Zu alt für Jobs, aber kriegstauglich

Begonnen von Wilddieb Stuelpner, 03:35:52 Di. 01.März 2005

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Wilddieb Stuelpner

Neues Deutschland: Berlin/Brandenburg: Zu alt für Jobs, aber kriegstauglich

Gesetz in Kraft: Reserve bis »60« mit einem Fuß in der Kaserne, Musterung per Aktenlage möglich

Von Rainer Funke

Heute tritt das SkResNOG in Kraft. Dahinter verbirgt sich das Streitkräftereserve-Neuordnungsgesetz, das der Bundestag vor zweieinhalb Wochen beschlossen hat. Wegen dieses 47-seitigen Papiers geht die Berliner Kampagne gegen Wehrpflicht davon aus, dass sich demnächst Betroffene verstärkt zur Beratung im Büro Kopenhagener Straße 71 einfinden werden.
Das betrifft zunächst Musterungsverweigerer. Sie nutzten den Umstand aus, dass man ohne persönliche Vorstellung im Kreiswehrersatzamt nicht zum Militär eingezogen werden kann. Die Bundeswehr versuchte wiederum, mit Amtshilfe der Polizei die Wehrpflichtigen zwangsweise vorzuführen. Zwischen März 1992 und Ende 1996 wurden laut Bundesregierung allein in Berlin 4691 Wehrpflichtige mit Handschellen zur Musterung gebracht. Genaue Zahlen nennt heute niemand mehr, nicht die Polizei, nicht das Kreiswehrersatzamt, nicht die Wehrbereichsverwaltung Strausberg. Nach vorsichtigen Schätzungen sollen es aber weit über 10000 sein.

Mit dem Gesetz verfügt das Wehramt nun über ein Mittel, das es bisher in der bundesdeutschen Wehrgeschichte nicht gab: die Musterung nach Aktenlage, wie Kampagnen-Sprecher Ralf Siemens sagt. Doch bis zur Musterung ist die Akte eine nackte. Es steht nichts drin über Gesundheit, Eignung und Tauglichkeit, sondern nur das, was das Einwohnermeldeamt weiß. Betroffen von der Regelung sind Wehrpflichtige bis zu 23 Jahre.

Siemens bezeichnet diesen Gesetzesteil als Racheakt des Verteidigungsministeriums gegenüber einem ihm missliebigen Personenkreis, als eine Lex Musterungsverweigerer. Die Absurdität zeige sich auch darin, dass nächstes Jahr bundesweit nur noch 40000 Wehrpflichtige zum Grundwehrdienst einberufen werden – und zwar bei einer Jahrgangsstärke von 400000. Da machen die, die den Musterungsterminen fern geblieben sind, nur einen Bruchteil aus.

Hinzu kommt, dass Reservisten künftig nicht mehr nur im tatsächlichen Verteidigungsfall, sondern auch im Spannungsfall zum unbefristeten Dienst beliebig eingezogen werden können, solange sie nicht älter als 60 Jahre alt sind. Auch Zurückstellungen gelten dann als widerrufen. Dies zielt auf künftig gehäufte Szenarien, so Siemens, bei denen die deutschen Streitkräfte sonst wo in der Welt wesentlich stärker in internationalen Konflikten eingesetzt werden sollen. Wesentlich problemloser vermag dadurch die Bundeswehr, sich Reservisten herauszusuchen, die sie bei Auslandseinsätzen benötigt.

Wobei der Spannungsfall bereits eintritt, wenn Bundesregierung, Nato oder EU eine Gefahr an fernen Horizonten aufziehen sehen. Was bedeutet, dass faktisch sämtliche Wehrpflichtigen bis ins relativ hohe Alter mit einem Fuß in der Kaserne stehen – für Auslandseinsätze, weil Deutschland ja regierungsoffiziell lediglich von Freunden umzingelt ist. So tritt fortan für manch arbeitslose 50- oder 60-Jährige der überaus widersinnige Fall ein, wegen »fortgeschrittenen Alters« keine Chance mehr auf einen Job zu haben, aber überaus tauglich zur Kriegsdienstverwendung zu sein.
Auch hier spielen gesundheitliche Beeinträchtigungen kaum eine Rolle mehr. Von IT- oder Fremdsprachenspezialisten wird nicht erwartet, dass sie mit einem 20-Kilo-Gepäck umherrobben. Sie sollen sich vielmehr in afghanischen Mundarten, logistischen Prozessen und dergleichen mehr auskennen.

Statistisch gesehen sind hunderttausende Bundeswehr-Reservisten von dem Gesetz betroffen. Hinzu kommen die so genannten Ersatzreservisten, also jene, die nicht in der Bundeswehr gedient haben. Interessen einstiger Zivildienstleistender werden nicht berührt.

(ND 01.03.05)

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