann mache ich das alles. Dann handle ich ökonomisch richtig, also betriebswirtschaftlich richtig, volkswirtschaftlich schädlich - und was den Patienten, den Menschen angeht, katastrophal. Aber der materielle Anreiz zum Handeln ist genau so gelenkt. Deswegen sind die ökonomischen Verlierer die, die sich ärztlich verhalten oder in Gegenden ihre Praxis haben, wo der Beratungsbedarf hoch ist und Technik nicht so nachgefragt wird und - natürlich - wo zur Kompensation dessen wenig Privatpatienten sind.

Aber alles das ist nicht Zufall. Die Ärzteschaft hat es in der Hand gehabt, ob es so oder anders ist. Die Ärzte haben die Gebührenordnung gemacht, sie haben die Verhandlungen geführt.


     Nun steckst ja auch Du als kritischer, linker Arzt in diesen objektiven Zwängen. Auch Du muss t von etwas leben... Du hast diese Rolle des privaten Unternehmers erst mal nicht freiwillig gewählt, wenn Du niedergelassener Arzt werden wolltest.


Nein, die ambulante Versorgung kannst Du in Deutschland nur als privater Unternehmer machen - bis auf die Anstellung in Polikliniken, was derzeit aber nicht vergleichbar ist. Und es ist auch überhaupt keine Frage, dass ich im Laufe der 26 Jahre, in denen ich das gemacht habe, faule Kompromisse gemacht habe, dass mir irgendwann auch dieses Denken ein paar Sachen kaputt gemacht hat. Und es wäre viel schlimmer, wenn ich nicht die Chance gehabt hätte, zu reflektieren in politischen Gruppierungen usw. Wer das aber nicht hat, der wird deformiert mit der Zeit. Das ist überhaupt keine Frage.


     Eine andere wichtige Rolle - daraufhast Du ja schon oft aufmerksam gemacht -spielt die Pharmaindustrie. Du hast schon mehrfach beschrieben, wie Krankheiten, „ Volkskrankheiten", förmlich erfunden werden, z.B. Osteoporose. Ein britischer Pharmakonzern hat jetzt die sexuelle Funktionsstörung der Frau als Krankheit entdeckt und ein Medikament entwickelt dagegen, sozusagen Viagra für Frauen. Inwiefern beeinflusst hier die Pharmaindustrie auch das Verhalten der Ärzte?


Man muss vielleicht vorher noch zur finanziellen Seite etwas sagen. Eigentlich müssten die Ärzte interessiert sein an hohen Lohnabschlüssen; sie müssten - objektiv gesehen - daran interessiert sein, ja auch bei Streiks für höhere Löhne etc. mitmachen, sich vorne dran stellen und sagen: Jawohl, wir brauchen für die Metallarbeiter eine Lohnerhöhung, die saftig ist. Denn das ist eigentlich das Einkommen der Ärzte. Irrerweise ist es umgekehrt. Sie identifizieren sich eher mit der Pharmaindustrie oder überhaupt mit der Industrie, mit den Arbeitgebern, obwohl das objektiv falsch ist für sie.


     Die Ärzte sind eben selbst Unternehmer. Da scheint doch das Sein das Bewusstsein zu bestimmen...


Ja, aber das ist dann etwas Ideologisches, nichts objektiv Rationales. Es ist ein: Wohin-gehören-wollen. Das sind die so genannten Zwischenschichten, die auch bei revolutionären Umwälzungen immer hoch gefährdet sind. In der Nazizeit wurden sie Faschisten; das hätten sie ja nicht werden müssen. Es gab auch andere.

Bei uns haben sie sich - meine ich -ziemlich festgelegt in der Mehrheit. Das kommt unter anderem daher, dass die Industrie - und zwar die medizinische Geräte- und die Pharmaindustrie - sie von morgens bis abends und von der Wiege bis zur Bahre bearbeitet - ideologisch und ökonomisch. Das geht auf verschiedenen Schienen vor sich.

