Göttinger Denunziant erreicht Streichung der Arbeitslosenhilfe bei seiner Nachba

Begonnen von Revolutzer, 13:10:02 Mi. 28.Juli 2010

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Revolutzer

Die Fakten vorweg, nachzulesen im ,,Göttinger Tageblatt" und in der Online-Ausgabe von ,,taz-nord" vom 21. Juli:

Ein anonymer Anrufer meldet sich im April dieses Jahres beim Göttinger Sozialamt mit der Verdächtigung, eine ALG-II-Bezieherin halte sich gar nicht in ihrer Wohnung auf, sondern bei ihrem Freund. Folge: neun Tage später schwärmen Mitarbeiter der Stadt und des Landkreises Göttingen aus, um bei der Nachbarschaft der Frau weitere Informationen zu beschaffen. Ergebnis dieser Schnüffelaktion: kein Arbeitslosengeld mehr für die Erwerbslose. Die Betroffene wird von alldem nicht einmal vorher informiert oder zu der Denunziation des anonymen Anrufers befragt.

Der Anwalt der Betroffenen, Johannes Hentschel, ist nun dieses Vorfalls wegen an die Öffentlichkeit gegangen und hat wegen dieser rechtswidrigen Schnüffelei beim Niedersächsischen Sozialministerium  Bußgelder für die insgesamt vier Behördenmitarbeiter beantragt. In zwei weiteren Fällen informierte der engagierte Jurist zusätzlich den Landesbeauftragten für Datenschutz. Begründung: die Praxis der Göttinger Behörden verletze auf eklatante Weise das "informationelle Selbstbestimmungsrecht" der ALG-II-BezieherInnen. Hentschel wörtlich: die im Sozialgesetzbuch II festgeschriebenen Regeln zur Datenerhebung würden von den Ämtern ,,bewußt mit Füßen getreten". Schließlich versuchte der Anwalt sein Glück auch noch bei dem Göttinger Oberbürgermeister, dem Ex-Richter Wolfgang Meyer (SPD), mithilfe einer Dienstaufsichtsbeschwerde. Die Antwort des Sozialdemokraten: ,,Ein Fehlverhalten meiner Mitarbeiterin kann ich nicht erkennen."

Nun, in einer Hinsicht wurde dieser Ex-Rechtswahrer am Göttinger Amtsgericht inzwischen eines anderen belehrt: die betroffene Erwerbslose erhält inzwischen wieder ihr Arbeitslosengeld, da Anwalt Hentschel mit einem Eilverfahren gedroht hatte. Noch also funktioniert, ein bißchen jedenfalls, unser Rechtsstaat. Aber:

,Funktionierte' auch noch das rechtsstaatliche, das demokratische Bewußtsein der anderen beteiligten Staatsvertreter bei diesem Konflikt? Was ist von einem Land zu halten, in dem dieses schon wieder möglich ist: durch bloße Denunziation - anonym zudem - mehrere Dienststellen zu veranlassen, einfach mal so dem Denunzianten zu glauben, einfach mal so der Betroffenen den Anspruch auf rechtliches Gehör vorzuenthalten, einfach mal so der Erwerbslosen ihre materielle Existenzgrundlage zu entziehen? Was ist von einem Land zu halten, wo es erst des energischen Einschreitens eines mutigen Anwalts bedarf, den Rechtsstaat im vorliegenden Fall wiederherzustellen? Und: wo passiert Gleiches in diesem Lande noch - und wir alle erfahren lediglich deshalb nichts davon, weil es dort solche Rechtsbeistände nicht gibt? Oder die betroffenen Menschen, eh schon zermürbt von 5 Jahren Hartz-IV und 5 Jahren Hartz-IV-Hetze gegen sie als ,,Schmarotzer" und ,,Parasiten", trauen sich gar nicht mehr, weil sie dem Staat nicht mehr trauen? Weil sie kaputt sind vom ewigen Kleinkrieg mit den Sozialbehörden, weil sie sich aufgegeben haben? Und nicht zuletzt:

Woran erinnert das alles? Sind wir schon wieder so weit, und bei manchen Mitbürgern lebt die alte Blockwarts-Mentalität wieder auf? Und Behörden und SPD-Stadtrepräsentanten finden das alles überhaupt nicht verkehrt, sondern im Gegenteil, sie beauftragen gleich mehrere MitarbeiterInnen damit, auch ihrerseits diese Schnüffelei fortzusetzen, bei den lieben Nachbarn der denunzierten Person!

Kein Mißverständnis bitte: gleichzusetzen ist damit die Bundesrepublik, ist das Verhalten dieser Mitmenschen und Behörden mit den Verhältnissen und Ereignissen im Dritten Reich nicht. Das käme - immer noch - einer unzulässigen Verharmlosung des nazistischen Terror-Regimes gleich. Aber Parallelen, beängstigende Parallelen, sind festzustellen, und diese zu leugnen, das bagatellisierte auf nicht mehr hinnehmbare Weise die Geschehnisse der Gegenwart.

Daß ein Wolfgang Clement - seinerzeit noch SPD-Arbeitsminister - bereits 2005 keine Hemmungen mehr zeigte, mit seiner ,,Parasiten"-Kampagne gegen ALG-II-BezieherInnen zurückzugreifen auf das antisemitische Propagandavokabular aus Adolf Hitlers ,,Mein Kampf", das findet nun seine Fortsetzung in der Kooperation von Behörden mit miesestem Denunziantentum. Und Politiker, die im Nachkriegsdeutschland Jura studiert haben und jener SPD angehören, deren Mitglieder unter den Nazis in den Arbeitslagern landeten und in den KZ's, können kein ,,Fehlverhalten" erkennen. Sie scheinen es verlernt zu haben, in die Geschichtsbücher zu schauen - und in den Spiegel!



