Diskussion/Einschätzung: Revolten im Magreb

Begonnen von Kuddel, 18:22:12 Di. 01.Februar 2011

⏪ vorheriges - nächstes ⏩

Kuddel

Die Regierungen und die Linken des Westens wurden überrascht. Nordafrika brennt. Wer ist vorbereitet auf die neuen Verhältnisse zu reagieren. Wer profitiert?

ZitatGedanken zu Ägypten 2.0 – This revolution will be televised
ägypten, twitter, indymedia, social media

(..wobei es ja anscheinend gerade für die ägyptische Revolution nicht so gut aussieht.)


Ich verfolge krankheitsbedingt die Ereignisse in Ägypten nur ausschnittsweise. Aber was anderes als Momentaufnahmen ist mit Sicherheit auch für die nicht möglich, die rund um die Uhr online sind.

Wie schon bei den Aufständen in Tunesien ist es gut, über die verschiedenen Social-Media-Kanäle viele ganz unterschiedliche Dinge über Ägypten zu sehen und zu lesen. Feedreader, Chat, Twitter, Facebook, Mail: Ägypten. Als Internet und Mobilfunknetze abgeschaltet wurden, war live zu beobachten, wie sich Leute koordinierten, um Alternativen zu schaffen und dazu gegen die Unternehmen zu protestieren, die verwickelt waren.

Phasenweise kam es mir vor wie die Globalisierungsproteste des vergangenen Jahrzehnts. Die wurden nicht nur groß, weil viele auf die Straße gingen, sondern auch, weil es erstmals zeitnah andere Informationen gab: über Indymedia. Bilder und Timelines noch am gleichen Tag, die die konventionellen Medien Lügen straften. In unschlagbarem Tempo, einfach weil niemand sonst soviele KorrespondentInnen vor Ort hatte. Weil es erstmals möglich war, etwas online zu veröffentlichen, ohne selbst eine Website zu haben, und zu kommentieren, was andere schrieben – um einer Perspektive auf ein Ereignis eine andere hinzuzufügen. Heute ist nichts selbstverständlicher als das, aber vor zehn Jahren gab es das sonst nirgends.

Die unabhängigen Medienzentren (Independent Media Center, Indymedia) sammelten unzählige Berichte, Bilder, Videoclips, verglichen sie mit dem, was per Telefon reinkam und schrieben es thematisch und chronologisch sortiert zusammen. Sie wussten vorher, was wann wo passiert und hatte Leute vor Ort, entsprechend schnell kamen die Informationen zurück. Dazu wurden zig andere Quellen ausgewertet. Ich habe das selbst oft miterlebt, manchmal war ich selber dabei und manchmal war ich zuhause und habe Texte übersetzt und Chronologien zusammengeschrieben. Ich habe von Berlin aus daran mitgearbeitet, die englischsprachige Website zum G8-Gipfel 2006 in St.Petersburg zu aktualisieren, weil die wenigen russischen MedienaktivistInnen schon kaum nachkamen, den russischen Teil zu schaffen und mir, mit Baby, die Konfrontation mit der russischen Polizei viel zu gefährlich schien. In diesen Tagen gab es in Russland Telefonnummern, die zum Ortstarif angerufen werden konnten und mit denen die Nachrichten-Koordination in Irgendwo erreicht wurde.

Ein bisschen also erinnert mich das Web 2.0 gerade an all das. Alle (naja, viele) suchen nach Informationen, Videos, Twitter-Accounts in und über Ägypten. Großartig, in gewisser Weise hat sich Indymedia überlebt, nicht erst seit gestern und aus verschiedenen Gründen (wobei ich bis heute auf vielen Indymedia-Websites Sachen finde, die sonst nirgends stehen).

Allerdings fehlt mir gerade auch etwas: das koordinierte Zusammentragen der Berichte. Wenn ich nicht ununterbrochen online bin, ist es reiner Zufall, welche Details ich erfahre. Fürs große Ganze halten dann doch wieder die 'alten Medien' her. Eine Mischung aus Informationen des Auswärtigen Amts, verklausuliertem Al Jazeera und dem zufällig Erlebten des Korrespondenten. Hm. Dann haben wir noch die Blogs in der Bandbreite vom Kommentar verschiedener Ägypten-KennerInnen (unbenommen) über Fotosammlungen bis zu Websites mit News-Charakter, unabhängig. Alles wunderbar und mit Herzblut entstanden, aber nichts vermittelt mir den Eindruck zu wissen, was passiert. Dazwischen spamartige Fluten: Die Tagesschau vermeldet, das geplündert werde: Auf allen Kanälen Links zu Plünderungen.