Zum einen schicken sie die Arzneimittelvertreter, die so genannten „Wissenschaftlichen Außendienstmitarbeiter", die eine Unmenge Geld kosten und die nichts anderes machen, als ein gutes Geschäftsklima erzeugen zwischen Arzt und Industrie. Da wird dann mit diesem vereinzelten isolierten Arzt gesprochen über Kollegen, über den Urlaub, eine nette Atmosphäre geschaffen. Das brauchen die auch, weil sie ja alle kurz vor dem Burnout stehen und mit niemand anderem reden als mit „Kundschaft" sozusagen. Und wenn dann mal so ein netter Pharmavertreter kommt, wird nebenbei erzählt, was es Neues gibt, und es werden ein paar Proben dagelassen. Das sind praktisch immer Medikamente, die es schon gibt oder die unnötig sind. Antibiotika oder andere hochwirksame Arzneimittel werden nicht dagelassen, weil sie zu teuer sind oder weil es sich nicht um Innovationen handelt. Das ist der eine Einfluss.

Der zweite ist: Sie machen „Fortbildungsveranstaltungen" - das ist ja bekannt -, in denen ebenfalls eine nette Atmosphäre hergestellt wird. Inzwischen wurde das ein bisschen eingeschränkt. Früher war es noch krimineller. Heute dürfen sie keine unmittelbare Verbindung mehr herstellen zwischen ihren Produkten und dem Vortrag. Aber es gibt da natürlich einen Stand und ein Büfett, und dann kann man Sachen mit nach Hause nehmen. Da gehen viele Ärzte hin. Zumindest gehen sie da mehr hin als zu nicht-gesponserten Veranstaltungen, die es ja auch gibt, z.B. von den Kammern.


     Kann man einschätzen, welchen Umfang diese Veranstaltungen von der Pharmaindustrie einnehmen ?


80 Prozent würde ich sagen. Die anderen sind auch teuer, denn die muss man selbst bezahlen. Das kommt dazu. Aber meiner Einschätzung nach ist der wesentlichste Einfluss der über die Fachpresse und zwar nicht über die Reklamen darin -das auch, das ist dann wie überall: Reklame wirkt. Klar -, sondern der Einfluss auf den redaktionellen Teil. Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass die Ärzte meinen, sich gut fortzubilden, wenn sie das lesen. Das suggeriert erstens, dass Medikamente unheimlich wichtig sind - und zwar viel wichtiger, als sie in Wirklichkeit sind. Es muss dort bei jeder Krankheit immer irgendein Medikament im Spiel sein, sonst stimmt da etwas nicht. Dazu kommt, dass die meiste Forschung über Arzneimittel und ihre Wirkungen stattfindet - und nicht über Ursachen von Krankheiten oder Prävention -, weil das gesponsert wird. Das ist das eine und das andere, das noch Gefährlichere ist, dass die Pharmaindustrie bereits in der Lage ist - ich denke noch nicht länger als zehn Jahre - sozusagen Krankheitsbilder selbst zu definieren. Ihr Interesse ist dabei natürlich, dass es Krankheiten gibt, die massenhaft auftreten und die medikamentös zu behandeln sind. Jetzt kann man sagen: Klar sollte man massenhaft auftretende Krankheiten behandeln, was soll man dagegen sagen? Problematisch wird es aber, wenn Krankheiten erfunden werden. Wenn kleine Störungen im Funktionieren des Organismus zur Krankheit gemacht werden, die man behandeln muss. Das berühmteste Beispiel sind die Wechseljahre und die Beschwerden mit den Hormonen: Jetzt hat eine große Studie gezeigt, dass die Frauen öfter an der Therapie gestorben sind als an den Beschwerden. Das wurde jahrzehntelang verdrängt. Oder ein anderes Beispiel: die Osteoporose. Die Pharmaindustrie hat nicht nur die Ärzte, sondern auch Weltgesundheitsorganisation (WHO)-Gremien bei der Definition der Osteoporose beeinflusst. Also bei der Beantwortung der Fragen: Ist Osteoporose eine Erkrankung mit oder ohne Brüche, wieviel Knochendichte ist noch normal und wieviel nicht etc., wurden einfach die Werte gesenkt und die Knochenbrüche herausgenommen aus der Definition. D.h., man hat jetzt auch eine Osteoporose, wenn man keine Brüche hat und eine relativ - im Vergleich zu vorher - gute Knochendichte. Und sofort war das eine millionenhaft auftretende Erkrankung!


