Gewerkschaftliche Kämpfe und Forderungen

Begonnen von Kuddel, 12:21:10 Mo. 13.September 2021

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Kuddel

Es ist ein wenig in Bewegung gekommen.
Linke interessieren sich wieder vorsichtig für Gewerkschaften. Ich finde die Diskussion bisher recht oberflächlich, aber immerhin.
Neben den sozialpartnerschaftlichen DGB Gewerkschaften gibt noch Spartengewerkschaften wie UFO, GDL oder GDS, deren Kämpfe recht interessant sind.
Und es gibt Basisgewerkschaften wie Wobblies und FAU, bei denen sich Entwicklungen vollziehen, die ihnen eine wachsende Bedeutung verleihen könnten.

Es gibt mit Wilden Streiks auch Kämpfe mit enormer Bedeutung, die jenseits der Gewerkschaftsstrukturen geführt werden.

Ich hoffe, daß all das mehr diskutiert wird. Deshalb habe ich diesen Thread eröffnet.

Kuddel

Man hat sich irgendwie daran gewöhnt, daß die Gewerkschaften sagen,  ein Arbeitskampf sei das äußerste und sie zu dem extremen Mittel einer Arbeitsniederlegung nur dann greifen würden, wenn sie vom Arbeitgeber dazu gezwungen werden.

Das klingt ja so, als seien Solidarität und der gemeinsame Kampf um Würde und ein besseres Leben etwas böses.

Ich halte nicht Arbeitskämpfe für schlimm, sondern die sogenannte Normalität.
Wie kann man es normal finden, Tag für Tag aufzustehen, um sich ausbeuten zu lassen?
Wieso soll es erstrebenswert sein, Wohlstandsmüll oder Waffen zu produzieren? 

ManOfConstantSorrow

Sieht schonmal nicht schlecht aus:

USA


Don't work and Get More Rights
Arbeitsscheu und chronisch schlecht gelaunt!

Kuddel

Es ist einfach so, daß viele sich von den Gewerkschaften nicht mehr vertreten fühlen.
Die Prozentforderungen sind bereits idiotisch. Ein Brötchen kostet für jeden das Selbe. Eine Lohnerhöhung bringt nur noch besserverdienenden Facharbeitern der Stammbelegschaften was, die eh schlechtbezahlten Outgesourcten und ungelernten werden mit ein paar Krumen abgespeist.
Inzwischen sehen sich Gewerkschaften gezwungen, Festgeldforderungen aufzustellen. Die vergessen sie meist wieder beim Tarifabschluß.

Wenn man seine Interessen nicht mehr von den Gewerkschaften verteten sieht, greift man auf individuelle Lösungen zurück. Der Gelbe Schein ist zu einem populären Kampfmittel geworden. Die Kündigung und der Wechsel in einen anderen Betrieb, auch in eine andere Branche, wird immer mehr praktiziert. Der Personalmangel an den Krankenhäusern ist der offensichtlichste Beleg für das Versagen der Gewerkschaften.

Ich hatte letzt einen kleinen Disput mit einem Altlinken, der der Meinung war, daß das nichts mit Klassenkampf zu tun hat. Es mag zwar kein kollektiver und organisierter Kampf sein, doch er tritt so massenhaft auf, daß man es fast schon von einer Bewegung reden kann. Man sollte es nicht einfach abtun. Ich denke, man sollte sich schon fragen, ob man darauf aufbauen kann, ob sich hier nicht möglicherweise Klassenkämpfe in einer Form entwickeln, wie wir sie als Linke einfach nicht kennen und nicht erwartet haben.

