Hartz-IV-Sanktionen: fragdenstaat verklagt BfA auf Herausgabe von Unterlagen

Begonnen von dagobert, 12:01:11 So. 05.Februar 2023

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dagobert

Hartz-IV-Sanktionen: fragdenstaat verklagt BfA auf Herausgabe von Schulungsunterlagen
ZitatMillionenfach haben Jobcenter Sanktionen gegen Hartz-4-Empfänger:innen verhängt – und damit immer wieder gegen die Verfassung verstoßen. Unterlagen zu den Hintergründen dieser Praxis will die Bundesagentur für Arbeit geheim halten. Deshalb klagen wir jetzt.
25. Januar 2023 - Philipp Schönberger

Wer in Deutschland Arbeitslosengeld II (,,Hartz-4") bezieht, muss vieles beachten. Empfänger:innen müssen sich regelmäßig persönlich beim Jobcenter melden, Reisen vorab genehmigen lassen und eine neue Anschrift unverzüglich mitteilen. Werden diese sogenannten Mitwirkungspflichten nicht erfüllt, kann das Jobcenter die Leistungsbezüge um bis zu 30 Prozent kürzen – bei wiederholten Verstößen auch mehrfach.

Wir haben gemeinsam mit einem FragDenStaat-Nutzer auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) bei der Bundesagentur für Arbeit Unterlagen angefordert, die einen Einblick liefern können, nach welchen Vorgaben Sachbearbeiter:innen in den Jobcentern derartige Sanktionen verhängen. Doch die Bundesagentur weigert sich, für mehr Transparenz zu sorgen – obwohl die umstrittenen Sanktionen zwischenzeitlich sogar für verfassungswidrig erklärt wurden. Deshalb klagen wir jetzt auf Herausgabe der Dokumente.

Die Menschenwürde als Grenze

Die Jobcenter in Deutschland verhängten jährlich rund eine Million "Hartz-4-Sanktionen". Für Betroffene bedeuten die Geldkürzungen oft eine existenzielle Herausforderung. Der Hartz-4-Regelsatz ist so angelegt, dass er lediglich das zum Leben absolut Notwendige abdecken soll. Dieses Existenzminimum zu kürzen und damit zu unterschreiten, erlaubt das Grundgesetz nicht. Konsequenterweise hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 5. November 2019 die gesetzlichen Grundlagen und die Praxis der Jobcenter teilweise für verfassungswidrig erklärt.

Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, allen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Zwar darf er dazu grundsätzlich die Mitwirkung der Leistungsempfänger:innen verlangen und notfalls mit Sanktionsmechanismen erzwingen. Es ist jedoch mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht vereinbar, das für eine menschenwürdige Existenz erforderliche Minimum zu kürzen. Das Gericht betonte auch, dass die Wirksamkeit derart drastischer Sanktionen empirisch nicht hinreichend belegt sei. In der Folge untersagte es den Behörden, weitere Kürzungen unter das Existenzminimum vorzunehmen und forderte den Bundestag zu einer Neuregelung auf. Die Bundesregierung setzte daraufhin die Sanktionspraxis vorerst bis zum Sommer 2023 aus.

Schulungsunterlagen sollen geheim bleiben

Bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts bot die Bundesagentur für Arbeit Schulungen an, in denen Sachbearbeiter:innen der Jobcenter darin unterrichtet wurden, wie sie die Hartz-4-Sanktionen anwenden können oder sollen. Die Unterlagen zu diesen Fortbildungen könnten einen Einblick darin geben, nach welchen Vorgaben diese in Teilen verfassungswidrige Praxis betrieben wurde.

Unsere IFG-Anfrage nach den Schulungsunterlagen lehnte die Bundesagentur jedoch mit fragwürdigen Begründungen ab: Sie berief sich auf das Urheberrecht und den Schutz von Geschäftsgeheimnissen. Zwar ist ein urheberrechtlicher Schutz von Unterlagen, die von Behörden erstellt werden, in Ausnahmefällen denkbar. Nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt es dafür aber auf eine wirtschaftliche Verwertungsmöglichkeit des geistigen Eigentums an. Dass eine kommerzielle Nutzung von veralteten Schulungsunterlagen zu einer verfassungswidrigen und mittlerweile gänzlich ausgesetzten Sanktionspraxis möglich sein soll, scheint allerdings mehr als zweifelhaft.. Aus demselben Grund scheiden auch Geschäftsgeheimnisse als Ablehnungsgrund aus.

Gegen diese fragwürdige Ablehnung gehen wir nun vor dem Verwaltungsgericht Ansbach vor. Damit möchten wir Licht ins Dunkel  einer verfassungswidrigen Behördenpraxis bringen, die potentiell Millionen Menschen in Deutschland betroffen hat.
https://fragdenstaat.de/blog/2023/01/25/klage-wegen-hartz4-sanktionen/
"Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden."
Thomas Mann, 1936

Onkel Tom

Interesannt, wenn diese Schulungen noch unberücksichtigt auf das
herankommende Urteil von Verfassungsgericht durch gezogen wurden.
Ideal wäre m.E. Schulungs-Ausgabe von ca. 2016.

Bei den jüngeren Schulungen vor dem Urteil (bis Sommer 2019)
könnten schon "nachbearbeitet" sein, um "Übeltaten" unter dem Teppich
zu bekommen.

Naja, Daumendrück, das es im Sinne des Informationsfreiheitsgesetz
klappt.  ;)
Lass Dich nicht verhartzen !

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