Die Stadt der Zukunft

Begonnen von Ferragus, 22:15:49 So. 07.Juni 2020

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Ferragus

Die Wohnungsnot hat dazu geführt, dass man sich wieder Gedanken macht über Enteignungen, nachbarschaftlichen Zusammenhalt und Einstellungen von Mietzahlungen - wie gewöhnlich hoffen nicht Wenige auf den Staat, der es richten soll, obwohl er Teil des Problems ist.

Aber etwas fehlt bei diesen drängenden Problemen:  die Empörung über und die überlegte Ablehnung der Gestalt und Struktur der heutigen Großstädte und ihrer Einzelteile. In meinen Augen ist da Einiges reif für die Abrissbirne und ich frage mich, ob ich den Tag noch erleben werde, an dem die Lohnabhängigen über Architekten, Bauingenieure, Bauleiter und Städteplaner Gericht halten werden.
Im Gegenteil gibt es, auch hier in Berlin, immer wieder Stimmen, die an einen Lokalpatriotismus erinnern und "ihre"  Viertel gegen das Kapital und seinen Anhang verteidigen wollen - sie sehen nicht, dass da nichts ist, dass verteidigt werden müsste bzw. könnte.

Um 1848 schrieb Engels ein Ziel  in die Grundsätze des Kommunismus: "Zerstörung aller ungesunden und schlecht gebauten Wohnungen und Stadtviertel. "
Der Gedanke ist wieder aufzunehmen und dem gegenwärtigen Stand von Stadt und Bautechnik anzumessen.

Ferragus

Es soll also nicht nur der Preis der Ware Wohnraum problematisiert werden, sondern auch ihre Qualität. Man kann mal darüber nachdenken, wie die Wohnung und die Stadt, in der man leben muss, aussehen würde, wenn man bei ihrem Bau, auch am Reißbrett, demokratisch beteiligt gewesen wäre. Es dürfte sich dann ein Lücke zeigen zwischen Bedürfnissen und Wirklichkeit. Die heutigen Städte wuchern planlos in alle Richtungen, wenn geplant wird dann in winzigen Dimensionen und unter destruktiven und die Fantasie hemmenden Beschränkungen - der Finanzierbarkeit und den Eigentumsverhältnissen.
Diese Städte sind aber Prägestöcke für ihre Bewohner. Was sehen und durchfahren wir da tagtäglich - und welche Spuren hinterlässt das? Freude macht der Anblick nicht.
Ein gewaltiges Problem: die gegenwärtige Stadt ist eine riesige. verstopfte Transportanlage - man sieht ja fast nichts als Automobile und Bahnanlagen - dazwischen ein bisschen Grün - welche die Kerne und Arbeitsplätze mit den Schlaf-Stadtteilen verbinden.

Frauenpower

Die Broschüre "smart City" von der RLS könnte dann gut hier noch hinein passen.

Und ich habe noch was entdeckt:
https://www.kritischeaktionaere.de/
Muss ich aber selbst Mal noch lesen

Kuddel

Zitat von: Ferragus am 22:15:49 So. 07.Juni 2020
Um 1848 schrieb Engels ein Ziel  in die Grundsätze des Kommunismus: "Zerstörung aller ungesunden und schlecht gebauten Wohnungen und Stadtviertel. "
Der Gedanke ist wieder aufzunehmen und dem gegenwärtigen Stand von Stadt und Bautechnik anzumessen.

Diese Gedanken sind wahrlich inspirierend.
Das Nachdenken über größere Zusammenhänge ist gerade nicht sonderlich populär.
Und sicherlich kann man gern mit der Abrißbirne durch heruntergekommende Gebäude mit schimmelnden Wänden gehen. Aber die sind, glaube ich, gar nicht mehr so häufig, jedenfalls nicht häuftig genug, um einen ganzen Stadtteil zu plätten. Neben dem reinen Wohnwert, schätze ich auch das Gesicht von Gebäuden als Träger von Geschichte und Erinnerung an den Wandel der Zeiten. Heute läßt sich die Wohnqualität von Altbauten relativ unaufwändig verbessern, durch neue Toiletten und Bäder, gute Heizungssysteme und seit einigen Jahren sind sogar gut isolierte neue Fenster den historischen sehr ähnlich.

