USA: Der Untergang

Begonnen von Regenwurm, 21:03:59 So. 13.Juli 2008

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Kuddel

In den deutschen Medien hat man zugegeben, daß es in den US-amerikanischen Sozialen Medien eine überraschend positive Reaktion auf die Hinrichtung des Spitzenmanagers Brian Thompson gab.

Ich glaube, das trifft es nicht. Mein Eindruck ist, daß es einen erdrutschartigen Stimmungswandel der der Amerikanischen Gesellschaft gibt. Was man jetzt mitbekommt, ist eine unglaubliche Wut gegen die Superreichen, die eben nicht nur von irgendwelchen Freaks und Linken verbreitet wird. Es sind stinknormale Amis bis weit in die Mittelschicht hinein, die sich nie für Politik interessiert haben, die teilweise Republikaner (Trump) gewählt haben. Alle sind der Meinung, daß man solchen Typen keine Träne nachweinen sollte. Man wünscht sich sogar, daß die anderen Reichschweine auch ins Fadenkreuz geraten.

Ihr Lebensgefühl und ihr tagtäglicher Überlebenskampf bringt sie dazu, sich klar klassenkämpferisch zu äußern.

Das ist zwar noch kein Beginn eines massentauglichen Kampfes, es ist aber ein Klimawandel, der für einen solchen Kampf nötig ist.

Kuddel

Ich verfolge die Debatten in den USA und bin fassungslos.
Es ist radikal, was sich da entwickelt hat. Der Typ, der nen Topmanager des Gesundheitssektors umgelegt hat, wird in den Sozialen Medien als "Nationalheld" oder "Volksheld" gefeiert. Diese Haltung geht durch die Gesellschaft (mit Ausnahme der Reichen) und betrifft keinesfalls nur linke Millieus. Selbst den Rechten gelang es nicht, den Fall für sich auszuschlachten, denn auch ihre Anhänger sympathiesierten mit dem Attentäter.

Mir fiel auf, daß eine Frau sagte, es würde sich in rasender Geschwindigkeit ein Klassenbewußtsein entwickeln, wie sie es in ihrem Leben noch nicht erlebt habe.

Man soll jetzt nichts überinterpretieren. Vielleicht zerstreut sich dieses Gefühl wieder. Ich bin aber überzeugt davon, daß es der Herrschenden Klasse noch in den Knochen steckt, wie schnell die Stimmung gegen sie kippen kann.

Es wird nun auch von den deutschen Medien wahrgenommen.

ZitatCEO-Mord in New York
Die Romantisierung von Luigi M.

Wie kann ein Mensch, der einen anderen umgebracht hat, als Held gefeiert werden? Der Hype um den mutmaßlichen CEO-Mörder speist sich aus Geschichten, die tief in unserer Kultur verankert sind. Aber auch aus echter Wut.
https://www.spiegel.de/kultur/luigi-m-und-der-hype-um-ihn-die-romantisierung-des-raechers-a-92f524b1-9664-4d85-8e9c-6d6488931f5e

ZitatAmerika geteilt:
Der Mörder des CEOs wird zum Volkshelden im Kampf gegen die großen Versicherungen.
https://motorcyclesports.net/de/amerika-geteilt-der-morder-des-ceos-wird-zum-volkshelden-im-kampf-gegen-die-grossen-versicherungen/

ZitatKrankenkassenchef in Manhattan erschossen
Der Mörder und seine Fans
Fünf Tage nach den tödlichen Schüssen auf US-Krankenversicherungschef Brian Thompson ist ein Verdächtiger gefasst und angeklagt. Der Fall offenbart die Wut vieler Amerikaner auf das marode Gesundheitssystem.
https://www.spiegel.de/ausland/brian-thompson-in-new-york-erschossen-der-moerder-des-krankenkassen-chefs-und-seine-fans-a-1c888ce7-2452-41a4-bc2f-e364cd824b9a

