Arbeitermasse -- eine physikalische Größe?

Begonnen von Rudolf Rocker, 09:31:39 Mo. 01.Februar 2016

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Rudolf Rocker


Rudolf Rocker

Mal davon abgesehen, das ich mit diesem he­ro­i­sie­renden Arbeitermythos, wie er von Kommunisten (aber auch von Protestanten und Katholiken) gepflegt wird nichts anfangen kann.
Das Ganze hat tatsächlich etwas religiös verklärtes und der Unterschied besteht im Prinzip nur darin, welche Belohnung es am Ende gibt. (Befreiung der Arbeiterklasse vom Joch der Unterdrückung oder Paradies).
Ich persönlich sehe in dem Begriff Arbeit (im Sinne von werktätig sein) nichts positives.
Für mich bedeutet das, ein fremdbestimmtes Leben führen zu müssen.
Dazu gezwungen, gegen die biologische Uhr, um 5 Uhr aufzustehen, sich mit tausenden anderen in den Berufsverkehr zu stürzen, dann 8 (oder mehr) Stunden lang etwas tun, wozu man gar keine Lust hat und sich 8 Stunden lang von irgendwelchen Vollidioten anscheißen lassen müssen, dann völlig übermüdet im Berufsverkehr wieder nach Hause und das dann x 40 Jahre? 8o

...aber ich schweife ab: Ich denke das der Begriff "Arbeiterklasse", so wie er zu Marx oder Lenins Zeiten verstanden wurde, heute keine Bedeutung mehr hat.
Das liegt, wie ich ja schon schrieb, zum einen wohl daran, das sich kaum noch jemand über diesen Begriff identifiziert und daran, das es heute gar nicht mehr so klare Grenzen gibt.
Früher gab es Arbeiterstadtteile, "Arbeitersubkultur", Arbeiterparteien, Gewerkschaften die FÜR die Arbeiter da waren, usw. usw. Da haben noch drei Generationen aus der Familie im gleichen Schacht gearbeitet und wenn der Sohnemann auf die Idee kam studieren zu wollen, hat er vom Alten auf die Fresse bekommen! ;D

Diese Grenzen gibt es doch gar nicht mehr (glücklicherweise). "Arbeiter" gehen heute in die Oper und "Akademiker" ins Stadion. Außerdem hat die prekäre Beschäftigung ja auch längst schon den akademischen Bereich erreicht.
Wenn der Assistenzarzt weniger verdient als der Arbeiter bei VW...warum macht man diese Abgrenzung? Warum beschränkt man sich auf Arbeiter? Was ist mit den Akademikern, mit den Studenten, den Erwerbslosen, den Bauern, den Soldaten? Warum grenzt man die aus? Damit fördert man doch schon von vornherein konterrevolutionäre Strukturen!
Um es kurz zu machen: Warum sprechen wir von Arbeiterklassen, von Arbeitern usw.? Warum sprechen wir nicht von Menschen? Damit würden sich wenigsten alle angesprochen fühlen! ;)

Borg-Praktikant

Ich bin nicht stolz darauf zu arbeiten. Ist man als Arbeiter heroisch? Man ist zumindest kein Ausbeuter. Das Heroische, was Leninisten in Arbeitern sehen, in ihnen sehen wollen, ist mehr das erhoffte Potential als auf den Alltagstrott bezogen. Schließlich wollen sie nichts weniger als die Weltrevolution.

Man schaue sich eine x-beliebige Seifenoper oder Sitcom an und zähle die Minuten, die ein Protagonist auf der Arbeit gezeigt wird, und setze das ins Verhältnis zur realen Lebenszeit die Leute auf der Arbeit verbringen. Wenn das nicht einer der wenigen hochangesehenen Jobs ist (Arzt oder Anwalt), kommt davon typischerweise fast nichts. Warum? -Der Beruf erscheint dem Schreiberling als kein fruchtbares Feld, aus dem viel für eine spannende oder witzige Story wachsen könnte oder ein Ort, wo der Charakter einer Person gut zum Vorschein kommt oder weiterentwickelt wird. Nachdem etabliert ist was für einen Job jemand hat, ist das weitere Zeigen der Arbeit fast so belanglos wie den Charakter beim Schlafen zu zeigen. Und was sagt uns das über die Gesellschaft in der wir leben?

Egal was einem die Glotze zu sagen scheint, es gibt sicherlich mehr Leute, die "klassisch" in Fabriken arbeiten als Popsternchen und Adelige. Die Arbeitermassen gibt es, auch in Deutschland. Klassenbewusstsein gibt es auch, und es ist ziemlich stark, zumindest auf der Ausbeuterseite. Ich mag solche schwammigen Geschichten von wegen Oper oder Fußball nicht. So laufen die Gespräche mit Bonzenkindern: Du kannst ja kein richtiger Prolet sein, weil du bist ja zu intelligent, und solltest deswegen dich nicht vor diese stellen, diese bevormunden, sie verniedlichen, beschönigen, wasauchimmer. Diesen Schuh zieh ich mir nicht an. Das sind Klischees, die bestimmten Kreisen nützen, anderen Kreisen als meinen.