Quelle: http://www.linkezeitung.de/cms/index.php?option=com_content&task=view&id=9155&Itemid=1


Oh Alkohol, oh Alkohol
du bist mein Feind das weiß ich wohl
Doch in der Bibel steht geschrieben
du sollst deine Feinde lieben.

Eivisskat

Zitat
Woran erinnert das alles? Sind wir schon wieder so weit, und bei manchen Mitbürgern lebt die alte Blockwarts-Mentalität wieder auf? Und Behörden und SPD-Stadtrepräsentanten finden das alles überhaupt nicht verkehrt,...

Mich nervt dieses ewige "Sind wir schon wieder soweit" total.  ::)

Bereits seit 2005 mit der Einführung von H4 muß mensch diesen vermeintlich (!) empörten Aufschrei in alle Medien und Blogs lesen. Vermutlich auch schon davor...

Und JA, WIR SIND SOWEIT, aber keineswegs "schon wieder", sondern schon ziemlich lange @liebe taz!!! (in diesem Fall...)!

Und IHR MEDIEN habt daran eine große Mitschuld, weil ihr die Menschen ungenügend aufklärt, beschwichtigt, belügt, vertuscht & was noch alles und schon lange, lange nicht mehr eurer Aufgabe nachkommt, den Menschen zu Respekt und Würde zu verhelfen.

Ratrace

@Kat: So ist es!

Durch die ständige Wiederholung allerorts wird die Frage "Sind wir schon wieder so weit?" von einer ernstzunehmenden, ergründenswerten Grundsatzfrage zu einer hohlen Phrase degradiert, die man immer wieder völlig folgenlos in den Raum leiern kann. Man erwartet ja längst keine ernstzunehmende Antwort mehr auf diese Frage, sondern eher ein resignatives Achselzucken, und das war's dann.
Wenn man dann aber tatsächliche Parallelen zwischen dem Dritten Reich und dem gegenwärtigen Kapitalfaschismus aufzeigt, wird man meist aggressiv abgekanzelt, da das Dritte Reich natürlich "dämonisch" (im Sinne von "von oben gekommen in Form einer höheren Macht, ohne Eingreifmöglichkeit der Menschen" - so sehen es die, die gerne unschuldig wären) war, und wir jetzt alle aufgeklärt und dagegen gefeit seien. Nein, wir "zivilisierten", westlichen Länder sind ja von Barbarei ach so weit entfernt.

Von wegen!

Gleichschaltung der Medien, Gleichschaltung des öffentlichen Diskurses, offene Diskussionen über den Entzug der ÜBERlebensgrundlage für Nichterwerbstätige ("Nicht arbeiten-->nicht essen") - salonfähige Tötungsgedanken aus Politkermunde ohne auch nur einen kleinen Aufschrei der Öffentlichkeit, mediale Hetze aus allen politischen Richtungen (eben auch von angeblichen linken Meiden wie der TAZ, nur dort verpackt in vermeintlich intelligenzgesteuertes Blabla), Versuch der Ghettoisierung der ALOs, Hegemonie der Ausgrenzung, Maulverbot für Kritiker des Kapitalismus (die dann natürlich sofort in die linksextreme Ecke gestellt werden), staatliche Manipulation über die Medien (damals war das "Feindsenderhören" bei Todesstarfe verboten, heute gibt es "Feindsender", sprich: Dem Mainstream nicht hörige, aufklärende Sender nur noch in Nischen, die der Otto-Normalo kaum kennt)... und wir haben Hartz IV erst seit 2005. Also fünf Jahre. Der Entwicklungsspielraum ist nach oben hin durchaus offen, wie wir diesen Sommer gemerkt haben dürften. Der Dammbruch, der seitens der Einheitspartei CDUCSUSPDFDPGRÜNE (noch eine Parallele) eingeleitet wurde, wird wieder mal die Akzeptanz weiterer dramatischer Kürzungen befördern. Und die größte Parallele zwischen dem Dritten Reich und der Gegenwart habe ich ja noch gar nicht genannt: Das Ziel der vollendeten Verwertung des Menschen unter Aberkennung seiner Menschlichkeit. Darauf soll es hinauslaufen. Entweder, Mensch ist produktiv durch Arbeit, oder durch anderweitige Verwertung. Bin mal gespannt, wann die ersten Vorschläge für Zwangsorganspendeausweise - vorerst postmortal - für Hartzer kommen unter dem Deckmantel des Argumentes, das Gesundheitssystem könne die Transplantationsmedizin sonst nicht mehr aufrechterhalten, so daß ein Bonze einfach mal einen sechsstelligen Betrag für ein finanziell dem Untergang geweihtes Krankehhaus spenden kann und im Gegenzug dafür ein Ersatzorgan für ihn oder das eigene Kind erhält. Noch eine Parallele: Ungebrochener Sozialdarwinismus unter dem Dogma der Finanzkraft und sozialen Stellung.

Der Rückfall in faschistoides Staatsgebaren ist längst allgemein akzeptiert. Die Frage "Sind wir wieder...?", vor allem aus Medienmunde, ist ein geheucheltes Feigenblatt, um zu verdecken, daß man etwas bereits verinnerlicht hat, was man nach außen hin "empört" ablehnt.
Das einzig Freie im Westen sind die Märkte.

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