ZitatDie gezielte Tötung von Thompson ist eine Zäsur – nicht nur, weil einmal mehr das amerikanische Problem der Waffengewalt in den Fokus gerät. BBC News interviewte den Unternehmer Philip Klein, der in Texas eine Sicherheitsfirma leitet. ,,In den Vereinigten Staaten von Amerika herrscht derzeit viel Wut", sagte er dem Sender. ,,Unternehmen müssen aufwachen und erkennen, dass ihre Führungskräfte überall gejagt werden könnten." Seit dem Tod von Thompson werde er mit Anrufen von Konzernen überschwemmt, die ihre Sicherheitsvorkehrungen erhöhen wollen.
https://www.handelsblatt.com/technik/medizin/united-healthcare-tatverdaechtiger-nach-mord-an-ceo-brian-thompson-festgenommen/100093807.html

Zitat"Was für ein Held": Mörder von United-Healthcare-CEO wird in USA gefeiert

Die Reaktionen auf den Mord am Chef von United Healthcare zeigen, wie tief der Frust der US-Amerikaner über das Gesundheitssystem geht
https://www.derstandard.de/story/3000000248526/was-fuer-ein-held-moerder-von-united-healthcare-ceo-wird-in-usa-gefeiert

counselor

Das Gesundheitswesen in den USA ist berüchtigt, das Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherer ist einfach: Möglichst hohe Beiträge einsammeln und im Versicherungsfall möglichst wenig leisten. So funktioniert Profitmaximierung. Dabei überziehen die Konzerne langsam.

Die Probleme in den USA liegen aber tiefer. Seit Mitte der 1970er Jahre stagnieren die Reallöhne und der Reichtum der herrschenden Klasse ist astronomisch explodiert. Das heißt, dass die USA seit 50 Jahren eine Abstiegsgesellschaft sind. Corona, die Student Loan Debts und die hohe Inflation der letzten Jahre haben das I-Tüpfelchen auf den Frust der amerikanischen Arbeiterklasse draufgesetzt. Der Frust entlädt sich jetzt in Streiks, der Wahl von Trump und in Lynchjustiz.

Ich bin gespannt, wie lange Trump noch lebt, wenn er sein faschistisches Programm in die Tat umsetzt und die Arbeiterklasse weiter angreift und schröpft.
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

counselor

ZitatDie öffentliche Reaktion auf den Mord am CEO von UnitedHealthcare und die amerikanische Realität

...Die politische Situation in Amerika ist komplex, und viele Menschen sind verwirrt. Unzählige Umfragen und Erhebungen zeigen jedoch Misstrauen, Abneigung und sogar Hass gegenüber Versicherungs- und Arzneimittelherstellern, den Großbanken, der Wall Street, den Reichen und so weiter. All dies widerspricht dem fantastischen Bild des amerikanischen Volkes, das die Milliardäre Musk, Bezos und andere Schurken anhimmelt...

Quelle: https://www.wsws.org/de/articles/2024/12/10/pers-d10.html
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

Kuddel

Ich finde, die Süddeutsche hat es gut auf den Punkt gebracht:

ZitatViele Amerikaner sympathisieren mit dem Verdächtigen, der den Versicherungsmanager Brian Thompson erschossen haben soll. Das offenbart ein Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber Großkonzernen und ein vollständig verschwundenes Vertrauen in die Demokratie.
https://www.sueddeutsche.de/meinung/kommentar-mord-in-manhattan-polizei-manager-versicherungen-li.3163400?reduced=true

Sicher, die Süddeutsche findet es schrecklich. Ich halte es für eine hoffnungsvolle Feststellung.

Das politische Klima entwickelt sich hierzulande in eine ähnliche Richtung. Ja, die Großkonzerne machen tatsächlich was sie wollen und die parlamentarische Demokratie ist eine Farce. Sie brachte uns die heutige Situation, eine Welt in ökologischer und militärischer Selbstzerstörung, eine Welt in der sich der Reichtum der Menschheit bei einigen wenigen sammelt, während die Mehrheit verarmt.