Kuddel

Geht doch:
ZitatAm vierten Streiktag beim Teiglingswerk in Dommitzsch ist zwischen der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und dem belgischen Lebensmittelkonzern Vandemoortele eine Tarifeinigung gelungen. Bis zum 1.Juli 2022 steigen die Löhne der rund 150 Beschäftigten in zwei Schritten um insgesamt 215 Euro im Monat. Das ist ein Lohnplus von bis zu 11,5%. Der Stundenlohn der untersten Lohngruppe steigt auf 12,01€. Das war eine zentrale Forderung der Streikenden. Dazu zahlt das Unternehmen mit dem Dezemberlohn eine Coronaprämie von 500 Euro.
,,Mit diesem Tarifabschluss haben sich die Beschäftigten selbst ein Weihnachtsgeschenk gemacht. Das ist ein toller Streikerfolg und ein Schritt weg von Niedriglöhnen! Der Tarifvertrag läuft bis zum 31.12.2022. Dann geht es weiter"
https://ost.ngg.net/artikel/2021/tarifeinigung-im-teiglingswerk-dommitzsch/

Im NGG Rahmen hat die Belegschaft ein vorzeigbares Ergebnis erkämpft. Es ist also möglich eine Festgeldforderdung (215€) durchzusetzen bei einer Laufzeit von einem Jahr. "Dann geht es weiter!"
Jawoll!


Kuddel

Südafrika: Streik bei Clover dauert seit dem 22. November 21 an - die Gewerkschaften fordern Verstaatlichung des Molkereikonzerns.

https://www.labournet.de/?p=195732

Hierzulande wagt man es nicht, über Lohnforderungen hinauszudenken. Es ist jedoch entscheidend, die Macht- und Besitzverhältnisse im Betrieb in Frage zu stellen!

Kuddel

Ein Kumpel von mir ist überzeugter Gewerkschafter und bei Verdi organisiert.
Er war in seinem Bundesland in der Tarifkomission bei einer Tarifauseinandersetzung.
Er erzählte, Verdi hätte 8% Lohnerhöhung gefordert, der Arbeitgeberverband dann 10% bewilligt.
In der Transportbranche ist die Personalnot so groß, daß die Unternehmer freiwillig mehr gegeben haben, als gefordert wurde.

Mein Kumpel wollte diese peinliche Situation diskutieren, die Gewerkschaft blockte eine Diskussion darüber ab.

Kuddel

ZitatLuftsicherheitskräfte legen am Flughafen Köln/Bonn Arbeit nieder

Die Gewerkschaft Verdi fordert unter anderem eine Lohnerhöhung von mindestens einem Euro pro Stunde bei einer Laufzeit von zwölf Monaten.
https://www.deutschlandfunk.de/luftsicherheitskraefte-legen-am-flughafen-koeln-bonn-arbeit-nieder-104.html

Festgeldforderung statt Prozentforderung, sehr gut.

Laufzeiten sollten niemals länger as 12 Manate sein.

Das klingt erstmal alles super. Mal sehen, was am Ende dabei herauskommt.

Kuddel

Interessant:

Eine aktuelle Forderung zielt nicht auf mehr Geld ab, sondern auf weniger Arbeit!
Unter den Beschäftigten gibt es weltweit dieses Bedürfnis (es sei denn, der Lohn reicht nicht zum Leben). Endlich taucht es aus gewerkschaftliche Forderung auf:

Schweiz:
ZitatArbeitszeit reduzieren – für eine lebenswerte Zukunft!
https://www.unia.ch/de/aktuell/aktuell/artikel/a/19004

Kuddel

Nach Kita Streik
ZitatDemnach erhalten die Beschäftigten zunächst pro Jahr pauschal zwei zusätzliche freie Tage sowie die Option, Teile ihres Gehalts in maximal zwei weitere Entlastungstage umzuwandeln. Neben den zusätzlichen freien Tagen bekommen Erzieherinnen und Erzieher im kommunalen öffentlichen Dienst zum 1. Juli monatlich 130 Euro mehr. Für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter gibt es ebenfalls ab Juli 180 Euro zusätzlich.

Keine prozentuale Erhöhung, sondern Festgelderhöhungen. Mehr Freizeit!
Eindeutig Schritte in die richtige Richtung. Die Gewerkschaften sehen sich gezwungen, den Bedürfnissen der Mitgliedern entgegenzukommen.

"Hauptsache Arbeit" funzt nicht mehr. Die Leute können nicht mehr und wollen nicht mehr.
Bei den Streiks in den Krankenhäusern in NRW geht es nicht um mehr Geld, sondern um weniger Arbeit. Der Druck soll herausgenommen werden und es wird deshalb mehr Personal gefordert.

