Wie Rentenversicherung und Arbeitsagentur eine Erwerbsminderungsrentnerin schikanieren

Begonnen von Wilddieb Stuelpner, 12:35:59 Mi. 23.November 2005

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Wilddieb Stuelpner

Behinderten- und menschenfeindliche Ämterpolitik nach Kassenlage dank Hartz IV und Alg II bis zur Existenzvernichtung der Bevölkerung. Keine der beiden Ämter wollen die Existenzsicherung der behinderten Familie übernehmen. Der Schuster Wilhelm Voigt im "Hauptmann von Köpenick" kommt mir da wieder in den Sinn - Disput Voigts mit seinem Schwager in dem Theaterstück im Vergleich der Menschenordnung mit der Wanzenordnung:

MDR, Sendung "exakt": Arbeitslos statt erwerbsunfähig

exakt vom 22.11.2005

Manuskript des Beitrages von Andrea Besser

Um die Rentenkassen zu entlasten werden selbst schwer kranke Menschen als arbeitsfähig eingestuft und damit zur Arbeitsagentur abgeschoben.

Selbst einfache Handgriffe sind für Christine Weida ein Problem. Die 53-Jährige ist herzkrank, leidet unter chronischem Asthma, massiven Rückenbeschwerden, Gleichgewichtsstörungen und, und, und – ihre Ärzte nennen das multipel chronisch krank. Christine Weida ist schwer behindert und auf die Hilfe von Ehemann Bernhard, der selbst nach einem Schlaganfall halbseitig erblindet ist, angewiesen. Hinzu kommen schwere Depressionen. Christine Weida ist in ständiger psychologischer Behandlung.

O-Ton: Christine Weida

"Man fühlt sich hilflos, als abgelegtes Eisen."

Folgerichtig war Christine Weida bis 2003 erwerbsunfähig geschrieben, erhielt eine monatlich Rente von rund 600 Euro. Der Schock kam mit einem Schreiben der Rentenversicherung, darin heißt es: ab 2004 werden die Rentenzahlungen eingestellt. Die LVA erklärt Christine Weida kurzerhand für arbeitsfähig.

Zitat:

"Mit dem vorhandenen Leistungsvermögen können auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Arbeiten vollschichtig ausgeübt werden."

O-Ton: Bernhard Weida

"Das Gutachten ist eine einzige Phrase, das stimmt vorne und hinten nicht. Das hat die LVA gar nicht für voll genommen. Die haben gesagt, der hat 'ne Macke scheinbar, so bin ich mir vorgekommen, verarscht!"

Fakt ist, die schwer behinderte Frau gehört nun wieder zum Heer der Arbeitslosen, muss sich um einen Job kümmern. Ihr Mann begleitet sie auf dem Weg zur Arbeitsagentur, schon aus Sorge, dass seine Frau stürzen könnte. Angekommen bei der ARGE in Mühlhausen, hier sucht man nicht mal nach einem Job für Frau Weida.

O-Ton:

"Frau Weida, Herr Weida, Guten Tag!"

Aus Sicht der Arbeitsagentur ist die kranke Frau überhaupt nicht vermittelbar und als Beleg gibt es sogar ein eigenes medizinisches Gutachten, erklärt Teamleiterin Bernadette Merold.

O-Ton: Bernadette Merold, Teamleiterin ARGE Grundsicherung Unstrut-Hainich-Kreis

"Und zwar wurde von Seiten des ärztlichen Dienstes der Arbeitsagentur festgestellt, dass die Frau Weida derzeit nicht erwerbsfähig ist."

Trotzdem muss erst einmal die Arbeitsagentur zahlen, rund 200 Euro ALG II im Monat - Für die Weidas ein Verlust von ca. 400 Euro gegenüber der ursprünglichen Rentenleistung. Die stehe ihr nicht mehr zu, meint der Versicherer und begründet das so: Als es 2003 mit dem Laufen gar nicht mehr ging, hätte Christine Weida schließlich eine Knieprothese bekommen. Damit habe sich ihr Zustand zumindest aus orthopädischer Sicht verbessert.

O-Ton: Andreas Walther, Deutsche Rentenversicherung Mitteldeutschland

"Grundlage für eine Erwerbsminderungsgewährung sind natürlich das Vorliegen von entsprechenden medizinischen Beeinträchtigungen und diese wurden in mehreren Gutachten überprüft und aufgrund der Entscheidung der Gutachter bleibt uns hier keine andere Wahl, als beim entsprechenden vorliegenden Leistungsvermögen von Frau Weida die Rente abzulehnen."