Wir haben Unterschichten und die Mittelschicht voller wirrer Vorstellungen und Weltbilder, voller Konflikte und Kämpfe untereinander. Und doch sind das die Menschen, die zusammen kämpfen müssen gegen das Pack, das im Reichtum schwimmt.

In gemeinsamen Kämpfen bewegt sich vieles in den Köpfen, neue Vorstellungen werden möglich. Hier müssen wir ansetzen. Und natürlich geht es nicht um die Einzelpersonen "da oben". Es geht um ein schwachsinniges, selbstzerstörisches System, das allein von der Profitmaximierung getrieben wird.

Wir sollten nicht glauben, daß es eine bessere Welt wird, wenn Musk, Bezos und Co. umgelegt wurden. Die Art, in der wir zusammenleben muß neu organisiert werden. Es geht um Menschlichkeit und Respekt vor der Natur. Weg von dem Wachstumsdenken! Die menschlichen Bedürfnisse sind zu befriedigen, ohne es anderen Menschen oder der Natur zu rauben. Kreislaufwirtschaft und Selbstverwaltung sind anzustreben. Das sind meine stark verkürzten Gedanken dazu.

Nikita

In den USA sterben ca. 70 000 Menschen pro Jahr, weil sie sich keine Krankenversicherung leisten können oder diese die Leistung ablehnen. Krankheitskosten sind dort der Grund Nummer 1, weshalb Menschen bankrott sind.
Eine Krankenversicherung mit geringer Selbstbeteiligung kostet je nach Alter etwa 1500-2000 Euro pro Monat.
Die Versicherung muss jedes Jahr erneuert werden und wird dann teurer.
Eine Knie-OP kostet 30 000 Dollar. Eine Krebs-OP inkl. Untersuchungen mehr als 100 000 Dollar.
Obama Care hat für 20 Mio. Menschen eine Versicherung gebracht. Allerdings nehmen immer mehr Ärzte und Kliniken keine Patienten mit Obama-Care-Versicherung.

Guter Beitrag zum Thema Obamacare:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/gesundheitsreform-in-den-usa-ist-obamacare-eine-100.html

Nikita

Barbarei in den USA von einer religiösen Waffenfanatikerin, die für den texanischen Kongress kandidiert.
V. Gomez veröffentlichte ein Video, in dem sie die Exekution eines Migranten darstellt.
Sie sagt: "Es ist ganz einfach: öffentliche Hinrichtung jedes Illegalen, der einen Amerikaner tötet oder vergewaltigt."



https://economictimes.indiatimes.com/news/international/global-trends/nyc-subway-burning-texas-republican-valentina-gomez-shares-public-execution-video-of-immigrant-internet-calls-it-horrifying/articleshow/116636118.cms

Nikita

Erhebung aus dem Januar
Obdachlosigkeit in den USA auf Rekordwert gestiegen
Mehr als 770.000 obdachlose Menschen wurden in einer Nacht im Januar in den USA gezählt, ein Anstieg um 18 Prozent. Darunter waren beinahe 150.000 Kinder.

In den Vereinigten Staaten ist die Obdachlosigkeit deutlich gestiegen. Nach Angaben des US-Ministeriums für Wohnungsbau und Stadtentwicklung (HUD) vergrößerte sich die Zahl von etwa 653.000 Personen im Januar 2023 auf mehr als 770.000 im Januar 2024 – der höchste jemals registrierte Wert. Er stellt einen Anstieg um 18 Prozent dar. In den USA leben rund 335 Millionen Menschen.

https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/usa-obdachlosigkeit-auf-rekordwert-gestiegen-a-5b4a9bd0-d93f-4a6b-a08f-b8251c2f0b04