Zurück zu den Kitas. Habe ich das richtig verstanden?
ZitatDas Tarifergebnis hat eine Laufzeit von fünf Jahren bis zum 31. Dezember 2026.
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/tarifstreit-kita-101.html

Das ist doch nicht deren Ernst!?!
Es kann doch keine Gewerkschaft ernsthaft einen 5 jährigen Streikverzicht unterschreiben!
Wer weiß denn schon, wie sich die Dinge entwickeln? Vielleicht haben wir demnächst eine zweistellige Inflationsrate.

Kuddel

Hände weg vom Wedding kommentierte das Ergebnis so:

ZitatWas hier von verdi als Erfolg dargestellt wird, ist mit fünf Jahren(!) Laufzeit für die Kolleg*innen eine de facto Minusrunde.

Die 130 bis 180€ werden schon jetzt für Essen & Energie gefressen.

counselor

Bin gespannt, ob die Gewerkschaftsmitglieder das Ergebnis akzeptieren.
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

Fritz Linow

Laufzeit von fünf Jahren klingt leicht bocklos. Ellenlange Tarifverträge mit 30 Monaten oder so erstrahlen auf einmal in hellem Glanz. Schade für die Streikenden. Mit so einem Scheiß schießt sich Verdi nur noch mehr ins Abseits.

Zitat19.5.22
Ver­di will jetzt die Mit­glie­der zu dem Ergeb­nis »befra­gen«, aber eher auf infor­mel­ler Ebe­ne, denn eine Urab­stim­mung ist nicht vor­ge­se­hen.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163930.kita-tarifstreit-kompromiss-mit-bitterer-pille.html

?

dagobert

Zitateine Urab­stim­mung ist nicht vor­ge­se­hen.
Die werden schon wissen, warum ...
"Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden."
Thomas Mann, 1936

Kuddel

Ach, diese elenden DGB Gewerkschaften...

ZitatEine Urabstimmung ist eine Abstimmung über die Durchführung eines Arbeitskampfes nach dem Scheitern einer Tarifverhandlung und dem Auslaufen der Friedenspflicht. Es werden die ver.di-Mitglieder befragt, die unter den Geltungsbereich eines Tarifvertrages fallen und die an den Arbeitskampfmaßnahmen beteiligt werden sollen (§ 70 der ver.di Satzung in Verbindung mit §§ 3-5 der ver.di-Richtlinien über Urabstimmung und Arbeitskampfmaßnahmen).

Soweit mehr als 75 Prozent der nicht verhinderten ver.di-Mitglieder für Streik stimmen, kann der ver.di-Bundesvorstand den Streik genehmigen. Er entscheidet, ob eine Urabstimmung durchgeführt wird. Nach einem Streik, dem eine Urabstimmung vorausgegangen ist, erfolgt grundsätzlich eine weitere Urabstimmung über das Ergebnis. Wenn mindestens 25 Prozent der nicht verhinderten ver.di-Mitglieder dem Ergebnis zustimmen, wird der Streik beendet.
https://www.verdi.de/service/fragen-antworten/++co++8a7bde4c-ab96-11e0-652e-00093d114afd

"Friedenspflicht", pah!
75% sind zum Streiken notwendig, 25% reichen für einen Streikabbruch. Ich glaub, ich spinne.
Aber was ist mit "Nach einem Streik, dem eine Urabstimmung vorausgegangen ist, erfolgt grundsätzlich eine weitere Urabstimmung über das Ergebnis."
Nun also doch nicht "grundsätzlich", man braucht sich nichteinmal um die eigenen windelweichen Regeln zu kümmern??

