»Der Tag X darf uns nicht überraschen«

Begonnen von TagX, 07:47:05 Sa. 24.März 2007

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TagX

Zitat»Der Tag X darf uns nicht überraschen«
Gründung des Forschungsbeirats für Fragen der Wiedervereinigung vor 55 Jahren
Von Jörg Roesler

Die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 wurde in Bonn zunächst nicht sehr ernstgenommen. Die »Pankower Regierung« lebe von Ruinenfledderei und werde sich nicht lange halten können, hieß es monatelang in Bonn. Erst im Verlauf des Jahres 1951 – in der DDR hatte man mit der Verwirklichung des ersten Fünfjahrplanes begonnen – drang auch bis zu den verantwortlichen westdeutschen Politikern durch, daß sich in »Mitteldeutschland« auf wirtschaftlichem Gebiet durch die Konsolidierung der volkseigenen Betriebe (VEB) Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen und in der Leitung der Industrie vollzogen, die für die erhoffte baldige Eingliederung des Gebiets zwischen Elbe/Saale und Oder spezielle wirtschaftliche Maßnahmen erforderlich machen würden.

Derartige Überlegungen zum Abbau der »Bolschewisierung« waren noch nicht allzu weit gediehen, als ein Ereignis eintrat, das rasche Entscheidungen verlangte. Am 10. März 1952 hatte Stalin den Westmächten in einer Note die Wiedervereinigung Deutschlands »als unabhängiger demokratischer, friedliebender Staat« vorgeschlagen. Die drei Mächte bestanden in einer Antwortnote am 25. März auf der Abhaltung freier Wahlen als erstem Schritt zur Wiedervereinigung, dem die UdSSR am 9. April 1952 unter einigen Bedingungen zustimmte. In die deutsche Frage war Bewegung geraten, und in Bonn stellten die Politiker fest, daß sie für den von ihnen als sicher angenommenen Fall eines Wahlsieges kein Konzept hatten, wie sich die Eingliederung der DDR vollziehen sollte.

Osterfahrung wichtig

Unter der Devise »Der Tag X darf uns nicht überraschen« trat wenige Tage nach der Stalin-Initiative am 20. März 1952 ein in den Monaten zuvor gebildeter, sechs Personen umfassender »kleiner Forscherstab« zur ersten Arbeitssitzung zusammen. Am 24. März konstituierte sich als größerer Beraterkreis das 30köpfige Plenum des Forschungsbeirates. In seiner Eröffnungsrede verlangte der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser (CDU), die Zusammenarbeit »aller beteiligten politischen, geistigen und wirtschaftlichen Kräfte« zur Wiederherstellung marktwirtschaftlicher Verhältnisse in der »Sowjetzone« nach dem Tag X.

Am 7. April bekam der Forschungsbeirat den Auftrag, alle einschlägig befaßten Bonner Ministerien mit relevanten Gutachten und Handlungsvorschlägen zu versorgen. Ein interministerieller Ausschuß sollte die von den verschiedenen Ressorts aufgrund der Empfehlungen des Forschungsbeirates erarbeiteten Maßnahmenkataloge für die Eingliederung der DDR in die westdeutsche Wirtschaft koordinieren.

In den Forschungsbeirat, besonders in seine »engeren Kreise«, waren Wissenschaftler, vor allem Ökonomen berufen worden, die über eine gewisse »Ost erfahrung« verfügten. So hatte Karl C. Thalheim, der Mitbegründer des Osteu ropa-Instituts der Freien Universität Berlin, seine Nachkriegskarriere in Leipzig begonnen. Rudolf Meimberg, der Kreditspezialist und Wirtschaftstheoretiker, war 1945/46 in der Zentralverwaltung für Industrie der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) tätig gewesen. Referent in der gleichen Zentralverwaltung war während der ersten Nachkriegsjahre der Volkswirt Franz Rupp, der später nach Westberlin flüchtete und sich als Reparationsspezialist auswies. Am weitesten hatte es in der SBZ Bruno Gleitze gebracht. 1945 wurde er zum Präsidenten der Verwaltung für Statistik in der SBZ ernannt und ein Jahr später ordentlicher Professor an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität.