     Soviel zur naturwissenschaftlichen Objektivität in der Medizin...


Ja, soviel zur naturwissenschaftlichen Objektivität, die gibt es nicht. Dahinter stecken Interessen, das ist klar. Und so kommt eine Krankheit nach der anderen dazu: der Reizdarm, die erektile Dysfunktion usw. Alles wird zu Krankheiten, die man dann behandeln kann und dann -weil es ja neue Krankheiten sind - gibt es entsprechend innovative Arzneimittel, die dem Patentschutz unterliegen und für die jeder Preis genommen werden kann. Die sind irrsinnig teuer.

Also da ist nichts heilig in diesem Geschäft.


     Ein konkretes Problem liegt also in der Frage nach der Bewertung und Definition, was eine Krankheit ist. Könnte in dem Zusammenhang die Einrichtung eines staatlichen Qualitätsinstituts für die Medizin, wie es derzeit diskutiert wird, einen Fortschritt bringen?


Ja, aber ich würde sagen: Man muss es umgekehrt machen. Man muss langfristig dafür sorgen, dass z.B. die Drittmittelforschung aufhört oder andersherum gesagt: Es muss eine absolut strikte Trennung von Industrie und Forschung eingeführt werden. Alles andere ist Augenwischerei. Denn in einem solchen staatlichen Institut würden wieder irgendwelche Vertreter sitzen, die zwar sagen: Das und das dürft Ihr nicht. Aber es würde trotzdem gemacht. Wir müssen runter von den Drittmitteln. Darüber gibt es übrigens bei uns im Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) auch Diskussionen, weil manche meinen, dass das nicht geht, weil es dann ja überhaupt keine Fortbildung mehr gebe usw. Also ich bin der Meinung: Lieber gar keine als diese. Es gibt sie auch schon, und sie würde sich auch wieder rentieren. Nur das ist natürlich wirklich eine Geldfrage. Da haben wir im Moment einen Teufelskreis: Durch diese falschen Forschungsergebnisse wird wieder wahnsinnig viel Geld ausgegeben.


Teil II des Interviews folgt in der nächsten Ausgabe der quer.


Ein Herzinfarkt ist kein Luxus

Interview mit Winfried Beck* zum Verhältnis von Medizin & Ökonomie,
Teil II

„In diesem Geschäft ist nichts heilig"

-Entgegen der verbreiteten Annahme, dass das Gesundheitswesen mit Ökonomie wenig bis nichts zu tun habe, hatte WINFRIED BECK in Teil I dieses Gesprächs darauf hingewiesen, dass es bereits vor der allgegenwärtigen „Wettbewerbs-", „Kostenexplosions-" und „Lohnnebenkosten"rethorik strukturelle Verbindungen zwischen beiden gegeben hat. Das Gesundheitswesen ist durch und durch geprägt von ökonomischen und damit auch von Klassenverhältnissen: von den historisch gewachsenen Standesinteressen über die Arzneimittelindustrie und -forschung bis zur Abhängigkeit der Organisation und der finanziellen Ausstattung von gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und ihren Verteilungswirkungen.

An diesen wäre anzusetzen, statt an „Symptomen zu kurieren". Darum, was das heißen könnte, geht es in Teil II des Gesprächs, das wir hier - gekürzt - wiedergeben.

(Teil I ist in quer vom Juni 2003 nach zu lesen. Das Interview führten NADJA RAKOWITZ und ROLF SCHMUCKER für den EXPRESS.


     EXPRESS: Eines der Argumente der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) gegen die gesundheitspolitischen Vorstellungen, auch jetzt gegen die Nullrunde im Vorschaltgesetz (Stichwort: Ärztestreik), ist ja, dass dadurch viele Praxen in ihrer Existenz gefährdet seien. Wie ist das denn einzuschätzen?