Nikita



counselor

Auf der Konferenz treffen sich alle möglichen Faschisten. Auch die AfD darf nicht fehlen.
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

Nikita

https://www.spiegel.de/geschichte/usa-historiker-timothy-snyder-ueber-die-us-regierung-elon-musk-will-europa-kolonialisieren-a-95ee479a-ec4a-4d65-a9af-0873039a86c6


Historiker Timothy Snyder über die US-Regierung

»Elon Musk will Europa kolonialisieren«

Donald Trump und Elon Musk treiben die Weltpolitik vor sich her. Yale-Historiker Timothy Snyder erklärt, wie man dem modernen Imperialismus begegnen kann, welche Ziele die Populisten mit ihrem AfD-Flirt verfolgen und warum Deutschland Bodentruppen in die Ukraine schicken sollte.
Von Eva-Maria Schnurr und Jonas Breng • 15.02.2025, 11.58 Uhr

SPIEGEL: Herr Snyder, seit Donald Trump im Amt ist, reißen die Meldungen über außenpolitische Alleingänge nicht ab: Neue Pläne für die Ukraine, neue Pläne für Gaza, neue Strafzölle. Kann man sagen, dass wir in einer »neuen Zeit« leben?

Snyder: Wer wie Trump von einer »neuen Ära« spricht, will uns weismachen, dass wir die Vergangenheit ignorieren können. Aber das ist falsch. Die entstehenden Tech-Oligarchien sind eine Folge der letzten 30 Jahre mit ihrer schrecklichen Vermögenskonzentration. In den USA lässt sich gerade beobachten, wie eine solche Tech-Oligarchie einen Staatsstreich exekutiert. Zwar behaupten Trump und Musk, dass ihre Politik ein Zukunftsmodell darstellt. Aber das ist nur der Versuch, uns einzureden, dass wir keine Wahl hätten. Wenn alles ständig »neu« ist, fühlen die Menschen sich machtlos – und das ist Absicht.

Timothy Snyder, Jahrgang 1969, lehrt an der Universität Yale und forscht zur Geschichte Osteuropas. Sein Buch »Bloodlands« über Europa zwischen Stalin und Hitler wurde 2010 zu einem Bestseller. 2017 veröffentlichte er »Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand«. 2024 erschien sein Werk »Über Freiheit«.

SPIEGEL: Ist die Allianz zwischen Trump und Musk nicht tatsächlich etwas genuin Neues?

Snyder: Es gab auch in der Vergangenheit reiche Zeitungsmagnaten mit viel Einfluss. Aber die Verschmelzung von Informationsoligarchie und politischer Macht in der jetzigen Form ist ein neues Phänomen. Wir kennen solche Konstellationen aus den dystopischen Romanen des 20. Jahrhunderts. Und die sind eine Warnung, dass solche Verbindungen alternative Realitäten hervorbringen können.

SPIEGEL: Trump hat sich mit Putin bereits auf Verhandlungen für die Ukraine geeinigt, die Ukraine selbst und Europa dabei aber übergangen. Wie bewerten Sie diesen Schritt?

Snyder: Trumps Verhalten deutet darauf hin, dass er will, dass Russland den Krieg gewinnt. Ich hoffe, dass sich das ändert und er sich von Putin nicht schikanieren lässt.
»Trumps faschistische Rhetorik ist das Ergebnis eines gezielten Studiums.«

SPIEGEL: Warum sollte Trump ihm unterlegen sein?

Snyder: Trumps Vorstellung von Stärke beruht auf dem Bruch von Rechtsstaatlichkeit. Man kann Putin aber nicht mit wütenden Tweets oder dem Aufhetzen der Öffentlichkeit einschüchtern. Trump hat Putin in Bezug auf den Ukrainekrieg mehrfach als »Genie« bezeichnet und war sehr unterwürfig, er mag Diktatoren. Entscheidend aber ist: Im Verhältnis zwischen Trump und Russland geht es nicht nur um ein »Wer-ist-der-Stärkere-Spiel«, sondern um klassische Politik. Und dafür interessieren sich die Trump-Anhänger nicht wirklich. Sie reden gern und zerstören Dinge. Aber Außenpolitik lässt sich so nicht gestalten.