Fritz Linow

Zitat19.5.22
Ver.di und FAU Freiburg zur Tarifeinigung im Sozial- und Erziehungsdienst

"Ohne die Streiks wäre die Einigung zwischen ver.di und "Arbeitgebern" nicht möglich gewesen."
(...)
https://rdl.de/beitrag/ohne-die-streiks-w-re-die-einigung-zwischen-verdi-und-arbeitgebern-nicht-m-glich-gewesen

Kuddel

ZitatReallöhne zum Jahresbeginn gesunken

Auch ein deutliches Plus bei den Tariflöhnen in den vergangenen Monaten ändert nichts daran, dass Beschäftige Einbußen hinnehmen müssen. Denn die Preise in Deutschland sind erneut stärker gestiegen.
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/konjunktur/realloehne-erstes-quartal-101.html

Tarifabschlüsse, die einen Reallohnverlust bedeuten, sind für'n Arsch. Absolut inakzeptabel.
Die Mitglieder sollten ihren Gewerkschaften aufs Dach steigen für diesen Schwachsinn.
Übrigens, die Renten werden an die Entwicklungen des Tariflohns angepaßt.
Die Rentner werden sich bedanken.

Kuddel

ZitatEntsprechend seien die Verdi-Forderungen für die 58 tarifgebundenen Betriebe in Niedersachsen, Bremen und Hamburg auch gerechtfertigt. Die Gewerkschaft verlangt für die Beschäftigten unter anderem einen nicht näher bezifferten "tatsächlichen Inflationsausgleich" sowie eine Erhöhung der Stundenlöhne um 1,20 Euro.
https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/hafenarbeiter-streik-verdi-bremen-bremerhaven-100.html

Fritz Linow

Neben den schon erwähnten Forderungen wird hier nochmal eine Laufzeit von 12 Monaten verkündet (Filmchen). Man darf gespannt sein:

Zitat
Am Donnerstag legt wohl ein Großteil der 6.000 Beschäftigten im Hamburger Hafen die Arbeit nieder.
https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/hamburg_journal_1800/Hamburger-Hafen-vor-Warnstreik,hamj123036.html

Kuddel

Hafen
ZitatVor einer Woche war die sechste Verhandlungsrunde zwischen der Gewerkschaft Verdi und dem Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe (ZDS) ergebnislos zu Ende gegangen. Die Arbeitgeber hatten ihr Angebot noch einmal nachgebessert, sie bieten bis zu 12,5 Prozent, verteilt auf zwei Jahre. Verdi fordert mindestens einen Inflationsausgleich, und das für alle Beschäftigten. Außerdem soll nach einem Jahr neu verhandelt werden.
https://www.dvz.de/rubriken/detail/news/tarifkonflikt-naechster-hafen-warnstreik-rollt-an.html

Immer diese Versuche, mehrjährige Tarifverträge durchzusetzen...
Die Hafenarbeiter sind kämpferisch.
Verdi traue ich nicht über den Weg.

Kuddel

Mal ganz grundsätzlich: Es darf nicht immer nur auf die Kohle geguckt werden.
Man hat auch andere Interessen. Die Streiks in den Krankenhäusern sind vorbildlich, weil sie nicht mehr Kohle fordern, sondern Arbeitsentlastung. Sie wollen mehr Personal auf Station!

Grundsätzlich halte ich es für wichtig, für eine Reduzierung der Arbeitszeit zu kämpfen. Radikal. Die Gewerkschaften waren geschockt, daß ein Großteil der Kollegen weniger Arbeit für wichtiger als mehr Lohn hielt.

Die Verkürzung der Lebensarbeitszeit ist auch wichtig. Die wenigsten erleben das Rentenalter gesund. Runter mit dem Renteneintrittsalter!!!

Und keine prozentualen Lohnfoderungen. Das Brötchen kostet für jeden das selbe. Es ist nicht ok, wenn die Besserverdienenden einen größeren Lohnzuwachs kriegen, als die unteren Lohngruppen.

Jetzt haben wir eine rasende Inflation. Da müssen wir natürlich auf die Kohle gucken. Deshalb sollte jede Forderung erst einmal den Inflationsausgleich garantieren und oben drauf eine Lohnerhöhung drauflegen.

Daß die Gewerkschaften jetzt reihenweise "Lohnerhöhungen" durchgesetzt haben, die einen Reallohnverlust bedeuten, ist komplett fürn Arsch!

Kuddel

Ich stoße immer wieder auf das gleiche Problem.