Winfried Beck: Mit dem Geld ist das immer eine schwierige Sache. Zur Existenzgefährdung: Kürzlich habe ich bei der KASSENÄRZTLICHEN VEREINIGUNG (KV) Hessen nachgefragt, wie viele Praxen denn pleite gegangen sind, also Konkurs gemacht haben - wie ein Metzger, der sagt, ich muss jetzt verkaufen, und der Rest kommt vor den Konkursverwalter. Das gibt es nicht in Hessen. Nicht eine einzige Praxis. Ja, sagen die dann: Die hören einfach auf... Aber „einfach aufhören" ist etwas anderes als ein Konkurs. Das ist das eine.

Das andere ist: Es gibt ein Durchschnittseinkommen, von der KV selbst ermittelt, das bei 70.000 Euro pro Jahr liegt. Einkommen heißt Gewinn, die Kosten sind davon also schon abgezogen. Gewinn ist vergleichbar mit dem Bruttoeinkommen; er ist etwas ungünstiger, weil die Arbeitgeberanteile der Sozialversicherung noch fehlen. Doch das ist der Durchschnitt.


     ... der Durchschnitt für das, was die Ärzte mit Kassenpatienten verdienen?


Das ist nur Gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Dazu kommen die Privatpatienten oder Gutachten und was man noch so alles machen kann. Es gibt ungefähr zehn Prozent Privatpatienten in Deutschland, die einen Umsatz von 20 Prozent ausmachen. Also das Doppelte. Es gibt unter den Ärzten Einkommensmillionäre, aber es gibt auch viele, die drunter liegen. Das sind z.T. Nischenpraxen, die einfach zu wenig Patienten haben. Die sind alle in diesen Durchschnittszahlen drin. Und dann gibt es die schon erwähnten hoch Engagierten, die einen falschen Standort haben, überhaupt nicht aufs Geld gucken und sich auch einmal eine halbe Stunde hinsetzen und reden, aber dafür nichts bekommen. Oder sie telefonieren herum, weil man dem türkischen Schwerstarbeiter das Krankengeld gestrichen hat oder weil er bei der Rentenversicherung Probleme hat. Man kann es so sagen: Diejenigen, die sich am meisten für ihre Patienten engagieren, verdienen am wenigsten.


     Das sind aber nicht diejenigen, die jetzt am lautesten schreien ...


Nein. Am meisten schreien die, die am meisten verdienen, aber Angst haben, weniger zu verdienen. Offenbar schreien immer die viel mehr, die einen Porsche haben und meinen, sie könnten dann nur noch VW fahren, als die, die immer einen VW hatten.


     Finden diese Differenzen zwischen den niedergelassenen Ärzte ihren Ausdruck auch in politischen Konflikten innerhalb der KASSENÄRZTLICHEN VEREINIGUNGEN?


Nein. In den KVen haben die das Sagen, die auf der „besseren" Seite sind: also Laborärzte, Radiologen, die Techniker usw. Und die, die benachteiligt sind - dazu gehören auch die Psychotherapeuten - sagen eher nichts. Die machen bei diesen Boykottaufrufen eben mittags nicht zu, aber sie gehen nicht hin und machen eine Presseerklärung und sagen: Wir machen bewusst nicht zu. Das passt nicht zu ihrem Verständnis. Der Kleinunternehmer ist ja per se eher unpolitisch. Der macht seinen Laden, und das war's; der hat auch keinen „Team"-Kontakt oder Kontakt mit anderen Kollegen, wo man so etwas bespricht. Das ist unterentwickelt, im Gegensatz zur Situation im Krankenhaus. Wo soll so jemand auch Opposition machen? Es gibt kein Organ ...


     Ein anderer Punkt, der In der Argumentation der KVen eine Rolle spielt, ist die Frage der Qualität, also dass z.B. aktuelle Vorschläge für die Gesundheitsreform mit dem Argument kritisiert werden, dass dann keine ausreichende medizinische Versorgung mehr zu gewährleisten sei. Wie ist das denn einzuschätzen ?