Da stellt sich natürlich die Frage, wer in den Gebäuden wohnen darf oder muß. Ich sehe, daß die Rebellen und Revoluzzer von gestern, die Trendsetter für die Besserverdienenden von heute sind. Es waren Hausbesetzer auf die Idee gekommen in leerstehende Fabriketagen zu ziehen und als Wohnraum zu nutzen auf den Dächern zu frühstücken und Parties zu feiern. Das ist der Lifstyle der Yuppies von heute. Das sieht man inzwischen selbst auf den Hochglanzbroschüren für Bausparvertrage.

Die Gegenden, die einst von der Politszene, von Freaks, Punks und anderen geprägt waren, gelten heute als total angesagt im Bürgertum. Altbau, sowas muß man sich schon leisten können.

Und keine Angst, ich weine den Szeneghettos nicht nach. Ich war angewidert, als in den 80er Jahren aus der linksradikalen Bewegung die Luft langsam raus war, man von "unserem Viertel" machmal auch "UV" geschwärmt hat. Wenn man die Welt schon nicht verändern kann, dann möchte man es sich nett machen und nur mit seinesgleichen umgeben. Die Vinyl- und T-Shirtläden, die Punk-Utensilien-Shops, Räuchertee- und Schnickschnackläden an jeder Ecke.

Nicht nur, daß ich es nicht sonderlich attraktiv finde, mich in eine geschlossene Szene zurückzuziehen, es funktioniert auch nicht. Die ehemaligen Szeneviertel wurden von einer zahlungskräftigen Klientel übernommen. Die ehemalen Bewohner, zu denen eben nicht nur subkulturelle Menschen gehören, sondern auch Alte und Migranten, wurden verdrängt, aus dem Stadtteil, aus der Stadt.

Wenn ich am Städtebau und an Wohnformen etwas hassenswert finde, dann sind es nicht Alt- oder Neubauten, sondern die Stadtränder und Speckgürtel mit ihren Reihenhäusern und Einfamilienbutzen. Die Zersiedelung, die Autos, Carports, die zu Stein gewordene Eigentums- und Spießerideologie. Die Häuser (sind sie nicht geerbt) gehören meist den Banken, der Druck der Abtragszahlungen ist gnadenlos, dann all die plötzlich und unerwarteten Zusatzkosten, wie Reparaturen der Forderungen der Kommune, halten die Menschen an der kurzen Leine. Paare, die einander nicht mehr ertragen, bleiben miteinander eingeknastet in ihrem tollen Wohneigentum. Flächen-, Natur- und Geldverschwendung, ein kulturelle Albtraum, ein stadtplanerischer Unsinn.

Da würd ich gern mit dem Bulldozer durch, um es zu renaturieren.

Troll

Hier spielen sie derzeit auch mit Betonbauklötzen, Inhalt sollen Eigentumswohnungen werden, erhältlich zwischen etwa 300000 und 600000€, nur falls jemand der Gedanken kommt es würde dringend benötigter bezahlbarer Wohnraum geschaffen. Tja, Pech gehabt all ihr beklatschten Systemverlierer, Obdachlose sind flexibler Einsetzbar, ihr seid doch Experten in flexibel?
Politik ist der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.
Dieter Hildebrandt
Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein.
Jiddu Krishnamurti

Ferragus

"In den alten Vierteln sind die Straßen zu Autobahnen geworden, während die Freizeitbeschäftigungen durch den Tourismus kommerzialisiert und entstellt werden. Dort werden soziale Beziehungen unmöglich. In den neugebauten Vierteln beherrschen zwei Themen alles: der Autoverkehr und der Komfort zuhause. Sie sind die erbärmlichen Ausdrucksweisen des bürgerlichen Glücks und jedes Interesse am Spiel fehlt ihnen. Angesichts der Notwendigkeit, ganze Städte schnell zu bauen, ist man dabei, Friedhöfe aus Stahlbeton aufzustellen, in denen sich sie die Bevölkerungsmassen zu Tode langweilen müssen."

entnommen aus: Eine andere Stadt für ein ein anderes Leben , ein Text der Situationischen Internationale.