Wenn der Antikommunismus dieser vier Forscher auch außer Frage stand, so hingen sie doch nicht bedingungslos der ordoliberalen Lehre an. Gleitze z.B. war SPD-Genosse und Mitglied des Königssteiner Kreises, der bei seinen Ostplanungen damals die Auffassung vertrat, daß ein Teil der in DDR durchgesetzten wirtschaftlichen Reformen nicht einfach rückgängig gemacht werden könne, sondern in die gesamtdeutsche Wirtschaftsordnung zu übernehmen sei. Im Laufe des Jahres 1953 konnte der Leiter des Forschungsbeirats, Friedrich Ernst, Bankier und Aufsichtsratsvorsitzender, mit K. Paul Hensel und weiteren Wirtschaftswissenschaftlern westdeutscher Provenienz vier unbedingte Anhänger der Mainstream-Ökonomie im »engen Forscherkreis« begrüßen. Gegen jene Wirtschaftswissenschaftler, die zu irgendwelchen ordnungstheoretischen Kompromissen bereit waren, wandte sich wiederholt das wichtigste der mit dem Forschungsbeirat kooperierenden Häuser, das von Ludwig Erhard geleitete Wirtschaftsministerium. Gewissen Leuten gehe, so Erhard in einem Artikel in der Zeit vom 10. September 1953, »jede Einsicht auf die in einem freien Markt zum Ausgleich und Gleichgewicht hindrängenden Kräfte und die damit entfesselte Dynamik völlig ab«. Er stellte sich »klar und eindeutig auf den Standpunkt, daß die Wiedereingliederung des deutschen Ostens mit den Mitteln und nach den Grundsätzen der Marktwirtschaft erfolgen müsse«.

Für Marktwirtschaft

Diese Auffassung gelang es – cum grano salis – dann auch im Forschungsbeirat durchzusetzen. Zunächst jedoch, im Zeitraum zwischen März und September 1952 und dann wiederum 1953, galt es, sich über Grundvorstellungen einig zu werden. Hinzu kam die Anforderung von Maßnahmenkatalogen durch die verschiedenen Bundesministerien, denn die Wiedervereinigung blieb auch 1953 ein Spitzenthema der Politik. Am 10. Juni 1953 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der SPD-Opposition ein »Sofortprogramm« zur Wiedervereinigung, wiederum mit von der UNO beaufsichtigten »freien Wahlen in ganz Deutschland« als Grundbedingung. Hoffnung bei den im Westen Herrschenden, daß es rasch zur Einheit Deutschlands in ihrem Sinne kommen könne, rief der Aufstand am 17. Juni in der DDR hervor. Die Wiedervereinigung war auch das Thema einer im Januar/Februar 1954 in Berlin tagenden Viermächtekonferenz der ehemaligen Weltkriegsalliierten.

Danach wurde es um die Einheit Deutschlands stiller und der Forschungsrat konnte darangehen, Programme für die Übergangszeit nach dem Tag X bis zur völligen Integration der DDR-Wirtschaft zu entwickeln, eine Phase, deren Dauer die Experten auf etwa ein Jahr schätzten. Die das Schicksal der VEB in der Übergangszeit behandelnde Empfehlung des Forschungsbeirates von Ende 1960, auszugsweise unten wiedergegeben, ist ein typisches Beispiel für die damals verabschiedeten »Konversionsprogramme«.

Die Arbeit an den teilweise geheim bleibenden, teilweise veröffentlichten Programmen wurde in Anpassung an den internationalen Entspannungsprozeß in den sechziger Jahren aufgegeben, der Beirat 1975 in eine »Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen« umgewandelt. Was aber bis Mitte der Sechziger an Programmen entwickelt worden war, hat Denkstrukturen geprägt und war 1990, als die Annexion der DDR wirklich auf der Tagesordnung stand, abrufbar, auch wenn außer Thalheim, der ein Jahrzehnt lang, bis 1985, die Forschungsstelle geleitet hatte, niemand mehr von den Gründerfiguren in der Politik aktiv war.

Quellentext: Zur Einfügung der VEB in die marktwirtschaftliche Ordnung

Die volkseigenen Betriebe der SBZ (...) sind in so umfassender Weise mit dem in der SBZ herrschenden zentral geplanten zwangswirtschaftlichem System verbunden, daß eine Aufhebung der verschiedenen Planbindungen allein nicht ausreichen würde, um sie marktwirtschaftlich aktionsfähig zu machen. Zur Einfügung der VEB in die nach der Wiedervereinigung zu schaffende im Grundsatz marktwirtschaftliche Ordnung sind vielmehr neben der Aufhebung der Bindung an die zentralen Pläne die rechtliche Struktur und die Stellung der VEB in der Wirtschaft so zu verändern, dass die VEB als selbständige Unternehmen in eigener Verantwortung tätig sein können (...). Die hierzu notwendigen Maßnahmen sind eine wesentliche Voraussetzung für die Sicherung der Kontinuität der Produktion und Beschäftigung sowie für die möglichst wirksame Anpassung der mitteldeutschen Industrie an die neuen Wirtschaftsverhältnisse. Sie sind auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Entscheidung über die endgültige Regelung der Eigentumsverhältnisse, namentlich hinsichtlich der seit 1945 in der SBZ vorgenommenen Enteignungen, dem gesamtdeutschen Gesetzgeber vorbehalten bleiben muß.

aus: Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands beim Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. Bonn 1961, S. 165–172
Quelle: http://www.jungewelt.de/2007/03-24/095.php
Grüße


Sozialismus!

cosa

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