Hartz IV hoch zwei – auf Britisch

Begonnen von Wilddieb Stuelpner, 20:55:25 Do. 17.März 2005

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Wilddieb Stuelpner

Neues Deutschland: Hartz IV hoch zwei – auf Britisch

Die Regierung Blair feiert ihre Erfolge, aber die Arbeitslosen fallen ihr tückisch in den Rücken

Von Ian King, London

In Britannien spielt Tony Blair auf dem Arbeitsmarkt »heile Welt« vor: eine schnell wachsende Wirtschaft, niedrige Arbeitslosenzahlen, erfolgreiche Umschulungsprogramme. Das Leben Hunderttausender auf und ohne Stütze sieht allerdings anders aus. Blüht in Deutschland Ähnliches?

»Nationalversicherungsnummer?« Die sicherlich unterbezahlte Angestellte fragt nicht einmal besonders unfreundlich. Aber die Anrede im »Job Centre« gehört zur alltäglichen Entmündigung der Langzeitarbeitslosen. Hier im Großraumbüro wird man nicht als Mensch mit Namen und Schicksal, sondern als statistische Größe angesehen, und obendrein als eine lästige.

Die Regierung feiert auf Plakaten ihre Erfolge; Leute wie Henry K., ein guter Bekannter, fallen ihr tückisch in den Rücken, weil er seit zweieinhalb Jahren keinen Vollzeitjob mehr hat. Noch dazu als lebenslanger Labour-Wähler und langjähriges Parteimitglied, der Blair und Konsorten seit dem Irak-Krieg nicht mehr über den Weg traut.

Schon »Job Centre« klingt wie Hohn

Henry weiß anschaulich von seinen Erfahrungen zu erzählen. Alle zwei Wochen trägt sich der »Job-Sucher« im Arbeitsamt ein. Aber schon die Worte »Job Centre« klingen wie Hohn; denn die meisten Stellenangebote, die man nach zwanzig Minuten Wartezeit im dortigen Computer findet, sind entweder längst vergeben oder irrelevant, wie ihm andere in der Warteschlange bestätigen. Bis sich ein neuer Arbeitgeber für einen abgewickelten Universitätslehrer interessiert, kann er sich einen langen weißen Bart wachsen lassen.

Wenn Henry sich die übrigen Wartenden genauer anschaut, sieht er überdurchschnittlich viele Schwarze: Junge Männer afro-karibischer Abstammung schneiden in den Schulen am schlechtesten ab und haben trotz Antidiskriminierungsgesetzen auch bei Bewerbungen meistens das Nachsehen. Neben ihnen hocken auf den bunten Kunststoffsofas einige Weiße seiner Altersklasse. Ihre Gesichter scheinen an die zynische Maxime zu erinnern: Selig sind die, die nichts Gutes erwarten, denn sie können nicht enttäuscht werden.

Dabei boomt die britische Wirtschaft, die Hauptstadt gilt als Job-Lokomotive, die die ärmeren englischen Regionen nach sich ziehen soll. Aber auch in der wohlhabenden Metropole gibt es Stadtviertel des Elends. Etwa im nahen Brixton, als »Little Jamaica« verschrien, im multikulturellen Schmelztiegel von Hackney oder unter den aus Bangladesch Eingewanderten von Tower Hamlets. Und die so genannten Problemgruppen der Gesellschaft – nein, nicht New-Labour-Minister, die ihre Wähler vergessen, sondern Obdachlose, Drogenabhängige, psychisch Kranke und sonstige schwer in Vollzeitjobs Vermittelbare – leiden hier wie in Berlin, Leipzig oder Gelsenkirchen.

Der Geist der gusseisernen Lady lebt

Die Frau, die die Arbeitslosenzahl reduzierte, ohne auch nur einen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz zu schaffen, ist selber längst im Ruhestand. Mit vollem Titel heißt sie Baroness Thatcher of Kesteven, ihr Sohn Sir Mark wurde vor kurzem in Südafrika als Waffenschieber zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt, wenn auch leider nicht zu Knast. Zwar ist die gusseiserne Lady seit November 1990 nicht mehr im Amt, aber ihr Geist beherrscht unter Nach-Nachfolger Blair die Diensträume von der Downing Street Nr. 10. Bekämpfung der Arbeitslosen statt der Arbeitslosigkeit, Frisieren von Statistiken, um Marxens »industrielle Reservearmee« rechtzeitig vor Wahlkämpfen verschwinden zu lassen – auch unter New Labour werden die bekannten Tory-Rezepte fortgesetzt.