Kuddel


Ferragus

Mir ist das vor kurzem erst wieder bewusst geworden: wie sehr diese Großstädte das Produkt und Eigentum des Bürgertums sind. Was bleibt eigentlich, wenn man diesen Teil von der heutigen Stadt abzieht? Nicht viel, hier und da ein paar Altstadtkerne - sie formen sich die Welt nach ihrem Bilde, Tendenz: Aktenschrank bzw. Tower-PC. Wer das Gesicht dieser Städte nicht mehr sehen kann, der kann sich bei der Bourgeoisie bedanken.

Kuddel

Ein Wirtschaftsmagazin ich klarsichtiger und radikaler als alle Linken zusammen:

ZitatSprengt die Fußgängerzonen!

Viele Städte haben sich mit verwechselbaren Einkaufsmeilen, Shopping-Centern und ,,Business Districts" zu Discountern des urbanen Lebens herabgewürdigt.
https://www.wiwo.de/politik/deutschland/tauchsieder-sprengt-die-fussgaengerzonen/26845982.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

Kuddel

Es gibt ja durch die gesellschaftlichen Debatten und Proteste eine Tendenz zu autofreien Innenstädten. Klingt ja erstmal gut.

Da wird auch gleich an ein wenig Wasser und Grün gedacht, damit man da nett herumflanieren und auch rumsitzen kann.

Nur die Soziale Frage wird nicht öffentlich diskutiert. Der Pöbel krieg nen Tritt in den Arsch und hat in den Innenstädten nichts zu suchen. Dieses ganze Hübschhübsch wird nur für das Mittelschichtspack eingerichtet, um da herumzusitzen bei einem irre teuren Stück Kuchen und nem Cappuccino mit tollen Mustern im Schaum.

Der Pöbel darf da nur servieren.

Troll

Politik ist der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.
Dieter Hildebrandt
Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein.
Jiddu Krishnamurti

Kuddel

Innenstädte, autofrei, begrünt und mit schnuckeligen Cafés, sind für mich die Hölle auf Erden. Die sind gebaut für die besserverdenenden Grünenwähler, für die selbstgefällige und immer brauner werdende Mittelschicht.

Ich plädiere nicht für ein Wohnen in beengten Verhältnissen mit schimmeligen Wänden. Es waren aber stets die Orte der Armen, in denen das Leben und die Ideen brodelten. In heruntergekommenen Kaschemmen trafen sich die Verrückten, Utopisten und Künstler, stellten die Herrschenden Verhältnisse in Frage und schmiedeten neue Kunst- und Gesellschaftsformen.

In Paris um 1900 war es Montmatre, in den 1960ern in den USA die Watts Riots (L.A.), Harlem Riot (NYC) oder Stonewall riots (NYC), in den 80ern Straßenkämpfe und Plünderungen in Berlin Kreuzberg. Es war kein reines Explodieren einer sozialen Wut, es entstanden Freiräume für Ideen und Utopien, man entwarf völlig andere Vorstellungen von Kultur und Gesellschaft.

Verlassene Gewerbegiete wurden Treffpunkte für die Schwulen- und Drogenszene, die in den USA anderwo eher Opfer von Polizeigewalt oder rechter Bürger wurden.

In den 90ern übernahmen Jugendliche in UK leerstehende Fabrikhallen, in denen sie mehrtägeige Raves (mit teilweise Tausenden Besuchern) feierten und danach wieder verschwanden.

Nach (und teilweise während) der ewiglangen Lockdowns wg. Covid19 nahmen sich jugendliche (in Deutschland) Parkdecks, Parks und Plätze, um mit billgen selbstgemixten Getränken und Gras zu feiern. Diese Feiern verteidigten sie gegen die Bullen mit veritablen Riots.

Vor rund 40 Jahren hat jemand an das Kieler Rathaus gesprüht: "Die Stadt den Menschen!"

Ein so einfacher, wie wichtiger Gedanke.

Die Innenstädte sind immer wenige offen für "die Menschen", sondern sie werden gesiebt und aussortiert, bis nur noch Menschen von der Mittelschicht aufwärts übrigbleiben.