Ja, es ist schön, dass Social Media vielen ermöglicht, zu kommunizieren und zu publizieren. Aber ich vermisse ein bisschen die Leute (ja, Menschen, nicht Algorithmen), die sortieren und nicht dpa sind. Es wäre unsinnig, an eine Zentralisierung der wild kreuzenden Informationen auch nur zu denken, aber ein bisschen Durchblick wäre schon schön und ein bisschen weniger Rauschen hilfreich.

Ach ja:

The Egyptian Revolution Will not Be Tweeted: A First-Hand Report from Cairo. Most of the people tweeting about Egypt aren't on the scene. http://www.alternet.org/world/149724/the_egyptian_revolution_will_not_be_tweeted:_a_first-hand_report_from_cairo

Update: Dazu passt sehr schön Prozessjournalismus und Ägypten: Deutschsprachige Onlinemedien enttäuschen
http://www.freitag.de/community/blogs/datenblog/aegypten-enttaeuschender-onlinejournalismus-in-dtl von Lorenz Matzat.
Eine Kritik an den deutschen Medien, die die Kapazitäten hätten, eine übersichtliche Berichterstattung zu leisten. Sie sind aber so in konventionellen Methoden verfangen (keine Links nach außen, keine Quellen außer den eigenen), dass sie hoffnungslos langweilig und altbacken bleiben.

http://www.freitag.de/community/blogs/anne-roth/gedanken-zu-aegypten-20--this-revolution-will-be-televised


ManOfConstantSorrow

Arbeitsscheu und chronisch schlecht gelaunt!

Kuddel

ZitatÖl ist dicker als Blut

Im Gegensatz zu Libyen muss Saudi Arabien keine Kritik aus dem Westen fürchten: Zu kostbar ist für uns das Öl, über das die despotische Monarchie verfügt


Haben Sie gehört, mit welcher Empörung die westlichen Regierungen die Schüsse saudischer Sicherheitskräfte auf Demonstranten am Donnerstag, die Unterdrückung der Demonstration am Freitag und die Ankunft saudischer Truppen am Montag in Bahrain verurteilt haben? Nein? Ich auch nicht.


Rauch über dem Perlenplatz in Bahrain. Saudi Arabien unterstützt die dortige
Regierung mit Truppen (Foto: Joseph Eid/ AFP/ Getty Images)

Haben wir da etwas verpasst oder glauben unsere Regierungen, Saudi Arabien habe eine Demokratisierung weniger nötig als Libyen? Und wenn ja, auf welcher Grundlage? Dem "Democracy Index" der Economist Intelligence Unit zufolge rangiert Libyen auf der Liste von 167 Staaten auf Rang 158. Saudi Arabien belegt den 160sten Rang. Immerhin werden Frauen in Libyen, trotz aller Grausamkeiten des dortigen Regimes, nicht so behandelt, wie man dies im mittelalterlichen Europa mit Leprakranken zu tun pflegte.

Folter, Verstümmelungen, Exekutionen


Als Außenminister Prinz Saud Al-Faisal vergangene Woche erklärte, warum Proteste in seinem Königreich unnötig seien, versprach er charmant, denen ,,die Finger abzuschneiden, die versuchen, sich in unsere internen Angelegenheiten einzumischen". In anderen Teilen der Welt würde man dies für eine drastische Metapher halten, er aber dürfte es wörtlich gemeint haben. Wenn es in Saudi Arabien noch nicht zu Massenprotesten gekommen ist, dann liegt dies daran, dass es sich um ein Schreckensregime handelt, das seine Herrschaft auf Folter, Verstümmelungen und Exekutionen aufbaut.

Dennoch fühlen sich unsere Regierungschefs in der saudischen Autokratie sogar noch wohler als sie es bis vor kurzem am Hofe von Oberst Gaddafi taten. Die Zahl der von der britischen Regierung genehmigten Exportlizenzen für Waffenlieferungen an das Haus von Saud hat sich seit dem Jahr 2003 grob vervierfacht. Die letzte britische Regierung war so versessen darauf, das besondere Verhältnis mit den saudischen Despoten aufrechtzuerhalten, dass sie sogar in die britische Justiz eingriff und das Betrugsdezernat der Staatsanwaltschaft veranlasste, seine Ermittlungen wegen Korruption bei den al Wamamah-Waffengeschäften einzustellen.