SPIEGEL: Weshalb verfängt Trumps »Strongman«-Politik bei so vielen?

Snyder: Sowohl Trump als auch Musk sind politisch sehr intelligent und charismatisch – auf eine Weise, die Liberale nicht sofort verstehen. Trump hat direkt aus der Geschichte der 1920er- und 1930er-Jahre gelernt. Damals war »America First« ein Motto der amerikanischen Sympathisanten des Nationalsozialismus. Daran knüpft er an. Und zwar, um die Demokratie gezielt zu zerstören. Trumps faschistische Rhetorik ist das Ergebnis eines gezielten Studiums.
Unternehmer Musk per Liveschalte auf AfD-Parteitag: »Wie jeder klassische Imperialist greift er die politischen Institutionen an«

SPIEGEL: Elon Musk ließ sich kürzlich auf einem Parteitag der AfD zuschalten. Er kritisierte, die Deutschen würden zu viel Fokus auf ihre Vergangenheit legen. Seit wann interessiert Musk sich für deutsche Politik?

Snyder: Musk ist ein moderner Imperialist – ähnlich den europäischen Kolonialisten des 19. Jahrhunderts. Damals, als die europäischen Mächte Afrika kolonisierten, nutzten sie lokale Clans und Führer, um ihre Macht zu sichern und andere Völker zu dominieren. Heute geht Musk in ähnlicher Weise vor, das erklärt seinen Auftritt auf dem Parteitag.

SPIEGEL: Was will er?

Snyder: Er will Europa kolonialisieren. Im wörtlichen Sinne. Um dieses Ziel zu erreichen, muss er Europa destabilisieren. Wie jeder klassische Imperialist greift er dazu die politischen Institutionen an. In diesem Fall benutzt er die AfD als Bündnispartner, um den deutschen Staat und die Europäische Union zu schwächen. Seine Unterstützung für extrem rechte Bewegungen zeigt, dass er nur an Macht interessiert ist. Im Gegensatz zum klassischen Imperialismus agiert er aber heute in einem globalisierten, technologischen Kontext, in dem Reichtum und Macht in den Händen von Einzelnen konzentriert sind und Staaten an Bedeutung verlieren.

SPIEGEL: Wie erklären Sie den Aufstieg der Populisten weltweit?

Snyder: Populisten sind Produzenten von Angst. Europa und die USA haben schon seit Jahren mit stagnierender sozialer Mobilität zu kämpfen. In den USA ist ein sozialer Aufstieg praktisch unmöglich, während in Europa seit der Finanzkrise 2008 zwar gute Arbeitsplätze geschaffen wurden, aber nicht in ausreichender Zahl. Es gibt also echte, nachvollziehbare Ängste. Das nutzen die Populisten aus und feuern diese Sorgen an. Dabei kommen ihnen die digitalen Medien als Angst-Erzeugungs-Maschinen zugute, die in Zeiten von Unsicherheit und Krieg besonders gut funktionieren.
»In einem Krieg reicht es nicht, nur auf der richtigen Seite zu stehen – man muss auch gewinnen.«

SPIEGEL: Nach Putins Überfall auf die Ukraine verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz vor knapp drei Jahren die »Zeitenwende«. Wie sehen Sie Deutschlands Rolle in dem Konflikt?

Snyder: Deutschland muss endlich verstehen, dass der Krieg in der Ukraine nicht nur eine Frage von Verfahren oder Normen ist. In einem Krieg reicht es nicht, nur auf der richtigen Seite zu stehen – man muss auch gewinnen. Der Ansatz, zu den »Guten« zu halten, aber nicht aktiver auf einen Sieg hinzuarbeiten, wird langfristig alle enttäuschen, auch die Ukrainer.

