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Wat Noch => Off-Topic & Neu Hier => Thema gestartet von: Kater am 18:07:05 Sa. 14.Januar 2006

Titel: Mit Mathematik gegen El Kaida
Beitrag von: Kater am 18:07:05 Sa. 14.Januar 2006
schon älter (Berliner Zeitung 18.03.2004), aber ganz interessant...

ZitatMit Mathematik gegen El Kaida

Auch Terroristen tauschen Informationen in virtuellen Gemeinschaften aus. Wie diese funktionieren, verstehen Forscher immer besser
Was Psychologen und Soziologen schon immer faszinierte, wird seit neuestem auch zum Untersuchungsobjekt von Physikern: die Bildung von Wissensgemeinschaften und die Dynamik des Informationsflusses unter den Teilnehmern. Trafen sich unsere Vorfahren noch am Höhlenfeuer und auf Marktplätzen, um Informationen auszutauschen, so ist heute nicht einmal mehr die physische Anwesenheit der Gesprächspartner erforderlich: E-Mail, Chatrooms, elektronische Marktplätze und Internetforen erfüllen denselben Zweck und ermöglichen erstmals in der Geschichte die Bildung globaler Gemeinschaften - unabhängig von Raum und Zeit.
Das Gemeinschaftserlebnis, der Drang, anderen zu helfen, zu lernen und natürlich auch der Prestigegewinn in einer Gruppe Gleichgesinnter sind die wichtigsten Motive für das Engagement in einer Netz-Community, sagt Christoph Müller, der in Zürich den Prozess der Gemeinschaftsbildung im Internet untersucht. "Viele Gruppierungen sind sehr stabil, wenn sie längere Zeit an einem Thema interessiert sind - das kann Briefmarken sammeln sein oder der Bau alter Röhrenverstärker", sagt der Soziologe.

Die Bedeutung virtueller Gemeinschaften reicht jedoch weit über private Interessen hinaus. So könnte die neue Organisationsform Vorteile für die Verbrechensbekämpfung bieten. Kriminologen träumen bereits davon, terroristische oder mafiöse Vereinigungen anhand ihrer Kommunikationsverbindungen zu identifizieren. Dass virtuelle Gemeinschaften überdies eine große ökonomische Bedeutung haben können, zeigt die Tatsache, dass international tätige Unternehmen alles tun, um die Bildung so genannter Communities of practice zu stimulieren und zu unterstützen. In solchen Gruppierungen tauschen etwa Projektmanager, Software-Ingenieure, Erfinder oder auch Vertriebsleute ihre Erfahrungen aus und helfen sich so gegenseitig. "Derartige Gemeinschaften funktionieren oft am besten, wenn sie sich selbst organisieren", sagt Christoph Müller.

Bernardo Huberman, Leiter des Labors für Informationsdynamik von Hewlett Packard (HP) und Professor an der Stanford University, kann das nur bestätigen. Er setzt sogar noch eins drauf: "Wir haben festgestellt, dass virtuelle Gemeinschaften oft über Abteilungs-, Hierarchie- und Ländergrenzen reichen", berichtete er vorige Woche auf einer Tagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Regensburg.

Um die informellen Gemeinschaften überhaupt identifizieren zu können, haben Huberman und einige seiner Mitarbeiter die Organisationsstruktur von rund vierhundert Personen der HP-Labs aufgezeichnet und über einen Zeitraum von mehreren Monaten etwa eine Million E-Mail-Kontakte zwischen diesen Forschern untersucht. Dabei ignorierten sie die Inhalte der Nachrichten und notierten nur Absender und Empfänger. Gab es zwischen zwei Personen mehr als sechs E-Mail-Kontakte, verbanden sie die beiden Namen in der Organisationsstruktur mit einer Linie. "Um Rundmails auszuschließen, haben wir nur Kontakte notiert, bei denen es einen E-Mail-Verkehr in beiden Richtungen gab", sagt Huberman.