Warum? Zukünftige Waffenverkäufe spielen hierbei sicherlich eine Rolle. Aber es gibt noch einen wichtigeren Grund. Vor ein paar Tagen hat die französische Bank Société Générale davor gewarnt, dass Unruhen in Saudi Arabien den Ölpreis auf bis zu 200 Dollar pro Barrel in die Höhe treiben könnten.

Furcht vor 200 Dollar pro Barrel


Abdullahs Königreich ist der weltweite einzige ,,Swing Producer" – d.h. das einzige Land, welches den Ausfall der Förderung in einem anderen Land oder eine erhöhte Nachfrage ausgleichen könnte. Drohende Störungen sind daher für die Stabilität westlicher Regierungen mindestens ebenso bedrohlich wie für das saudische Regime, wenn nicht sogar noch bedrohlicher – wenn man bedenkt, dass unsere Regierenden es sich nicht erlauben könnten, uns auf den Straßen niederzuschießen.

Nur wenige Regierungen nomineller Demokratien würden wahrscheinlich die ökonomischen Konsequenzen überstehen, die ein Ölpreis von 200 Dollar nach kurzer Zeit hätte: Wie Irlands Expremier Brian Cowen wären sie schneller weg vom Fenster als man mit dem Fahrrad an einer Tankstelle vorbeifahren kann. Dass David Cameron nach dem Sturz des saudischen Königshauses verlangt, ist ungefähr so wahrscheinlich wie die Forderung König Abdullahs nach dem Sturz des britischen Oberhauses.

Doch selbst wenn das Regime nicht infrage gestellt werden sollte, ist nicht sicher, dass dieses die in es gesetzten Erwartungen auch erfüllen kann. Den WikiLeaks-Depeschen zufolge bezweifeln die Amerikaner, dass das Königreich seine Förderquote noch weiter erhöhen kann. Wenn ja, so wäre dies nicht überraschend. Die Produktionsquoten der Opec-Staaten hängen von der behaupteten Größe ihrer Ölreserven ab, sodass alle Mitglieder des Kartells ein Interesse daran haben, diese zu übertrieben hoch anzusetzen. Saudi Arabien gibt immer noch dieselbe Zahl an wie 1988. Überprüfen kann sie keiner. Die wahre Verfassung ihrer Ölfelder ist ein Staatsgeheimnis.

Unsere Abhängigkeit stärkt die Despoten

In einer anderen Depesche wurde in Frage gestellt, ob die Saudis wirklich den Markt verändern können. ,,Sicher können sie die Preise nach oben treiben, aber wir bezweifeln, dass sie auch weiterhin in der Lage sind, die Preise für eine längere Zeit zu drücken." Für ihre Produktionsvorhersagen vertrauen die westlichen Regierungen in erster Linie auf die Internationale Energieagentur (IEA). Die musste vor kurzem sowohl ihre Prognose bezüglich der zukünftigen Versorgung zurücknehmen, als auch ihren Spott über jene , die davor gewarnt hatten, eines Tages werde das globale Ölfördermaximum erreicht. 2006 sagte die IEA voraus, die weltweite Ölförderung werde bis 2030 von 82 Millionen Barrel pro Tag auf 116 Millionen ansteigen. 2006 reduzierte sie die Prognose auf 106 Millionen, 2009 auf 105 und 2010 auf 96 (bis 2035).

Und es könnte sein, dass sie noch weiter herabgesetzt werden muss. Die neue Vorhersage fußt auf der Annahme, dass die Förderung der Saudis bis 2035 von 9 auf 14,6 Millionen ansteigen wird. Die Botschaftsdepeschen zitieren den ehemaligen Hauptverantwortlichen für Erschließung und Förderung bei der Erdölfördergesellschaft Saudi Aramco, Dr. Sadad al-Husseini wie folgt: ,,12 Millionen Barrel pro Tag zur Verfügung zu stellen wird nur für eine begrenzte Zeit möglich sein und selbst dies nur mit einem massiven Investitionsprogramm." Wenn Saudi Arabien 180 Milliarden Barrel gefördert haben wird ,,wird langsam aber beständig ein Rückgang einsetzen, der durch keine Anstrengung aufgehalten werden kann": Nach Veröffentlichung der Depeschen leugnete al Husseini diese Aussage. Die in dem Bericht aufgeführten Zahlen sind allerdings detailliert und präzise.