Die Rentenversicherer berufen sich dabei auch auf verschärfte Gesetze, die im Zuge der Rentenreform 2001 eingeführt wurden. Ein Punkt: Die Arbeitsmarktsituation wird nicht mehr berücksichtigt - wer theoretisch über drei Stunden am Tag irgendeine Tätigkeit machen könnte, hat keinen Anspruch mehr auf die volle Erwerbsminderungsrente. Aus Sicht des sächsischen Sozialverbandes VdK wurde mit der Gesetzgebung Tor und Tür geöffnet, um schwerkranke Menschen für arbeitsfähig zu erklären – sie damit als Kostenfaktor los zu werden.

O-Ton: Ralph Beckert, Leiter der Rechtsabteilung VdK Sachsen

"Weil die Kassen klamm sind und es immer enger wird mit den Finanzmitteln, ist die Reform 2001 eine Möglichkeit gewesen, den Anspruch oder die Hürde für einen Anspruch so hoch zu legen, dass die Verwaltung sich hinter diesem Gesetz leicht verstecken kann, und sagen kann: Du hast keinen Anspruch, weil du eben auf dem Arbeitsmarkt jede Arbeit irgendwo machen kannst."

Inzwischen haben es die Weidas von der Rentenversicherung sogar schriftlich bekommen, mit welchen Einschränkungen Christine Weida durchaus arbeiten könne. Da heißt es unter anderem: "kein Gehen auf unebenen Böden, keinen Zeitdruck, keine besonderen geistigen oder seelischen Beanspruchungen und, und, und – sage und schreibe über 20 Ausschlusskriterien." Bernhard Weida hat dafür nur bitteren Spott übrig.

O-Ton: Bernhard Weida

"Das ist so geschrieben, als ob meine Frau noch im Liegen arbeiten könnte. Was sie nicht darf, ist alles Bewegung. Sie darf nicht gehen, nicht stehen, nicht sitzen, da ist nur Liegen übrig."

O-Ton: Ralph Beckert, VdK Sachsen

"Man findet die abstrusesten Berufe und Tätigkeiten, die diejenigen noch ausführen können, was zwar im Einklang mit dem Gesetz steht, aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt diese Tätigkeiten nie in dieser Zahl vorhanden sind."

Doch das Betroffen, wie Christine Weida in der Praxis gar keine Chance auf einen Job haben, das quittiert die Rentenversicherung nur mit einem Schulterzucken.

O-Ton: Andreas Walther

"Natürlich ist es schwierig bei der derzeitigen Arbeitsmarktsituation hier einen Job zu finden. Nur ist das leider kein Problem der Rentenversicherung, sondern vermutlich ein Problem des derzeitigen Arbeitsmarktes, dass einfach Menschen mit Leistungsbeeinträchtigungen keine Jobs finden, weil einfach nicht genügend vorhanden sind."

Offizielle Zahlen, wie viel Betroffene deutschlandweit von den Rentenkassen ins ALG II geschoben wurden, existieren nicht. Doch die regionalen Erfahrungen belegen eine eindeutige Tendenz.

O-Ton: Ralph Beckert, VdK Sachsen

"Alleine ausgehend von den Verfahren, die wir im Hause führen, können wir sagen, dass es dort von ca. 200 Rentenverfahren, 50 Prozent alleine davon schon in diesen Verschiebebahnhof rein fallen, von der Rentenversicherung hin zur Arbeitslosenversicherung."

Im Fall von Christine Weida will die zuständige Arge jetzt ihrerseits ein neues medizinisches Gutachten in Auftrag geben. Die Agentur möchte nicht auf Dauer für die behinderte Frau zahlen, auch wenn man vorerst in der Pflicht ist.

O-Ton: Bernadette Merold, Arge Unstrut Hainichkreis

"Da man ja Frau Weida nicht ohne Hilfe lassen kann. Geht also die Arge, in diesem Fall das ALG II in Vorleistung. Es ist auch ein Erstattungsanspruch beim zuständigen Rentenversicherungsträger gestellt."

Wer letztlich für den Lebensunterhalt aufkommen muss, ist also unklar – der Streit darüber verfolgt die Familie nun schon fast zwei Jahre.

O-Ton: Bernhard Weida

"Meine Frau war ja vorher, obwohl sie ja die Rente hatte, war ja meine Frau ein Mensch – lebensfroh. Also, sie hat gelacht, hat rumgealbert, hat kein Problem gehabt, mit Leuten zu reden. Und heutzutage sitzt meine Frau da, wenn wir zu Veranstaltungen hingehen. Da sitzt meine Frau, die spricht mit keinem Menschen."

zuletzt aktualisiert: 22. November 2005 | 23:47

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