Die Gewerkschaften sagen immer, die Unternehmer hätten sie "gezwungen", einen Arbeitskampf einzuleiten und bei einem Abschluß teilt man mit, man könne "endlich" wieder zur Normalität zurückkehren.

Ich glaube, genau an dieser Stelle muß die Kritik ansetzen: Die "Normalität" ist das Problem.
Wir werden Tag für Tag zur Arbeit gezwungen. Urlaub, Krankschreibung oder Rente bieten den einzigen (oft viel zu kurzen) Ausweg. Ein Großteil der Arbeit ist schwachsinnig, nicht nur nervig, sondern sinnlos bis kontraproduktiv. Wir brauchen keine Werbung, keine Rüstung, keinen Konsummüll.

So etwas, wie das Gesundheitswesen, ist sinnvoll. Die Beschäftigten werden dort jedoch verheizt.

Der Kampf im Gesundheitswesen in NRW war legendär.

Die Menschen, die wie in Trance tagtäglich zur Arbeit gegangen sind, sind aufgewacht, um die Grundlagen dieser Arbeitsbedingungen in Frage zu stellen und ein Gesundheitswesen zu fordern, das eine vernünftige Pflege ermöglicht, ohne die Beschäftigten krankzumachen.

Es war traumhauft, wie die Klinikbelegschaften aufblühten und in dem Arbeitskampf neue Wege suchten. Sie taten sich zusammen mit Unterstützern von außen. Sie erfuhren Solidarität von Patienten, Angehörigen, Arbeiter:innen anderer Branchen, anderen Streikenden und von Sozialen Bewegungen. Sie trafen sich außerhalb der Arbeit, sie trafen neue Leute, Bündnispartner und neue Freunde. Es war ein politischer Frlühling, ungeahnte Möglichkeiten taten sich in dem wohlgeordneten, tristen Deutschland auf. Die Lebendigkeit dieses Arbeitskampfes ist wohl ohne Beispiel in der jüngeren Arbeiterbewegung. Die Beschäftigten und ihre Unterstützer sorgten für das Funktionieren einer Notversorgung, doch sie bauten praktischen Druck auf. Sie erkärten, nicht der Arbeitskampf sei das Problem, sondern die Normalität im Gesundheitswesen.

Jetzt hat Verdi einen Abschluß ausgehandelt. Auch linke Medien feiern es als "Sieg".

Ich habe da ernste Zweifel. Ich glaube nicht, daß das Punktesystem mit Anrecht auf zusätzliche freie Tage bei Unterbesetzung, die Personalsituation ersthaft verbessert. Das war aber die zentrale Forderung der Streikenden. Ich glaube nicht, daß es so mehr Personal im Gesundheitswesen geben wird.

Wenn es dann in ein bis zwei Jahren auch so gesehen wird, daß dieser Tarifvertrag sein Ziel verfehlt hat, was dann? Dann wird man feststellen, daß die Gewerkschaft ein 5 jähriges Streikverbot unterzeichnet hat. Nach fünf Jahren ist ein Großteil der streikerfahrenen Menschen raus oder resigniert. Die Kontakte und Netzwerke mit Beschäftigten anderer Betriebe, Stadtteilgruppen und Sozialen Bewegungen existieren dann nicht mehr.

Dieser Abschluß ist in meinen Augen kein Sieg.
Ein vielversprechender Kampf wurde abgewürgt und begraben.

dagobert

Zitat von: Kuddel am 15:48:38 Fr. 22.Juli 2022Dieser Abschluß ist in meinen Augen kein Sieg.
Ein vielversprechender Kampf wurde abgewürgt und begraben.
Warum erinnert mich das jetzt an den Poststreik vor ein paar Jahren?
"Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden."
Thomas Mann, 1936

Fritz Linow

Mir sind die Bewertungen zum NRW-Streik (noch) zu negativ. Bisher gab es kaum Stimmen von den Streikenden. Das Ergebnis wurde anscheinend  von der Basis angenommen und es gibt einen Demokratisierung- und Lerneffekt bei Verdi im Vergleich zum Poststreik. Da wird interessant sein, inwieweit das nur fauler Zauber ist oder nicht.