Das ist natürlich absolut verlogen. Denn alle Qualitätsschübe, die es bislang gegeben hat, also z.B. die Chronikerpro-gramme (DMPs) [1], bedeuten mehr Qualität. Überhaupt kam die Idee der evidenz-basierten Medizin nicht von Ärzten, sondern von der Politik - sozusagen als Notlösung. Das heißt, die Ärzte sind interessiert am Status quo, nicht an einer Qualitätsverbesserung. Und das wird mit dem Begriff „Therapiefreiheit" umschrieben. Das ist ein Kampfbegriff. Autonomie professionellen Handelns ist etwas anderes als Therapiefreiheit. Letztere bedeutet nämlich: Ich kann machen, was ich will; ob das sinnvoll ist, ist egal, und es darf vor allem keiner reingucken. Bloß keine Kontrolle! Das heißt Therapiefreiheit.
Dass aber ihre professionelle Autonomie in Gefahr ist durch Kontrollen von außen - von den Krankenkassen, dem Medizinischen Dienst - aufgrund der Ökonomisierung, dagegen kämpfen sie weniger. Das ist aber die eigentliche Gefahr. Oder dass sie kapieren würden, dass ihnen ihre Basis entzogen wird, wenn man die Gesetzliche Krankenversicherung kaputt macht, das sehen sie nicht.

Also eine Bereitschaft zu einer Qualitätsoffensive kann ich auf Seiten der Ärzteschaft nicht erkennen.

(...)

     Wir hatten vorhin die Lohnquote als das bestimmende Moment für die Einnahmen der Krankenversicherung angesprochen. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Lohnquote sich in den nächsten Jahren nachhaltig erhöhen wird. Das ist ja der Ansatzpunkt für Überlegungen, die Finanzierungsgrundlage umzustellen. Zuletzt hat der DGB-Chef darüber nachgedacht, ob man eine Steuerfinanzierung in die Sozialversicherungssysteme mit einbringt. Was hältst du von solchen Überlegungen?


Die Steuerfinanzierung ist eigentlich die gerechteste Lösung von denen, die es gibt. Weil ja eigentlich jeder Steuern zahlen sollte - auch die Unternehmen. Und immerhin gibt es in der Steuer eine Progression. Wer mehr hat, zahlt relativ mehr. In Kanada gibt es ein steuerfinanziertes Gesundheitswesen, in Dänemark auch: Das heißt, es hat keiner einen Krankenschein, zahlt nicht selber, es zahlen alle ein. Nun hat das auch Nachteile. Dann kann nämlich die Regierung oder der Bundestag ganz schnell nach unten verändern - wie z.B. in England. Das ist von der Struktur her ein super Gesundheitswesen, aber finanziell einfach ausgehungert worden. Was nützt mir ein tolles System, wo die Patienten Mitsprache haben, wenn sie zwei Jahre auf eine Totalprothese warten müssen. Deswegen wäre eine Mischform anzustreben. Ich fände es gut, wenn alles das, was jetzt als „versicherungsfremd" bezeichnet wird - man kann darüber streiten, was versicherungsfremd ist -, anteilig steuerfinanziert wäre. Im Grunde wäre alles, was irgendwie mit Kindern zusammenhängt, mit Geburten oder mit dem Tod, mit dem Sterben, von allgemeinem Interesse nicht nur der Versicherten.

Gerecht wäre es natürlich auch, die Finanzierung nicht an den Löhnen zu orientieren, sondern an der Produktivität. D.h., dass die Firmen, die eine hohe Produktivität haben, aber wenig Leute, also diese ganze Computerindustrie, am Umsatz, an der Produktivität gemessen werden. Wie heißt der Begriff noch mal dafür? Wertschöpfungsabgabe.


     Die Frage, die wir uns für den Schluss aufbewahrt haben: Wie kann man sich die Organisation eines solidarischen Gesundheitssystem heute vorstellen?