Bremen ist ein solches Horrorbeispiel. Das Steintorviertel, im Volksmund "das Viertel", war ein Armeleutestadtteil (überdurchittlich viele Arme, Alte, Migranten, Drogenuser), das einer Schellstraße weichen sollte. Seit den späten 70ern gab es dort permanent Kämpfe, regelrechte Aufstände mit Straßenschlachten und Plünderungen. Die Stadt gab auf und verwarf ihre Straßenbaupläne. Nun gibt es ein Denkmal für den mutigen Kampf der Anwohner, die diesen Stadtteil gerettet haben. Es steht vor dem SPD Büro des Stadtteils.

Doch dann ging es los mit der Gentrifizierung. Das "Alternative" an dem Viertel wurde nun zur Marke. Es wurde in die etwas heruntergekommen Gebäude investiert, alles aufgehübscht und vorbei war es mit den billigen Mieten. Als man so schnelles Geld machen konnte, wurden auch Souterrainräume und Dachböden in Wohnraum umgewandelt. Im "Viertel" sind die Grünen seit Ewigkeiten stärkste Partei. Überall Bioläden und alternative Cafés. Die alternativen Ladenbesitzer machten Druck und ließen das Viertel durch die Bullen säubern: Weg mit den Bettlern und Junkies!

Ganz Bremen wird inzwischen rot-rot-grün regiert. Die Drogen-, Trinker- und Obdachlosenszene hat sich nach der Repression im Viertel in Bahnhofsnähe zurückgezogen. Jetzt bekommen sie die rot-rot-grüne Politik auch da zu spüren, gewalttätige Bullen, Racial Profiling und Platzverweise.

Diese teflonbeschichteten und sozial gesäuberten Innenstädte sind genauso unerträglich, wie die vom Autoverkehr verstopften.

Ich halte es für notwendig, sich gerade für die an den Rand gedrängten einzusetzen. "Druckräume" für Drogenuser, Plätze mit Bänken und ausreichend Mülleimern für die Trinkerszene, Duschmöglichkeiten für Obdachlose (besser: Wohnraum für Obdachlose) wären wichtige Forderungen. Und die Jugendlichen dürfen nicht von den Orten vertrieben werden, an denen sie feiern.

Das würde eine Innenstadt wieder mit wirklichem Leben erfüllen. Das halte ich für wichtiger, als den architektonischen Schnickschnack.

Nikita

Ich sehe das nicht so negativ. Mich interessiert an einer Innenstadt schon, dass sie nicht komplett versiegelt und erstickt durch Autos ist. Das macht sie für mich wieder attraktiv. Insofern sehe ich autofreie Städte mit viel grün positiv. Angebote in Innenstädten sind teuer, weil die Mieten hoch sind, oft durch Spekulanten. Junkies und Obdachlose gehören in den Innenstädten, in denen ich gewohnt habe zum normalen Anblick. Man lässt sie wohl nicht frei gewähren, sie haben aber ihre Plätze dort.

Kuddel

Ich mag das Diskutieren über Architektur.

Zitat"Weder Hütten noch Paläste" ist der Titel einer Streitschrift. Der Autor warnt nicht nur vor falschen Wachstumserwartungen. Krampfhaftes Streben nach Individualität kann auch deren Ende sein.
https://www.heise.de/tp/features/Ist-Architektur-umweltschaedlich-7322030.html

Ich hasse die Zersiedelung der Städte. Für mich sind ein Einfamilienhaussiedlungen die Hölle auf Erden.

Ich bin fasziniert von der Walled City in Hongkong. Ein Moloch der Schwarzbauten, ein Klotz mit der weltweit dichtesten Besiedelung, er galt als "Kriminell" und die Bullen trauten sich da nicht rein. Ein menschlicher Ameisenhaufen der Unterschichtler.



Real war die Kriminalität relativ gering. Der Komplex wurde inzwischen abgerissen. Die Bewohner haben Entschädigung bekommen, stehen aber ihrer ehemaligen Behausung sehr positiv gegenüber.

Sicherlich bin ich kein Freund von schlechten sanitären Zuständen oder von schimmeligen Wänden. Ich finde aber die Walled City verdammt cool.


https://youtu.be/Mq4jAwPdCMw

https://youtu.be/0fd56CGnVRU




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