Ein grundsätzliches Problem bleibt aber schon, dass die Gewerkschaften die Knechtschaft als Normalzustand betrachten, was sich auch in den Arbeitskampfrichtlinien widerspiegelt: Zum Streik benötigt man in der Urabstimmung 75%, zur Beendigung des Ausnahmezustands lediglich 25%. Das versteht man einfach nicht, wenn man sich nicht nach dem ,,Normalzustand" sehnt.

Kuddel

Klar, wenn die Beschäftigten das ok finden, ist meine Meinung eher unbedeutend.
Mir ging es nicht darum, mechanisch zu reagieren, mit einem "schon wieder hat eine Gewerkschaft ihre Mitglieder verraten".

Die Frage, wie weit das Punktesystem auch real so funktioniert wie geplant, kam von Beschäftigten.

Mir geht es um etwas anderes.

Ich fand den Streik mehr als beeindruckend. Alte Gewerkschafter schwärmen gern vom Stahlstreik um die 35 std-Woche 1984. Für mich war der Krankenhausstreik NRW 2022 spannender und positiver. Es entstand in diesem Zusammenhang tatsächlich so etwas wie eine Arbeiter:innenbewegung, sie war basisgetragen und kreativ. In ihr hat sich etwas entwickelt, was wegweisend für weitere Kämpfe sein könnte.

Die Vielzahl an Kontakten, Erfahrungen und Netzwerken wäre eine wichtige Basis für die notwengigen kommenden Kämpfe. Das Streikrecht in Deutschland ist kaum vorhanden. Legal darf man nur dann die Arbeit niederlegen, wenn man sich in einer Tarifauseinandersetzung befindet. Wenn es jetzt 5 Jahre keine Arbeitskämpfe im Krankenhaus geben darf, werden die Erfahrungen und Netzwerke danach kaum mehr vorhanden sein.

Das halte ich für ein entscheidendes Problem. Ich weiß nicht, wie es zu lösen ist. Es sind vielleicht noch Proteste, Öffentlichkeitsarbeit und ähnliches denkbar. Keine Ahnung.

Ein Streikaktivist von Amazon hat mal gesagt, daß er froh darüber ist, daß Amazon sich weigert einen Tarifvertrag zu unterscheiben. Damit sind die Beschäftigten, rein rechtlich gesehen, seit mehreren Jahren in einer Tarifauseinandersetzung und damit können sie jederzeit die Arbeit niederlegen, den Konzern auch mit Spontanstreiks überraschen.

Das Streikrecht selbst und die überlangen Tarifvereinbarungen, die Gewerkschaften häufig unterschreiben, sollten viel mehr diskutiert werden.

Kuddel

JACOBIN kommentierte:
ZitatDie Erfolge in NRW resultieren auch aus einer Erneuerung und Demokratisierung der Gewerkschaftsarbeit selbst. Der gesamte Arbeitskampf – angefangen bei der Forderungsfindung bis hin zu Entscheidungen in den Verhandlungen – wurde auf die Einbeziehung aller Beschäftigten ausgerichtet und so demokratisiert. Die Forderungen einzelner Teams wurden zusammengetragen, mit den Vorstellungen der Teams anderer Kliniken abgeglichen und durch Delegierte in die Verhandlungen getragen – stets auf Basis von Mehrheitsentscheidungen. Wenn die Verhandlungsgruppe der Arbeitgeberseite gegenüber saß, arbeiteten die Delegierten im Nebengebäude an Kompromissvorschlägen oder holten die Meinung der Beschäftigten zu bestehenden Angeboten ein. Die Vertreterinnen sprachen selbst für sich und ihre Kollegen. Das Ergebnis dieser demokratischen und kämpferischen Gewerkschaftsarbeit spricht für sich.

und
ZitatAls sich die Siegesfeier am Kölner Streikposten langsam ihrem Ende neigt, bemerkt ein Mitarbeiter aus dem Patientenservice: »Das eine ist, dass wir gewonnen haben. Darauf bin ich wahnsinnig stolz. Das andere ist, was diese Zeit mit mir gemacht hat. Ich kehre als ein anderer Mensch zurück.«
https://jacobin.de/artikel/das-klinikpersonal-in-nrw-hat-77-tage-gestreikt-und-gewonnen/


Das sind richtige und wichtige Erkenntnisse.

