SG Karlsruhe zur Leistungsentziehung nach § 66 SGB I

Begonnen von dagobert, 20:50:38 Sa. 27.Mai 2023

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dagobert

ZitatLeitsätze

Es entspricht nicht dem Zweck der Norm und ist als sachfremd anzusehen, wenn Jobcenter oder Sozialgerichte eine vollständige Entziehung oder Versagung nach § 66 Abs. 1 SGB I im Bereich existenzsichernder Leistungen mit Zweifeln an der Hilfebedürftigkeit zu begründen versuchen (entgegen: Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 21. Juni 2016, Az.: L 6 AS 121/13, juris Rn. 47; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. April 2018 – L 4 AS 554/15 –, Rn. 66, juris).

Bei einer Versagung bzw. Entziehung von mehr als 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs der Leistungen der Grundsicherung muss eine Behörde in ihren Ermessenserwägungen erkennen lassen, anlässlich welcher atypischen Fallgestaltung sowie zwecks welcher außerordentlicher Ziele eine so weitreichende Unterdeckung des Existenzminimums im konkreten Einzelfall geeignet, erforderlich und angemessen sein soll, um die bislang unterbliebene Mitwirkung zu veranlassen und wesentlich zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalt beizutragen.

Zur Sicherstellung, dass die besonderen Umstände des Einzelfalls aufgeklärt werden, die der geforderten Mitwirkung oder der Entziehung bzw. Versagung entgegenstehen, aber vom Betroffenen möglicherweise schriftlich nur nicht dargelegt werden (können), muss die Behörde vor dem Erlass einer Versagung bzw. der Entziehung von Leistungen der Grundsicherung bei entsprechenden Anhaltspunkten dem betroffenen Menschen die Gelegenheit geben, seine persönliche Situation nicht nur schriftlich, sondern auch im Rahmen einer mündlichen Anhörung vorzutragen.

Jedem steuerfinanzierten ,,Kundenberater" jedes steuerfinanzierten ,,Jobcenters" ist es zuzumuten, seinen königlichen ,,Kunden" bei Bedarf ,,Kundengespräche" in wertschätzendem Ton anzubieten und wohlwollend um ihre Mitwirkung zu werben.

Das Sozialgericht Karlsruhe bereut zutiefst seinen im Fall der Klägerinnen einstweilen verfassungswidrigen Irrweg, sein unverzeihliches Versagen.
SG Karlsruhe, 09.05.2023, S 12 AS 2046/22
https://www.sozialgerichtsbarkeit.de/node/173715

Der letzte Satz im Zitat bezieht sich auf das vorangegangene Eilverfahren bei einer anderen Kammer.

Das Urteil komplett zu lesen lohnt sich, nicht nur wegen einiger verbaler Ohrfeigen ans JC und an andere Richter.
"Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden."
Thomas Mann, 1936

Onkel Tom

Danke für den schmackhaften Sonntag-Morgenkaffee ;)

Ja, wirklich beeindruckend und Glückwunsch an die erwerbslose Mutti, die nach der
Pleite in der ersten Streitrunde anhand des Versagen ihres ersten Rechtsvertreter
doch noch ein anderen RA gefunden hat, der es versteht, mit seinem Fachwissen an
den richtigen Stellen ein zu wirken.

Harter Tobak anhand unbefriedigter Neugierde des SBs, geschwärzte Kontoauszüge
vorgelegt bekommen hatte. SB hat mit "lockerer Hand" einfach Anspruch und bereits
geleistete Hilfen salopp als nichtig verklärt.

Das das Gericht anbei nicht mehr von "sanfter Druckausübung" des SB ausgeht, freut
mich nicht nur, sondern das Mutti und Tochter durch die flapsig handelnde SB hätte
Wohnung etc. verlieren können, noch auf dem letzten Drücker abgewendet werden konnte.

Ich habe die Info noch nicht komplett durch aber rieche anbei schon, das das
entsprechende JC die "Norm" zu ihren Gunsten zurecht gestrickt haben a la
"Die Leistungsbezieherin parriert nicht 100% so wie wir das wollen also gibbet
garnichts mehr !" eine kräftige Abwatsche vom Gericht an das JC erfolgte.

Yupp, das studieren dieses Verfahren lohnt sich, um zu bewerten, wo die Pflichten
des Leistungsbeziehers aufhören und Schikane des JC anfangen.

Schön, das anbei noch Urteile, die von vermutlich verschlafenen Richtern auch noch
ins Abseits "erklärt" wurden. Soweit hab ich das als Laie hoffentlich richtig verstanden.
Diese Info werde ich wohl 3x durchlesen müssen, weil Begründungen zur Entscheidung
des Gericht recht komplex erscheint. Da wäre ich gern Prozessbeobachter gewesen  ;)
Lass Dich nicht verhartzen !

dagobert

Zitat von: counselor am 18:38:20 So. 11.Juni 2023
ZitatSG Karlsruhe: Meldet verfassungsrechtliche Bedenkung bei Versagungs- bzw. Entziehungsbescheiden von mehr als 30 % des Regelatzes an
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[...]
Kommentar: Dieses Urteil ist von erheblicher Bedeutung für die Beratungspraxis, da bundesweit die Jobcenter sehr gerne 100 %- ige Versagungs- bzw. Entziehungsbescheide nach § 66 SGB I erlassen, wenn Leistungsberechtigte nicht mitwirken oder ihnen die Nichtmitwirkung vorgeworfen wird. Diese 100 % - igen Versagungs- bzw. Entziehungsbescheide sind das neue Sanktionsrecht und hier hat endlich das erste Sozialgericht deutlich gemacht, dass das so nicht laufen darf. Damit ist endlich die Debatte über die Zulässigkeit von 100 % - Leistungsentziehungen eröffnet. 

BVerfG, Urteil vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16) für die verfassungskonforme Ermessensbetätigung bei grundsicherungsrechtlichen Entziehungen und Versagungen
Quelle: https://harald-thome.de/newsletter/archiv/thome-newsletter-19-2023-vom-11-06-2023.html
Ob da eine Debatte draus wird, bleibt abzuwarten.

Es handelt sich hier um dieselbe Kammer, die auch schon Mehrbedarfe wegen der Maskenpflicht bejaht hat - und mit dieser Meinung allein blieb.
https://forum.chefduzen.de/index.php?msg=363257

Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen mit der Sozialgerichtsbarkeit bin ich eher skeptisch, ob sich diese Sichtweise auf der fachgerichtlichen Ebene durchsetzen wird.
"Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden."
Thomas Mann, 1936

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