SPIEGEL: Aber Deutschland ist der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine. 44 Milliarden flossen seit Kriegsbeginn nach Kyjiw.

Snyder: Wir alle wissen, dass dies nicht einmal annähernd genug ist. Da reicht ein Blick auf die Kosten des Irakkriegs.

SPIEGEL: Laut Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat er die USA insgesamt drei Billionen gekostet.

Snyder: Kein Wunder, dass die Ukrainer mehr verlangen. Indem wir ihnen nicht genug Waffen und Unterstützung gegeben haben, haben wir viele ihrer Leute getötet.

SPIEGEL: Was erwarten Sie von Deutschland?

Snyder: Die Ukrainer haben uns drei Jahre lang ein normales Leben ermöglicht, indem sie verhindert haben, dass Putin seinen Imperialismus weitertreibt, etwa das Baltikum angreift. Sie haben mit Blut bezahlt, während wir über Demokratie diskutierten. Damit müssen unsere politischen Diskussionen beginnen. Nicht damit, dass wir ihnen vorrechnen, was wir für sie getan haben.

SPIEGEL: Die Deutschen begingen während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine monströse Kriegsverbrechen. Hätte Deutschland nach einem möglichen Waffenstillstand aus historischer Sicht die Pflicht, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden, oder muss es gerade wegen der deutschen Vergangenheit dort darauf verzichten?

Snyder: Deutsche Bodentruppen in der Ukraine wären aus meiner Sicht völlig normal und nach einem Waffenstillstand auch notwendig. Es muss eine vernünftige Abschreckung geben, um zu verhindern, dass der Konflikt erneut aufbricht. Wir sollten unsere Entscheidungen darüber nicht davon abhängig machen, wie sich Deutschland am bequemsten an den Zweiten Weltkrieg erinnern kann.

SPIEGEL: Hat Elon Musk also doch recht, wenn er will, dass sich die Deutschen von ihrer Geschichte befreien?

Snyder: Nein. Es geht aber um ein zentrales Thema: Deutet man die Geschichte so, wie es subjektiv gerade am passendsten ist? Oder geht es um die wahren, historischen Lehren? Der Zweite Weltkrieg endete nicht, weil das deutsche Volk seine Hände hob und »Freiheit« rief. Der Krieg endete, weil die Deutschen auf dem Schlachtfeld besiegt wurden, weil die demokratischen Länder siegten. Und das muss die Blaupause für heute sein. Die Deutschen machen es sich zu leicht, wenn sie die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg so interpretieren, als wenn Frieden allein schon reicht.
»Die Lieferung bestehender militärischer Ausrüstung sollte in Deutschland ohne Tabus geführt werden.«

SPIEGEL: Die Entsendung von deutschen Truppen in die Ukraine würde in der deutschen Öffentlichkeit heftigen Widerstand auslösen.

Snyder: Dann sollte man fragen: Wie kam es nach dem Zweiten Weltkrieg dazu, dass Westdeutschland überhaupt existieren konnte?

SPIEGEL: Die Präsenz von amerikanischen, britischen und französischen Truppen bewahrte die Westdeutschen vor dem Zugriff der Sowjetunion.

Snyder: Genau. In diesem Sinne ist es absurd, nach einem Waffenstillstand keine Truppen in die Ukraine zu schicken. Denn sie steht, anders als die Nazis damals, auch noch auf der richtigen Seite, auf der Seite der Demokratie. Die Erwartung, dass im Falle eines Waffenstillstands eine Koalition von Europäern Bodentruppen zur Friedenssicherung schickt, um die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Kriegs zu reduzieren, ist völlig legitim. Aber wir lassen uns viele Gründe einfallen, warum das nicht geht.