So ein paar Sachen sind ja schon angeklungen. Mal so formuliert: Wir haben ja als erste in der Welt ein solidarisches Gesundheitswesen gehabt: das Bismarck-Sy-stem; es war ein Riesen-Ex-port-schlager. Die Japaner haben es nachgemacht, viele andere auch. Und das System wurde ausgebaut. Es ist auch nie zerstört worden, selbst von den Nazis nicht. Jetzt besteht aber die Gefahr, dass es zerstört wird - mehr als jemals in der Geschichte. Und wenn man es historisch sieht, dann merkt man erst, was man damit verlieren würde. Denn das, was die jetzt wollen, das ist ja Wildwuchs. Da hätten wir im Grunde keine Geschichte und irgendwelche Kämpfe gebraucht. Denn das, was sie jetzt haben wollen, das hat man, wenn man einfach ein Haifischbecken aufmacht und ein paar Fische reinsetzt. Und ich würde im Moment sagen, dass man das, was man hat, jetzt bewahren muss. Ausbauen ist ja kaum möglich in der jetzigen Situation. Die Linke muss das heute zunächst bewahren.


     Was sie früher auch kritisiert hat. Es ist ja nicht so, dass die Linke das Bismarck-System immer verteidigt hätte. Wenn man an die siebziger Jahre denkt... oder auch vorher schon: Dieses Gesundheitssystem war ja nicht unbedingt ein Sieg der Arbeiterbewegung.


Natürlich, die Kritik ist auch angebracht. Wir haben jahrelang nichts anderes gemacht. Aber es kann sich hier keiner vorstellen, was ist, wenn wir das amerikanische System übertragen würden.

Hier ist es immer noch so, das muss man einfach auch mal positiv sehen, dass es - ich habe es ja konkret erlebt - niemanden in meiner Praxis gab, bei dem ich nicht alles hätte verschreiben und machen können, wenn ich es gewollt hätte. Auch an die Härtefallregelung, dass es unterhalb eines bestimmten Einkommens keine Zuzahlungen gibt, darf man nicht dran gehen. Das sind ganz wertvolle Dinge, die zu bewahren sind.

Was ist, wenn wir all das nicht mehr hätten? Was dann kommt, ist kriminell. Jetzt sind wir leider in der Situation, dass man genau das befürchten muss. Zu sagen, wir brauchen eine Qualitätsoffensive, ist richtig, aber im Moment wirklich eine große Gefahr. Wobei wir auch immer sagen: Noch wichtiger ist eine Humanitätsoffensive vor der Qualitätsoffensive. Wenn die Leute in eine Praxis gehen, vielleicht auch im Krankenhaus, müssen sie das Gefühl haben, dass sie wirklich umsorgt sind, dass sie keine Angst haben brauchen. Dass sie subjektiv sicher gehen können, dass alles, was jetzt gemacht wird, nur gemacht wird, weil es der Gesundheit dient. Und nicht, weil jemand dran verdient.

Dieses Vertrauen ist in Gefahr durch die ganzen IGeL-Geschichten [2]. Die Leute wissen nicht mehr: Empfiehlt der Arzt mir die IGeL-Leistung nur, weil er meine Kohle haben will oder weil es medizinisch wichtig ist? Da gibt es schon diesen Einbruch in der Arzt-Patient-Beziehung, der vom humanitären Standpunkt aus viel schlimmer ist, als es öffentlich wahrgenommen wird. Er wird nicht wahrgenommen, weil es die Kassen nicht interessiert - sie zahlen ja nicht. Die Politik interessiert es nicht - es kostet nichts. Und die Patientenverbände sind ruhig. Aber da ist schon etwas unheimlich Wichtiges kaputt gegangen.

Es ist eigentlich eine Super-Lösung, dass - das war nicht mal bei Hippokrates so - wir arbeiten können, ohne Geld dazwischen, durch das Sachleistungsprinzip. Ich kriege einen Schein und fertig


     Die Wettbewerbsideologen behaupten: Überall, wo die Leute nicht merken, dass es auch etwas kostet, machen sie es bis zum Erbrechen.


Freibiermentalität...


     Genau. Du hast ja vorhin schon einmal gesagt, das Anspruchsdenken ist ein Problem, aber nicht das der Patienten, sondern der Ärzte. Das wäre dann genau das Gegenargument.