Der Kern der Klassen-Analyse, wie er bei Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx vorkommt, besteht nicht aus einer Aufzählung von Hobbys, die man in Klasse X oder Y haben muss (Klassikradio für die einen, Alkoholismus und Inzest auf dem Fliesentisch für die anderen oder was) — es ist die Unterscheidung, ob du leben kannst von Zinsen, Aktien, Vermieten oder Boss-sein, ODER ob du arbeiten musst. Und wenn du arbeiten musst, ob du direkt das Resultat deiner Arbeit unter Kontrolle hast, oder ob wer anders Eigentümer der Machinen und Werkzeuge ist und den Kram verkauft. Das Verschwinden von Berufen und das Aufkommen neuer Berufe macht dieser Analyse keine Probleme.

Prekäre Akademiker gab es auch schon immer. Dass so viele Leute dies als eine neue Entwicklung sehen zeigt nur, wie viele die Kapitalisten-Lüge gefressen haben vom garantierten Erfolg für Fleiß und Intelligenz. Jetzt kommt sie ihnen hoch, und da wird noch einiges hinterherkommen! :D

Kuddel

Zitat von: Rudolf Rocker am 17:56:54 So. 31.Januar 2016
Dieses Gesülze von den "werktätigen Massen", die es überhaupt nicht mehr gibt und die traurige Tatsache das die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte komplett ignoriert werden, hat Euch komplett ins "Off" katapultiert!
Vielleicht ist der Begriff "Lohnabhängige" besser. Die Arbeitsstunden, die im Land geleistet werden, sind stark angestiegen, ein Hinweis auf das Gegenteil einer "Abschaffung der Arbeit". Z.B. Die Verbreiung von Fertiggerichten ermöglichte es auch Frauen in den Wirtschaftprozeß einzubinden, die zuvor nur für die "Reproduktionsarbeit" (Haus- und Familienarbeit) zuständig waren.

Zitat von: Rudolf Rocker am 10:36:03 Mo. 01.Februar 2016
...aber ich schweife ab: Ich denke das der Begriff "Arbeiterklasse", so wie er zu Marx oder Lenins Zeiten verstanden wurde, heute keine Bedeutung mehr hat.
Marx war da einiges moderner, als du denkst. Er hat bereits die Globalisierung der heutigen Zeit beschrieben. Das Problem sind wohl eher diejenigen, die sich gern auf Marx berufen. Das Arbeiterbild, das vor einem Jahrhundert auch von Kommunisten propagiert wurde, war bereits dann schon Panne. Dieser Kult um den industriellen Massenarbeiter, schloß auch damals einen großen Teil der Klasse aus.





Dieses ganze Machogehabe im Arbeiterbild, eine "kommunistische" Arbeiterkultur, bei der man uniformiert mit Marschmusik und Fahnen durch die Straßen marschierte, konnte ohne Probleme von den Nazis umgemünzt und weiterbenutzt werden.



Der Beitrag von Borg-Praktikant war erhellend. Es geht um das Arbeiterbild und all die Klischees.
Dieses beschissene Arbeiterbild mit Blaumann und Helm wird ja nicht nur von MLPD und DKP weitergetragen, es lebt ja so ähnlich auch weiter in der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften. Dieser Bilderbucharbeiter wird tatsächlich immer seltener. Die Medien sind darauf eingestiegen und haben neben dem gesunden, kräftigen Arbeitsmann nun den Unterschichtenmenschen kreiert, unförmig, chipsfressend, saufend, Trash-TV-glotzend, von Transferleistungen lebend und strohdoof. Und da dieser Unterschichtenproll genauso ekelhaft ist, wie das lebende Arbeiterdenkmal, will nun jeder plötzlich "Mittelklasse" sein. Man sieht es kulturell, es geht ums Image. Egal ob man zum Hungerlohn im Callcenter malocht oder in einer Pseudoselbstständigkeit Tag und Nacht am heimischen Rechner arbeitet, man will auf keinen Fall Proll sein und zählt sich zur Mittelklasse. Diesen Scheiß hat auch die Mayday Bewegung übernommen, um sich abzusetzen, von diesem traditionellen Arbeiter, den man für bildzeitungslesend und DGB-faschistoid hält und beschreibt sich währenddessen selbst als gebildet und unterbezahlt. All das wird immer weiter reproduziert und wenn es irgendwo auf der der Welt zu sozialen Protesten kommt, egal ob in Portugal, Lateinamerika oder China, immer heißt es, es handle es sich um junge, gebildete Menschen der zu schlecht bezahlten Mittelschicht, denn man hält den "Arbeiter" oder gewöhnlichen Proll einfach für zu dämlich zum Kämpfen.
Dieses Denken ist Allgemeingut und auch in diesem Forum zuhaus.

Rudolf Rocker

Zitat...denn man hält den "Arbeiter" oder gewöhnlichen Proll einfach für zu dämlich zum Kämpfen.
Nein, aber sie wurden dämlich gemacht! Und nicht nur die Arbeiter, sondern alle!
Das fängt im Kindergarten an, geht in der Schule weiter (im gesamten Bildungssystem), die Eltern prügeln es ihren Kindern ein und in der Glotze wird dein Gehirn auch weichgespült! (Ich sehe Gymnasialleherinnen die das Dschungelcamp gucken. Natürlich nur um mitreden zu können...ja nee ist schon klar!)
Den ganzen Tag schallt es uns entgegen: "Der Kapitalismus ist toll! Es gibt nichts besseres als den Kapitalismus! Der Kapitalismus ist Alternativlos!"

Die Menschen sind mittlerweile so gehirngewaschen, das sie die Scheiße glauben! Und wenn ihnen doch  Zweifel kommen, rennen sie los und wählen genau die Parteien, die die absolute Reinform des Kapitalismus vertreten; den Faschismus!

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