SPIEGEL: International mehren sich Stimmen, wonach der erbitterte Widerstand der Ukrainer einen Krieg nur verlängere, den Kyjiw ohnehin nicht gewinnen kann.

Snyder: Das ist so, als würde man sagen, Polen hätte 1939 nicht kämpfen sollen, weil es dann keinen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte. Aber dann hätten die Deutschen Osteuropa dominiert und der Holocaust wäre bis zum letzten Juden vollendet worden. Das historische Beispiel zeigt das Gegenteil. Wenn die Polen nicht gekämpft hätten, wären die Briten nie in den Krieg eingetreten, die Amerikaner hätten nie Truppen nach Europa geschickt und Deutschland hätte gewonnen. Freiheit bedeutet nicht, sich frühzeitig vor einer aggressiven faschistischen Macht zu ergeben.


SPIEGEL: Welche Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg wurden aus ihrer Sicht in der Ukraine übersehen?

Snyder: Der Zweite Weltkrieg war ein militärischer Konflikt, in dem jene Nationen siegten, die ihre wirtschaftlichen Ressourcen am besten mobilisierten. Genau das haben Deutschland, die Europäer und selbst die Amerikaner im Ukrainekrieg versäumt. Dieser Krieg hätte schnell vorbei sein können. Aber wir haben uns geweigert, diese Lektion aus der Geschichte zu lernen – auch die Deutschen.

SPIEGEL: Ein militärisches »All-in« hätte den Krieg atomar eskalieren können.

Snyder: Der Krieg ist auch so eskaliert und hat Hunderttausende Menschen das Leben gekostet. Die Folge ist die Konsolidierung von Putins totalitärem Regime. Und das hat dazu geführt, dass Russland zu einer Art Vorbild für antidemokratische Kräfte weltweit wurde. Putin behauptet, er könne den gesamten Westen besiegen. Es ist ein großes Problem für die Demokratie, dass die demokratischen Länder scheinbar nicht in der Lage sind, ein viel ärmeres Land zu bezwingen. Das sendet eine gefährliche Botschaft nach China, Indien und in die ganze Welt: Der Westen ist nicht so stark, wie er behauptet. Was also ist so großartig an diesem demokratischen Modell?
»Ich habe nicht das Recht, Angst zu haben.«

SPIEGEL: Noch einmal: Was erwarten Sie von Deutschland?

Snyder: Ich erwarte, dass sie klar sagen, dass der Krieg gewonnen werden muss. Nordkorea, China und Iran helfen Russland, also hätte ich erwartet, dass auch die Deutschen sagen würden: »Dies wird ein langer Krieg, was können wir mit unserer Wirtschaftskraft tun, um sicherzustellen, dass die richtige Seite gewinnt?« Die Lieferung bestehender militärischer Ausrüstung sollte in Deutschland ohne Tabus geführt werden.

SPIEGEL: Fürchten Sie keinen dritten Weltkrieg?

Snyder: Ich habe nicht das Recht, Angst zu haben. Außerdem spreche ich nicht gern über solche Gefühle, weil sie als Instrument eingesetzt werden. Putin will uns mit seiner Drohung eines Atomkriegs einschüchtern. Das Ergebnis ist, dass wir entweder nichts tun oder den Forderungen des faschistischen Regimes nachgeben, das in ein anderes Land eingedrungen ist – eine absurde Schlussfolgerung. Also nein. Ich habe keine Angst vor einem dritten Weltkrieg.

SPIEGEL: Nehmen wir an, Trump hat Erfolg und es kommt zu einem Waffenstillstand in der Ukraine. Was würde das für die liberalen Demokratien bedeuten?

Snyder: Ein Waffenstillstand ist wahrscheinlicher als ein großes Friedensabkommen. Ein Deal zwischen Trump und Putin sollte uns aber nicht passiv machen. Nach der Devise: »Warten wir ab, was die großen Männer tun.« Stattdessen sollten wir die Situation wie in Südkorea oder in Westdeutschland behandeln. Obwohl es damals keinen formellen Friedensvertrag gab, wurden die Zonen mit Hilfsgütern überflutet. Man tat alles, um die Wirtschaft wieder aufzubauen.