Abhängigkeit vom Öl bedeutet Abhängigkeit von Saudi Arabien. Abhängigkeit von Saudi Arabien bedeutet eine Stärkung seiner despotischen Monarchie. Sie müssen gar nicht an die Auswirkungen für die Umwelt und die Wirtschaft zu denken: Eine Wirtschaft, die vom Öl abhängt, macht die Tyrannei in Saudi Arabien unangreifbar. Das allein sollte uns dazu veranlassen, darüber nachzudenken, welche Verkehrsmittel wir benutzen.

Übersetzung: Holger Hutt
http://www.freitag.de/politik/1111-oel-ist-dicker-als-blut

Kuddel

Zitat«Wir haben keine Begriffe mehr für das, was geschieht»
Ein Gespräch mit dem amerikanischen Politikwissenschafter Mark Lilla über die Revolution in der arabischen Welt




Der Aufruhr in der arabischen Welt hat auch weitreichende Konsequenzen für die USA. Mark Lilla, Professor für Ideengeschichte an der Columbia University in New York, erörtert im Gespräch mit Andrea Köhler die Folgen für die amerikanische Politik und unser demokratisches Selbstverständnis.

Herr Lilla, welche Konsequenzen haben die Aufstände in den arabischen Ländern für Amerika?

Die Bedeutung der gegenwärtigen Entwicklungen für Amerika umfasst im Wesentlichen drei Dimensionen: Die erste Sorge gilt dem Ölpreis, das ist der Aspekt, der die amerikanische Bevölkerung unmittelbar betrifft. Der zweite Punkt ist die Frage, wie Amerika sich militärisch in der Region positioniert. Wo beispielsweise stationieren wir unsere Navy, wenn etwas in Bahrain passiert? Die gesamte geostrategische Landkarte hat sich letzte Woche verändert, als Ägypten zwei iranischen Kriegsschiffen die Erlaubnis gab, den Suezkanal zu passieren. Israel ist sicher nicht daran interessiert, dass derlei noch einmal geschieht. Das Dritte, und das ist etwas, worüber hier im Augenblick – vermutlich aus Angst – niemand spricht, ist die Frage, was mit Israel und den Palästinensern geschehen wird. Israel selbst hat sich bisher dazu ausgeschwiegen, und auch die jüdische Gemeinde in den Vereinigten Staaten war klug genug, sich zurückzuhalten. Aber wenn man zum Beispiel die Website der israelischen Tageszeitung «Haaretz» liest, wird klar, dass es auf der einen Seite den starken Wunsch gibt, eine möglichst schnelle Lösung zwischen Israel und der Hamas zu finden. Das ist auch die Position, die Obama vertritt. Im Gegensatz dazu – und das ist die Richtung, die von der gegenwärtigen israelischen Regierung und den Anhängern der Siedler angestrebt wird – könnte die augenblickliche Entwicklung zum Anlass genommen werden, den Griff auf die Region zu verstärken und einen Krieg vorzubereiten. Ich habe den Eindruck, dass ein Teil der jüdischen Gemeinde in Amerika, die den Likud und die Siedler unterstützt, sowie auch die Republikaner im Kongress mit dieser Option sympathisieren. Wenn dieses Problem bei den nächsten Präsidentschaftswahlen eine Rolle spielt, hätte das erhebliche Konsequenzen für die amerikanische Innenpolitik.

Wie nimmt sich die amerikanische Invasion im Irak im Lichte der jüngsten Entwicklungen aus?


Das ist ein weiterer Aspekt, über den sich die Welt derzeit in Schweigen hüllt: Welche Reaktionen hätte die arabische Rebellion im Irak gezeitigt, wäre Saddam heute noch am Ruder? Es ist doch interessant, dass sich besonders die Architekten des Irakkrieges zu diesem Punkt überhaupt nicht äussern. Donald Rumsfeld hat gerade seine Memoiren veröffentlicht, in denen er alle Fehler bezüglich des Irakkrieges seinen Amtskollegen in die Schuhe schiebt, doch bei seinen Auftritten hat er, so viel ich weiss, über die gegenwärtige Situation kein Wort verloren. Das Gleiche gilt für die sogenannten «liberal hawks», d. h. jene liberalen Intellektuellen, die gegen den Vietnamkrieg waren, aber den Einmarsch in den Irak als Mittel zum Zweck – nämlich zum Sturz Saddam Husseins – befürworteten. Sie glaubten, das irakische Volk wäre Amerika dankbar, wenn es den Diktator erst einmal los wäre – was selbstredend nicht geschehen ist. Diese Leute haben etwas Wichtiges nicht verstanden: Man kann keine Revolution ohne Rebellen machen. Die Menschen revoltieren, wenn sie so weit sind. Das ist etwas, das man nicht forcieren kann.

