Wohngeldempfänger sollen neue Sozialbetrüger werden

Begonnen von Nick N., 16:48:17 Mo. 11.Juni 2012

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Nick N.

Sozialbetrüger gesucht - Erwerbslose liefern nicht mehr

Der Sozialbetrug durch Erwerbslose war im Jahr 2011 zurückgegangen, im Gegensatz zu den Sanktionen und Leistungskürzungen, die stark anstiegen. Die Mär vom faulen und betrügerischen erwerbslosen Parasiten spielt jedoch nach wie vor eine tragende Rolle bei der Rechtfertigung der neoliberalen Sparpolitik. Daher werden jetzt neue Sozialbetrüger gesucht.
Auch der gigantische Aufwand läßt nicht nach, Erwerbslosen Betrügereien nachzuweisen, die diese meist einfach nicht begehen oder begangen haben.

Nun möchte die Bundesregierung offenbar auch Wohngeldempfänger stärker in diese Kriminalisierung mit einbeziehen, wie ein Gesetzesvorhaben zeigt, das im Rahmen des Boykotts der Fußball-EM aufgefallen ist. https://www.chefduzen.de/index.php?topic=25686.msg259381#msg259381
Am Donnerstag, 13. Juni, einen Tag nach dem EM-Spiel Deutschland gegen die Niederlande, listet die Tagesordnung des Bundestages die erste Beratung über die "Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften".

Die entsprechende Drucksache hat die Nummer 17/9851.

Der Gesetzentwurf zielt auf die "Vermeidung rechtswidriger Inanspruchnahme des Wohngeldes und damit auch der Einsparung von Haushaltsmitteln des Bundes und der Länder."

Dazu soll der Datenabgleich intensiviert werden.
Unter anderem soll es Gegenstand des Datenabgleiches werden, bei welchem Arbeitgeber der Wohngeldberechtigte arbeitet.

ZitatDaneben soll die Wohngeldstatistik bei der Erhebung der Merkmale Erwerbsstatus und Geschlecht auf alle zu berücksichtigenden Haus- haltsmitglieder ausgeweitet und die Erhebung von Kindern und jungen Erwachsenen vereinfacht werden (§ 35 WoGG).

Außerdem wird u.a. "klargestellt, dass Kreditinstitute für Bankauskünfte, die der Ermittlung des wohngeldrechtlichen Einkommens dienen, eine Entschädigung erhalten."
ZitatDie Entschädigung der Kreditinstitute, die der Wohngeldbehörde Auskünfte über Kapitalerträge von wohngeldberechtigten Personen erteilen, beläuft sich auf unter 50 Euro pro Auskunftsersuchen. Da die Anzahl der Bescheinigungen nicht bekannt ist, können die Kosten für die Wohngeldbehörden nicht beziffert werden.
Das bedeutet: pro Einzelperson, nicht pro Haushalt. Ein nettes Häppchen für die notleidenden Banken, denn merke: Kleinvieh macht auch Mist.

Die Regierung bemüht sich, den Kostenaufwand für das Vorhaben als gering darzustellen.  Datenabgleiche werden aber regelmäßig und für alle Empfänger unabhängig von einem Anfangsverdacht durchgeführt, quasi als Rasterfahndung.
Der tatsächliche Aufwand für solche intensiven Recherchen kann in allen Erwerbslosenforen bewundert werden.

Die Drucksachen enthält übrigens auch den Hinweis, daß es im Bereich des SGB bereits üblich ist, die Banken für jeden einzelnen Datenabgleich zu entschädigen. Welche Summen da zusammenkommen, wäre eine interessante Anfrage im Sinne der Steuerzahler und der kriminalisierten Erwerbslosen zugleich.

Und, wie könnte es auch anders sein:
ZitatC. Alternativen
Keine.

Alle Zitate aus der Bundestagsdrucksache 17/9851

P.S.: Der obige Beitrag kann gerne im Ganzen kopiert und auch anderswo veröffentlicht werden, mit einem Link hierher zum thread als Quellenangabe.
Satyagraha

Aloysius

Ich sollte mich sofort aufm Amt bewerben, neue Schnüffler braucht das Land.

Frau Merkel fährt uns langsam aber sicher in die DDR zurück.
Reden wir drüber

blackadder

Na, wenn alle schön schnüffeln, dann ist es ja nicht so schlimm,
das  Porsche / VW  bei der Fusion durch einen Steuertrick
den Staat um 1,5 Milliarden besch...

ZitatClevere Fusion soll 1,5 Milliarden Euro Steuern sparen
Porsche und VW haben offenbar einen Weg gefunden, um ihre Fusion ohne Steuerzahlung umzusetzen. Dem Staat entgingen so laut Medienberichten 1,5 Milliarden Euro Steuern. VW übernehme die Porsche-Sportwagentochter schon in den kommenden Wochen für mehrere Milliarden Euro - und eine VW-Stammaktie.
Quelle : ard.de
Siehe auch: http://www.swr.de/nachrichten/bw/-/id=1622/nid=1622/did=9858336/1ahszso/index.html

Nick N.