SPIEGEL: Wie soll das einen Frieden sichern?

Snyder: Es ist eine der Lehren aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Damals war es schon nach kurzer Zeit nicht mehr realistisch, dass Russland in Westdeutschland einmarschiert. Nicht nur wegen der Präsenz der Amerikaner, sondern auch weil Westdeutschland in nur zehn Jahren ein unglaublich erfolgreiches Land wurde. Das ist auch in der Ukraine möglich, wenn sie nach einem Waffenstillstand schnellstmöglich in die EU aufgenommen wird. Es wäre eine historische Gelegenheit, die die Europäer nutzen müssen.

Nikita

Die Tech-Bros wissen, weshalb sie sich vor Trump in den Staub werfen. Ganze Städte sollen unregulierte Sklavenzonen werden. Jedes mühsam erkämpfte Recht soll außer Kraft gesetzt werden. Dystopie pur.

Unregulierte Tech-Tests: Thiel, Altman und Co wollen Freedom Cities

Im Weißen Haus sollen Gespräche geführt werden, wie man Freedom Cities in den USA errichten kann – Städte ohne Regulierung.

Klinische Tests ohne Genehmigung, autonome Autos ohne Auflagen, Kernreaktoren und Nuklearenergie ohne staatliche Überwachung und eine Sonderwirtschaftszone, in der es kaum Steuern zu zahlen gibt und auch die Rechte von Arbeitskräften außer Kraft gesetzt werden. So stellen sich zahlreiche Chefs der Big-Tech-Unternehmen und US-Investoren die Zukunft vor – von Peter Thiel bis Sam Altman und Marc Andreessen. Donald Trump soll es möglich machen. Schon 2023 hatte er im Wahlkampf davon gesprochen, solche Freedom Cities in den USA zu ermöglichen.

Es gibt bereits seit 2020 eine Freedom City: Próspera auf der honduranischen Insel Roatán, die unter anderem von Thiel und Andreessen finanziert wurde. Genehmigt wurde das von der ehemaligen Regierung Honduras, doch nach einem Wechsel müssen die Startups vor Ort bangen. Die aktuelle Regierung betrachtet den Status als illegal, die Bürger sollen das Projekt ablehnen, es gibt einen Rechtsstreit über die Aufhebung des Sonderstatus.

Pläne, solche Städte auch in den USA zu errichten, gibt es schon länger. Wired berichtet nun über Treffen der Gruppe mit Vertretern des Weißen Hauses. Die Interessengemeinschaft nennt sich Freedom Cities Coalition. "Entfesseln Sie mit Freedom Cities die Dynamik Amerikas" heißt es auf der Webseite der FCC. Die "Wohlstand-Zonen" seien eine einmalige Gelegenheit, die Krise auf dem Wohnungsmarkt zu lösen, die amerikanische Produktion nach Hause zu holen und das volle Potenzial amerikanischer Unternehmen zu entfesseln.

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https://www.heise.de/news/Unregulierte-Tech-Tests-Thiel-Altman-und-Co-wollen-Freedom-Cities-10309769.html

Kuddel

Daß man mit Entsetzen und Befremden auf das blickt, was Musk und Trump gerade anstellen, kann nicht verwundern.

Dabei vergißt man, daß die Demokratische Partei keine Alternative darstellt. Die ist auch völlig hinüber, korruppt, neoliberal, arbeiter-, armen- und migrantenfeindlich, imperialistisch und kriegsgeil. Die kann man einfach nicht wollen. Bernie Sanders ist ein einsamer Rufer in der Wüste, er redet vernünftig und menschlich, doch er ist nicht die Stimme der Partei.

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