Was war Ihrer Ansicht nach der entscheidende Punkt, an dem das Volk die Angst vor den Machthabern verloren hat – erst in Tunesien, dann in Ägypten und nun in Libyen?

Ohne vor Ort zu sein, ist das schwer zu sagen. Historisch gesehen ist es aber meistens der Moment, wenn Blut vergossen wird. Wenn es einen aktuellen Konflikt gibt und erstmals Blut fliesst – und das Volk trotzdem weitermacht. Denken Sie an den ausserordentlichen Moment, als sich in Tunesien ein Mann in Brand gesteckt hat oder als die Iranerin Neda Agha-Soltan vor zwei Jahren bei einer Demonstration in Teheran vor den Augen der Welt getötet wurde. So etwas hat ein enormes Ansteckungspotenzial. Etwas Ähnliches geschah auch 1968 im Prager Frühling oder 1967 in Deutschland bei der Erschiessung von Benno Ohnesorg durch die Polizei.

Was halten Sie von den Reaktionen der amerikanischen Regierung? Es gab Stimmen, die sagten, Obama hätte – besonders gegenüber Mubarak – mehr und vor allem früher Druck ausüben sollen.

Jedes Mal, wenn in der Welt spontan etwas passiert, fragt sich Amerika: Warum haben wir nicht früher gewusst, was da abging? Und warum haben wir in dem Prozess keine grössere Rolle gespielt? Amerika hängt noch immer an der alten Phantasie, die Hauptrolle in der Welt innezuhaben. Dabei haben wir gar keinen wesentlichen Einfluss mehr – weder auf die Machthaber in den arabischen Ländern noch auf die Menschen auf der Strasse. Obama muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Klar ist jedenfalls, dass die meisten Demonstranten antiamerikanisch eingestellt sind – und das aus guten Gründen. Sie fühlen sich von Amerika betrogen, das diese Diktatoren unterstützt hat. Es ist in gewisser Weise ein Antiamerikanismus, der im Dienste der Demokratie steht. Man sollte das akzeptieren.

Wie schätzen Sie die zukünftige Entwicklung ein?

Das kann im Augenblick keiner sagen. Und ich würde auch niemandem glauben, der das von sich behauptet.

Wird es eine Demokratisierung in den betroffenen Regionen geben?


Demokratie ist ein Wort, das vieles abdeckt, was die Menschen wollen. Sie möchten anständig behandelt werden, sie wollen Gerechtigkeit, und sie wollen irgendwie repräsentiert werden. Dafür ist aber eine konstitutionelle Demokratie, so wie wir sie verstehen, nicht zwingend notwendig. Eine Stammesgesellschaft, in der das Volk durch verschiedene Stammesfürsten vertreten wird, oder eine aufgeklärte Monarchie, die dem Volk eine gewisse Kontrolle gibt und für eine halbwegs gerechte Ordnung sorgt, erfüllt eine ähnliche Aufgabe. Weil Demokratie für uns etwas Gutes ist, sind wir geneigt zu glauben, alles was gut ist, müsse auch demokratisch sein.

Es gibt nicht wenige, die meinen, eine Demokratie sei in den arabischen Ländern gar nicht – oder zumindest in absehbarer Zukunft nicht – möglich.

Das ist die grosse Frage. Wir wissen, was die Bedingungen für eine demokratische Gesellschaft sind. Freie Wahlen sind nur ein kleiner Teil davon. Moderne Demokratien basieren auf drei Faktoren: auf Individualität, auf der Trennung von Gesellschaft, Religion, Kultur und Politik und auf einer unabhängigen, nicht korrupten Bürokratie. Wie viele der jetzt in Aufruhr befindlichen Staaten erfüllen diese Bedingungen? Keiner. Was es allenfalls gibt, sind Scheindemokratien, in denen zwar Wahlen stattfinden, doch die Bürokratie nach wie vor von Vetternwirtschaft bestimmt ist und Clan-Loyalitäten weit wichtiger sind als die Loyalität zum Staat. Selbst in unseren westlichen Demokratien sind die Kriterien für eine funktionierende Demokratie keineswegs überall erfüllt. Seit Berlusconi an der Macht ist, wurde die unabhängige Presse von seinem Medienimperium völlig an den Rand gedrängt, die Autonomie der italienischen Justiz ist unter permanenter Attacke, und die Gesetze wurden unter seiner Ägide dergestalt massgeschneidert, dass Berlusconi und sein Clan möglichst nicht verfolgt werden können.