Statt die Banken für die Datenabgleiche zu bezahlen, könnten die sich demzufolge auch mit einer handelsüblichen Zeitung behelfen, wenn sie Informationen darüber suchen, wie sie den Staatshaushalt entlasten können!  >:D
Satyagraha

blackadder

Der Witz ist
ZitatSchmid will "ergebnisoffene Prüfung"Schmid erläuterte, er sei für eine "ergebnisoffene Prüfung", ob das Schlupfloch geschlossen werden sollte. Der Wirtschaftsminister verwies aber darauf, dass auch kleine und mittlere Unternehmen die Steuermöglichkeit nutzen könnten. Es sei deshalb zu prüfen, ob eine Änderung zu großen Nachteilen für diese Firmen führen würde.
Quelle:http://www.swr.de/nachrichten/bw/-/id=1622/nid=1622/did=9858336/1ahszso/index.html

Noch Fragen ?

Nick N.

Zur Ausführung eines Teils des noch nicht beschlossenen Gesetzes gibt es schon eine Verordnung. Die entsprechende Drucksache des Bundesrates Nr. 178/12 datiert vom 30.3.1012. Die Verordnung ist schon beschlossen, obwohl das Gesetz bzw. der Paragraph, auf das sie sich bezieht, noch nicht beschlossen ist (bzw. seine Änderung, die zu der Verordnung ermächtigen soll.)

http://dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2012/0178-12.pdf

ZitatAuf Grund des § 38 Nummer 3 des Wohngeldgesetzes vom 24. September 2008 (BGBl. I
S. 1856), der durch Artikel 1 Nummer 8 des Gesetzes vom [Ausfertigungsdatum des Dritten
Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften] (BGBl. [Fundstelle]) geändert
worden ist, verordnet die Bundesregierung:

Ich kann nicht beurteilen, ob das ein völlig normales Geschäftsgebaren in einer Demokratie oder einem Rechtsstaat ist, aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung, die noch nichtmal beschlossen, geschweige denn in Kraft ist, eine Verordnung zu erlassen.
(Für die jetzige Bundesregierung dürfte es jedoch eine Bagatelle sein. Legal, illegal, scheißegal.)

Die Verordnung soll am 1.1.2013 in Kraft treten.
Der Datenabgleich ist näher beschrieben, auch die Kosten dafür.
Die Gebühren für die Banken finden allerdings keine Erwähnung. (Edit: Mit den Banken wird auch nicht auf regelmäßiger Basis abgeglichen. Die Bankdaten gehören also offenbar zumindest nicht zur Rasterfahndung.)

Wichtig scheint mir der Halbsatz:
Zitat... bei den Wohngeldbehörden entstehen derzeit nicht quantifizierbare Kosten.
Die Mitarbeiter der Wohngeldbehörden müssen die Daten der von ihrer Dienstleistung Betroffenen erfassen, aktualisieren, den Leuten entweder erklären, warum die Daten erhoben werden und was mit den Daten geschieht (oder ihre Beratungspflicht verletzen), und die Ergebnisse des Datenabgleichs wieder weiterverarbeiten.
Der Kontrollaufwand "am Mann" ist enorm, wie Erwerbslose in den Leistungsabteilungen der JobCenter beobachten können.

Gleichzeitig steigt die Belastung der Behörden und ihrer Mitarbeiter durch Veränderungen am Wohnungsmarkt. Steigende Mieten, Heiz-  und Nebenkosten, bei gleichzeitig zunehmender Verarmung eines Teils der Bevölkerung nötigen die Haushalte, Wohngeld neu zu beantragen.

Statt Lösungen zu erarbeiten, wird auch hier das Geschrei von den Sozialschmarotzern angestimmt.
Als würde dadurch bezahlbarar Wohnraum entstehen!

These:
Die (wirtschaftlichen) Schwierigkeiten der Haushalte, bezahlbaren Wohnraum zu finden, und Arbeit, die es erlaubt, diesen selbst zu finanzieren, löst die Reaktion aus, daß sie kriminalisiert werden.

Und auch hier:
ZitatC. Alternativen
Keine.
Satyagraha

blackadder

ZitatDie (wirtschaftlichen) Schwierigkeiten der Haushalte, bezahlbaren Wohnraum zu finden, und Arbeit, die es erlaubt, diesen selbst zu finanzieren, löst die Reaktion aus, daß sie kriminalisiert werden.
So sehe ich das auch.
Der Gesetzgeber hat mal wieder Ursache und Wirkung verwechselt.

Nick N.

Das Parlament hat sich dann tatsächlich auch mit der Sache befaßt. Das sah so aus:
http://dbtg.tv/fvid/1749110
keine Sorge, der Film dauert nur 21 Sekunden.
Die Reden zum Thema wurden "zu Protokoll genommen", der Gesetzentwurf an die Ausschüsse verwiesen.