Natürlich gibt es bei den Patienten vereinzelt welche, die sagen, ich zahle soviel, jetzt mache ich alles, was nur geht. Aber ist das denn so wahnsinnig angenehm, sich von oben bis unten operieren zu lassen oder sich unters Röntgengerät zu legen? Krankheit ist eben kein Konsumgut wie ein Fernseher. Da geht es um Existenzgefährdung, um Ängste, um Nicht-Planbarkeit, Nicht-Abstellbarkeit. Da ist die Freibiermentalität absurd. Ein Herzinfarkt ist kein Luxus, den man sich mal leistet wie Freibier, weil gerade das Wetter schön ist und der Zapfhahn geöffnet ist. Man kann natürlich über das Geld steuern, aber man steuert dann falsch. Dann gehen nicht die zum Arzt, die es sollten. Aber da rennt man im Moment gegen eine Wand. Die Ideologie ist so allgegenwärtig - es soll gesteuert werden über den Markt und über das Geld. Ich meine aber: Es muss Freiräume geben, in denen der Markt keine Rolle spielen darf.


     Der kanadische Gesundheitswissenschaftler ROBERT EVANS hat gezeigt, dass es ökonomisch gesehen auch sehr richtig sein kann, Patienten falsch oder gar nicht zu behandeln usw. Ökonomie und die medizinische Vernunft sind da...



... häufig unvereinbar.


     Die haben erstmal nichts miteinander zu tun. Die können miteinander einher gehen, aber es kann auch genau das Gegenteil der Fall sein. Und es hat ja auch fatale Konsequenzen. Zugespitzt läuft es auf das hinaus, was die Nazis gemacht haben: Was ist lebenswertes Leben, was ist lebensunwertes Leben ...


... das ist die Zuspitzung ...


     dieser Form von Ökonomisierung.


Die Extremform ist, dass ich überhaupt nicht behandle oder gar umbringe.


     Aber das steckt in dieser Logik drin.


Wenn man es dauernd weiter fortdenkt, kommt man dazu. Natürlich. Wenn einer sagt, ich behandle die besser, die mir mehr Geld geben, als die, die mir weniger Geld geben, das ist Darwinismus. Die, die viel kriegen, kriegen alles, und die, die kein Geld haben, kriegen gar nichts. Da sie aber immer irgendwas brauchen und irgendwie Geld kosten, bringe ich sie am besten um. Und dann kostet das gar nichts.



* WINFRIED BECK hatte bis Ende 2002 eine orthopädische Praxis in Frankfurt/M und ist Vorsitzender des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte, VDÄÄ; N AD JA RAKOWITZ und ROLF SCHMUCKER arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für medizinische Soziologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.
Das Interview erschien - ungekürzt -zuerst im EXPRESS, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/03; Tel.: 069/885006, email: .
Anmerkungen:
Unsere Berichte zur Gesundheitreform wollen wir fortsetzen. Nächstes Thema: Ökonomisierung der Medizin im stationären und ambulanten Bereich.
[1] DMP, Disease-Management-Programme: Für bestimmte chronische Erkrankungen werden strukturierte Behandlungsabläufe ausgearbeitet, die in verbindlicher Form Sektoren- und berufsgruppen-übergreifend Vorsorge, Therapie und Rehabilitation regeln sollen. Diese auf Leitlinien und Standards basierende integrierte Versorgung soll die Therapie optimieren und gleichzeitig Kosten senken, (vgl. auch http: //www. gesund-heit-nds.de/frames/medien/DMP-Reader_Original.pdf)
[2] IGeL, Individuelle Gesundheitsleistungen: Darunter sind Leistungen zu verstehen, die nicht von der Gesetzlichen Krankenkasse finanziert werden (dürfen) und daher von den Kassen-Patientinnen direkt bar bezahlt werden müssen. Neben zahlreichen innovativen, kosmetischen und alternativen Behandlungsverfahren und Therapien (deren Kostenerstattung durch die Solidargemeinschaft allerdings nur teilweise wirklich fragwürdig sein dürfte) sind v.a. auch sehr viele überaus sinnvolle Präventiv- und Früherkennungsmaßnahmen in dieser Liste.
(vgl. z.B. http://www.circlecomm.de/ download/Doku-mente/02_Patientenfaltbatt%20IGeL.pdf)

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