Was mir fehlt, ist die Beschäftigung mit dem "Danach". Ich denke, man ist viel zu fixiert auf die Tarifkämpfe und die Streiks selbst. Aber jeder Arbeitstag ist ein Kampf. Es gibt individuelle Gegenwehr, Absprachen und gemeinsames Vorgehen auf Station. Wir sollten uns auch um diese Kämpfe im Alltag kümmern. Man kann alles nutzen, was in dem langen Arbeitskampf gelernt worden ist. Ich finde all das, was den traditionellen gewerkschaftlichen Rahmen sprengt, besonders spannend. Zusammenarbeit zwischen pflegerischen Personal, Servicebeschäftigten und auch Ärzten. Die Einbeziehung von Patienten, Angehörigen und Öffentlichkeit. Ein weites Feld voller Möglichkeiten.

Kuddel

Zitat,,Russlands Machthaber Wladimir Putin will die westlichen Demokratien destabilisieren und spalten. Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger auf: Treten wir dieser zerstörerischen Strategie durch unseren Zusammenhalt gemeinsam entgegen!" Das kommt nicht vom Verteidigungsministerium, so heißt es vielmehr im neuesten Aufruf ,,Für Solidarität und Zusammenhalt jetzt!", initiiert von der DGB-Gewerkschaft Verdi.
https://overton-magazin.de/krass-konkret/an-der-heimatfront-die-reihen-fest-geschlossen/

Zitat»Gemeinsam durch die Krise!« Dies war das Motto der IG Metall während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09. Zum einen hieß das: (...) Dabei war die »Sozialpartnerschaft« wenige Jahre zuvor eigentlich schon für beerdigt erklärt worden. Vor allem nach dem verlorenen IG-Metall-Streik im Osten 2003 und dem Bruch einheitlicher Tarifverträge im öffentlichen Dienst 2005 hatten die deutschen Eliten die Gewerkschaftsvertreter maximal noch am Katzentisch Platz nehmen lassen. (...) Nun ist erneut Krise – und auch Merkels Nachfolger Olaf Scholz (SPD) setzt auf die Einbindung der Gewerkschaftsspitzen.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165757.konzertierte-aktion-schluss-mit-klassenkampf.html

Kuddel

ZitatZentrale Forderung der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit sei die Entlastung der Beschäftigten etwa durch die Reduzierung der maximalen Flugdienstzeiten sowie die Erhöhung der Ruhezeiten.
https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/streik-lufthansa-cockpit-arbeitskampf-flugausfaelle-gewerkschaft-donnerstag-101.html

Es ist im Grunde überall so. Die Menschen wünschen sich weniger Arbeit und weniger Arbeitsdruck.

Bei den Kämpfen in den Krankenhäusern war das ein zentrales Thema.
Bei den DGB Gewerkschaften wird dieses Bedürfnis der Mitglieder meist verdrängt.

Kuddel

Das Neue Deutschland kommentiert die Verdi Forderung:

Zitat10,5 Prozent sind noch moderat

Und zur Natur von solchen Forderungen gehört, dass sie nie ganz erreicht werden. So wird am Ende vermutlich ein Abschluss herauskommen, der abermals einen Reallohnverlust für die Beschäftigten bedeutet.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1167634.tarifstreit-oeffentlicher-dienst-prozent-sind-noch-moderat.html?sstr=Poelchau

Gewerkschaftliche Forderungen werden den Mitglieder vorgesetzt, formuliert werden sie von den Tarifprofis der Gewerkschaftsführung. Die Distanz zwischen Beschäftigten und Gewerkschaft sollte da nicht wundern.

Kuddel

ZitatBusfahrer im Kreis wollen 1,95 Euro pro Stunde mehr verdienen
https://www.abendblatt.de/region/pinneberg/article236648289/streik-busfahrer-kvip-kreis-pinneberg-verdi.html

Ich freue mich stets über Festgeldforderungen.
In den Verhandlungsergebnissen steht dann da doch zumeist eine prozentuale Erhöhung.

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