Im Protokoll sind die Reden auch tatsächlich zu finden.
ZitatGero Storjohann (CDU/CSU):
"...Auch derBundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen e. V. unterstützt unsere Pläne deshalb ausdrücklich..."
Daniela Ludwig (CDU/CSU):
"...Es macht den Eindruck, als sei es ein gelungener Entwurf, über den wir hoffentlich nicht viel streiten werden..."
Michael Groß (SPD): (?)
Petra Müller (Aachen) (FDP):
"...Hier geht es weder um den Schnüffelstaat noch soll irgendwem ein Anspruch auf Sozialleistungen streitig gemacht werden. ... Einsparungen, wo möglich, Anspruchsgerechtigkeit, wo nötig, Bürokratieabbau, wo er sinnvoll ist: Das ist liberale Politik, in diesem Fall christlich-liberale Politik..."
Heidrun Bluhm (DIE LINKE):
"...Es hat ganz den Anschein, dass die Bundesregierung in voller Breite und mit preußischer Gründlichkeit gegen die Mieterinnen und Mieter in diesem Land vorgehen will.
Erst dieser unsägliche und völlig überflüssige Entwurf eines ,,Gesetzes über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln", dann die permanenten Fluchtversuche aus den Verpflichtungen zur sozialen Wohnraumförderung mit ungewissem Ausgang und nun dieses ,,Dritte Gesetz zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften".
Das alles passt zusammen und wirft erneut ein grelles Licht auf das Denken und Handeln dieser Bundesregierung. Der politische Anspruch des eingebrachten Entwurfes ist nicht: Wie kann den rund 900 000 Menschen in diesem Land geholfen werden, die auf Wohngeld angewiesen sind, weil sie sowieso schon nicht wissen, wie sie sonst ihr alltägliches Leben fristen sollen?
Nein, es geht darum, wie die von diesen schreienden sozialen Missständen betroffenen Menschen noch effizienter verwaltet, überwacht und ausgepresst werden können. Dieser Gesetzentwurf zeugt von einem tiefen Misstrauen eines Obrigkeitsstaats seinen Untertanen gegenüber
...
Was die Menschen – besonders die von diesem Gesetzentwurf Betroffenen; es handelt sich dabei zu einem ganz überwiegenden Teil um Rentnerhaushalte – stattdessen brauchen, ist zunächst die Wiederberücksichtigung der Heizkosten bei der Wohngeldberechnung, die ja auch von dieser Koalition zum 1. Januar 2011 gestrichen worden war, und zwar mit der völlig weltfremden Begründung, die Heizkosten seien gesunken.
Angesichts der tatsächlich steigenden Mieten und der geradezu explodierenden Heiz-, Energie- und Wasserkosten sowie anderer wohnnaher Kosten und Gebühren ist eine Erhöhung des Wohngelds nötig, weil immer mehr Mieterhaushalte einen immer größeren Teil ihres Einkommens für Wohnkosten auszugeben gezwungen sind.
Mehr als 40 Prozent der deutschen Mieterhaushalte müssen heute schon die Hälfte ihres monatlichen Nettoeinkommens für Wohnkosten aufwenden. Da diese Haushalte schon jetzt keine Einkommens- und schon gar keine Vermögensreserven – wie der vorliegende Gesetzentwurf unterstellt – mehr haben, müssen sie bei anderen lebensnotwendigen Ausgaben sparen und verzichten. Es droht in diesem Land eine neue, flächendeckende, durch Wohnkosten verursachte Armut. Das ist der eigentliche Skandal. Dagegen muss der Gesetzgeber dringend aktiv werden.
Angesichts der tatsächlichen, für immer mehr Menschen spürbaren und für einen wachsenden Teil der Bevölkerung existenzbedrohenden Wohnprobleme brauchen wir ein klares Bekenntnis der Politik zum Wohnen als sozialem Grundbedürfnis und ein daran orientiertes Regierungshandeln..."
Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): "..Der von der Bunderegierung eingebrachte Gesetzentwurf ist in seiner inhaltlichen Ausrichtung weitestgehend unproblematisch.."


Am Donnerstag, den 28.6. (zweites Halbfinalspiel der EM)  taucht der Gesetzesentwurf dann wieder in der Tagesordnung auf, wenn man auf "52. Abschließende Beratungen ohne Aussprache" klickt:
ZitatZweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften
> Drucksache 17/9851 <
Das bedeutet, die Abgeordneten der Regierungsfraktionen heben zweimal die Hand, und damit ist das Ding im Parlament durch und kommt in den Bundesrat.
Dann unterschreibt noch der Typ, der not my President ist, fertig.
http://de.wikipedia.org/wiki/Gesetzgebungsverfahren_%28Deutschland%29

Ich finde dieses Gesetz wirklich fies, aber verglichen mit ein paar anderen Sachen auf diesen Tagesordnungen ist es eher noch ne kleinere Sache.
Satyagraha

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