Anschließend verwendeten sie ein trickreiches Verfahren, um aus dem Wust an Verbindungen die Gemeinschaften extrahieren zu können. Im Wesentlichen läuft dieser Algorithmus darauf hinaus, dass innerhalb einer Gemeinschaft mehr Verbindungen existieren als zu Personen außerhalb dieser Gruppe. Am Ende des Verfahrens bleiben bestimmte in sich geschlossene Gruppen übrig - eben die gesuchten Gemeinschaften. "Mit der Methode konnten wir innerhalb der HP-Labs mehr als sechzig Communities mit durchschnittlich acht Mitgliedern identifizieren", sagt der HP-Experte.

Zudem lässt sich aus der Menge an Verbindungen leicht auf zentrale Persönlichkeiten, sozusagen die informellen Leiter der Gruppen oder deren Informationsdrehkreuze, schließen. Und es zeigt sich, dass das HP-Netzwerk sehr eng geknüpft ist: Zwei Personen sind im Durchschnitt nicht weiter als drei E-Mail-Kontakte voneinander entfernt - zwischen Person A und Person B stehen also nur zwei Mittelspersonen. Die "mittlere Weglänge" liegt in diesem Fall beim Wert 3.

"Da dieses Verfahren außer Sender und Empfänger keinerlei weitere Informationen über die beteiligten Personen und die Netzwerke benötigt, stieß es auch außerhalb von HP schnell auf hohes Interesse - etwa im US-Verteidigungsministerium", sagt Huberman. Sicherheitsexperten suchen seit langem nach einer Möglichkeit, Verbrecherorganisationen anhand ihrer E-Mail-Verbindungen identifizieren zu können. Wer aber die E-Mails etwa nach Stichworten durchsuchen will, stößt schnell an Grenzen, da kaum ein Terrorist offen über "Bomben" sprechen würde.

Eine Methode, die automatisch E-Mail-Netzwerke findet und analysieren kann, klingt da viel versprechender. Ein markantes Kriterium für Terroristennetze ist zum Beispiel, dass die mittlere Weglänge ihrer Kontakte unverhältnismäßig hoch ist. Dadurch soll verhindert werden, dass die ganze Vereinigung auffliegt, wenn eine Person enttarnt ist. So kannten sich viele der Beteiligten am Attentat vom 11. September gar nicht persönlich - die mittlere Weglänge war trotz der Kleinheit der Gruppe höher als im gesamten HP-Forschungsnetz.

"Unser ursprünglicher Algorithmus hat allerdings einen praktischen Nachteil, wenn es darum geht, eine Vielzahl von E-Mail-Verbindungen zu analysieren", sagt Huberman. Der Aufwand wachse mit der dritten Potenz der Netzwerkgröße, das heißt: Wenn der Rechner bei 400 untersuchten Personen zehn Stunden braucht, so sind es bei 4 000 Personen bereits zehntausend Stunden.

Doch auch bei diesem Problem gelang den HP-Experten ein Durchbruch, indem sie eine Analogie aus der elektrischen Schalttechnik nutzten. "Setzt man elektrische Widerstände an die Stelle der E-Mail-Verbindungen und schließt eine Batterie an das Netzwerk an, so bekommt man nur einen geringen Spannungsabfall innerhalb von Communities und einen großen dort, wo die Gruppengrenzen sind", sagt der Physiker.

Dieser Effekt hat wiederum mit der Vielzahl der Verbindungen innerhalb einer Gemeinschaft zu tun: Sie entspricht in der Analogie aus der Elektrotechnik einer Parallelschaltung der Widerstände und damit einer Absenkung des Gesamtwiderstandes. Damit ändert sich die elektrische Spannung innerhalb einer Gemeinschaft deutlich weniger als an deren Grenzen. Den Vorteil beschreibt Huberman so: "Der Rechenaufwand ist nun nur noch proportional zur Netzwerkgröße". Im obigen Beispiel bräuchte der Rechner dann bei viertausend Personen nicht mehr 10 000 Stunden, sondern nur noch 100 Stunden.

http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2004/0318/wissenschaft/0007/index.html