Was halten Sie von der Befürchtung, dass Libyen nach Ghadhafi in einem Chaos von Stammesrivalitäten versinken könnte?

Das ist sehr gut möglich. Dasselbe gilt ja auch für den Irak oder Afghanistan. Afghanistan hat Wahlen, doch politische Parteien sind dort völlig bedeutungslos. Früher trafen sich dort alle Stammesfürsten in unregelmässigen Abständen zu einer grossen Versammlung, der sogenannten Loya Jirga, und arbeiteten in langen Verhandlungen Kompromisse aus, mit denen am Ende alle mehr oder weniger zufrieden waren. Heute spielen Institutionen wie diese keine zentrale Rolle mehr, aber Afghanistan hat auch keine funktionierende Demokratie. Das öffnet natürlich Tür und Tor für Korruption – wie man an Karzais Bruder und seiner Entourage sieht. Man kann keine Demokratie in einer Stammesgesellschaft errichten – zumindest ist derlei bisher noch nie gelungen.

Sie erwähnten vorhin, dass sich die Koordinaten und Kategorien, in denen wir die politische Lage zu begreifen suchen, im letzten Jahrzehnt komplett verändert haben.


Für vieles, was derzeit in der Welt geschieht, haben wir keine passenden Kriterien mehr. Nehmen wir China: Es ist nicht länger kommunistisch, der Kapitalismus greift aber auch nicht richtig, da es ein gesteuerter Kapitalismus ist. Gemessen an der Dynamik der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft wird der Staat dort jedoch immer unbedeutender. Anders als im Westen gibt es in China überhaupt keine Wertschätzung des Individualismus; die Familie hat nach wie vor oberste Priorität. Wie soll man eine solche Gemeinschaft nennen? Überall in der Welt entstehen derzeit politische Formen, für die wir keine Begriffe mehr haben. Doch solange wir unsere Vorstellung von Demokratie sowohl als Standard, an dem alles gemessen wird, als auch als Beschreibungskategorie benutzen, können wir die Lage nicht adäquat einschätzen und also auch keine guten Entscheidungen treffen.

Es scheint derzeit überall zu rumoren; die Ansteckung reicht bis nach China. Selbst in den USA gibt es derzeit im Zuge der geplanten Beschneidungen der gewerkschaftlichen Rechte Volksaufstände, wie man sie lange nicht mehr gesehen hat. Ein Republikaner sprach von «Kairo in Madison». Geben die neuen Medien und ihre Möglichkeiten, Demonstrationen zu organisieren, der breiteren Masse ein neues Machtgefühl?


Die neuen Medien sind ein Forum, um Protest zu artikulieren. Wirkliche Macht aber wird von Institutionen ausgeübt. Der Schlüssel zu Veränderungen ist nicht so sehr die Möglichkeit, der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen, sondern vielmehr die Realisierung der Dinge, die man will, auch durchzusetzen. Man kann eine Demokratie durch die neuen Kommunikationswege erhalten und stützen, aber man kann mit dem Internet keine demokratische Konstitution aufbauen. Das Netz ist eine Kraft für die Rebellion, kein Garant für Demokratie.

mark lilla und der geist der moderne

Mark Lilla wurde 1956 in Detroit, Michigan, geboren. Nach einem Studium der Wirtschafts- und Politikwissenschaft etablierte er sich zunächst als Publizist und war ab 1980 vier Jahre lang Redaktor bei der Vierteljahreszeitschrift «The Public Interest». Dann kehrte er an die Harvard University zurück, wo er mit dem Soziologen Daniel Bell und der Philosophin Judith Shklar zusammenarbeitete. Lillas eigener Arbeitsschwerpunkt liegt auf der politischen und religiösen Ideengeschichte des Abendlandes. Er lehrte unter anderem im Committee on Social Thought an der Universität von Chicago, seit 2007 ist er Professor für Geisteswissenschaften an der Columbia University in New York. Er verfasste nebst anderen Werke über Isaiah Berlin und Giambattista Vico sowie die Studie «The Reckless Mind: Intellectuals and Politics»; zuletzt erschien von ihm «The Stillborn God: Religion, Politics, and the Modern West» beim Verlag Alfred A. Knopf. Von Mark Lilla erscheinen ausserdem regelmässig Essays und Rezensionen in der «New York Review of Books».
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/wir_haben_keine_begriffe_mehr_fuer_das_was_geschieht_1.9790534.html

  • Chefduzen Spendenbutton