Ein Reform-Fass ohne Boden

Begonnen von Kater, 11:12:52 Mi. 19.Oktober 2005

⏪ vorheriges - nächstes ⏩

Kater

ZitatEin Reform-Fass ohne Boden
VON PETER HAHNE, 19.10.05, 07:00h

Unterm Strich muss der Bund in diesem Jahr 14 Milliarden Euro Mehrkosten tragen.
Berlin - Hartz IV - kein Sozialgesetz der deutschen Nachkriegsgeschichte stand bislang derart synonym für Leistungskürzungen, Sozialabbau und kalten Neoliberalismus. Hartz IV trieb im Sommer vorigen Jahres Zehntausende auf die Straße, führte zeitweilig zum Bruch der SPD mit den Gewerkschaften und schließlich zum Einzug der Linkspartei in den Bundestag. Und heute?

Zur Überraschung der Bundesregierung ist das vermeintliche Sparprogramm auf dem Rücken der sozial Schwächsten für die Steuerzahler zum Fass ohne Boden mutiert. Rund 50 Milliarden Euro werden Bund und Kommunen im ersten Jahr Hartz IV für das Arbeitslosengeld II ausgeben. Experten rechnen damit, dass die Kosten in den kommenden zwei bis drei Jahren mindestens konstant bleiben, wenn nicht sogar weiter steigen. Unterm Strich wird der Bund in diesem Jahr rund 14 Milliarden Euro mehr für das ALG II ausgeben als für die zuletzt 2004 gezahlte Arbeitslosenhilfe. Ob bei den Kommunen am Ende eine Entlastung herausspringt, ist noch offen - und hängt davon ab, welche Rechnung man bemüht.

Wie passt das alles zusammen? Der angeblich größte Sozialabbau, den die Bundesrepublik je gesehen hat, und mehrere Milliarden Euro Mehrbelastung für die Steuerzahler jedes Jahr? Was ist falsch gelaufen bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, wo sind die Milliarden hin? Ist Hartz IV tatsächlich ein ,,gigantischer Selbstbedienungsladen", wie der CDU-Haushälter Steffen Kampeter mutmaßt? Trifft es zu, wie Experten halbironisch anmerken, dass unter Hartz IV nicht die Arbeitslosen, sondern die Steuerzahler verarmen?

SPD-Chef Franz Müntefering, künftig als Arbeitsminister für Hartz IV zuständig, gibt freimütig zu, dass das alles ,,so nicht gemeint gewesen" war. Hartz IV sei zwar ein ,,ungewolltes Konjunkturprogramm", weil es die Taschen der Hilfsempfänger füllt und damit auch einen Teil der Steuermilliarden in die Geschäfte schleust - aber wenn es so weitergeht wie bisher, kündigte Müntefering an, werde die neue Bundesregierung ,,organisatorisch oder gesetzgeberisch" reagieren.

Das Dumme ist nur: Auf absehbare Zeit werden sich die Kosten nicht spürbar senken lassen, wenn nicht die ganze Reform völlig neu konzipiert wird. Ein Sozialstaatssystem wie Hartz IV lässt sich nicht jedes Jahr völlig umbauen. ,,Man kann zwar genauer kontrollieren", sagt Holger Schäfer, Arbeitsmarktexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. ,,Aber das wird keine große Entlastung für Bund und Kommunen bringen."

Wie unstrittig zutreffend diese Einschätzung ist, zeigt der Blick auf die Gründe für die Kostenexplosion. Rund 4,9 Millionen Menschen beziehen inzwischen ALG II - erwartet hatte der scheidende Wirtschaftsminister aber nur 3,2 Millionen. Bei den Finanzplanungen hatte Wolfgang Clement (SPD) im vergangenen Jahr veraltete Daten von 2003 zugrunde gelegt und zudem damit gerechnet, dass die Konjunktur anspringt und vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit sinkt. Auch die Ablehnungsquote hatte das Clement-Ministerium völlig unterschätzt, statt 23 Prozent haben die Arbeitsagenturen nur zehn Prozent der Antragsteller ohne Geld nach Hause geschickt.

Das Phänomen der ,,Zellteilung" indes führt zu einer eindeutigen Kostenexplosion und liegt an einer Fehlkonstruktion von Hartz IV: Ziehen nicht verheiratete Partner oder volljährige Kinder aus der gemeinsamen Wohnung mit den Eltern oder dem Lebenspartner und damit aus der Hartz-IV-,,Bedarfsgemeinschaft" aus, springt der Staat ein, weil durch die räumliche Trennung das Einkommen und Vermögen der Partner oder Eltern geschont wird. Allein in Berlin sind seit Jahresanfang die ,,Hartz IV"-Haushalte von 225 000 auf 314 000 in die Höhe geschnellt.

http://www.ksta.de/html/artikel/1129587888138.shtml

  • Chefduzen Spendenbutton