Dabei wird der hiesige Arbeitslose nicht gerade fürstlich belohnt. Nach der Entlassung bekommt beispielsweise ein Lediger, der 27 Jahre lang in die Sozialkassen eingezahlt hat, den Grundbetrag von weniger als 60 Pfund die Woche, also umgerechnet 85 Euro. Für Verheiratete mit Kindern, solange der Partner nicht dazuverdient, gibt's etwas mehr. Ein völlig Mittelloser bekommt auch Beihilfen für Miete und Kommunalsteuern. Wer jedoch Ersparnisse irgendwelcher Art von über 11000 Euro besitzt und mehr als sechs Monate ohne Arbeitsplatz bleibt, den lässt der Staat im Regen stehen. Nur der Versicherungsbeitrag, der mit 65 eine Rentenanwartschaft begründet, wird noch von der Regierung an die Rentenkasse überwiesen – sofern man regelmäßig im Arbeitsamt vorspricht. Sonst: keinen Pfennig.

Und wenn man das Verhör als Nummer XK 692156Y trotz allem nicht scheut? (Montagvormittags hat Henry ohnehin keine Teilzeitstunden.) Dann wird man nach einer Anstandsfrist in das so genannte New-Deal-Programm abgeschoben. Wenn Franklin D. Roosevelt, der bei weitem fortschrittlichste USA-Präsident des 20. Jahrhunderts, etwas ähnlich Kümmerliches unter diesem Namen erfunden hätte, wäre er nicht dreimal wiedergewählt worden. Aber Henry geht hin – zum »Gateway Access Programme«! Dessen Anfangsbuchstaben ergeben das Wort »gap«, also Lücke. So ist es denn auch.

Wie man seinen Lebenslauf aufpeppt

Ein umgebauter Werkstattschuppen, oder war's eine Garage, beherbergt Henrys Gruppe – ungefähr vierzig, von denen die Hälfte morgens geschult wird, die anderen nachmittags. Das erklärt Judith, die lächelnde, ja permanent begeisterte Trainerin. Die erste Überraschung: Die von der Regierung mit der Durchführung des Kurses beauftragte Organisation wurde von den örtlichen Kirchen gegründet, alle Mitarbeiter sind engagierte Christen. Die verkappte Subvention an Menschen, bei denen Henry nicht arbeiten dürfte, weil er seit geraumer Zeit ihren Glauben nicht teilt, ist einerseits empörend. Andererseits kommt diese milde Gabe der britischen Steuerzahler bestimmt billiger als die deutsche Kirchensteuer.

Außerdem macht Judith – 25 Jahre alt, Diplompsychologin – trotz oder wegen ihres Glaubens keinen unsympathischen Eindruck. Am Ende des Kurses bekommt man von der Regierung die Fahrtkosten erstattet und ein paar Gutschriften, die man in einem Lebensmittelgeschäft eintauschen kann. Immerhin. Und siehe da, Bleiben lohnt sich. Im Lebenslauf darf man das Geburtsdatum weglassen, stellt Trainer Godfrey fest. Zwar muss man das für viele Ältere nachteilige Detail ohnehin auf den getrennten Bewerbungsbogen eintragen, aber Henry freut's trotzdem. Judith peppt ihm den Lebenslauf auf; nachher sieht er in der Tat beeindruckend aus, denn sie versteht die Feinheiten des PCs viel besser.

Henry würde das Gespräch mit ihr fast genießen, wenn er nicht wie alle anderen Kursteilnehmer und trotz des schüchtern erwähnten Doktortitels die beiden Tests schreiben müsste. Zum Glück stellt sich heraus, dass er lesen und bis 20 zählen kann, ohne sich Schuhe und Socken auszuziehen; aber eine gewisse Zumutung sind die Prüfungen dennoch. Er beißt die Zähne zusammen und denkt an seine Gutschriften.

Einen Höhepunkt bildet die Gruppendiskussion am Donnerstag. Der ursprünglich eingeplante Gesprächspartner kann nicht kommen, eine weniger gut vorbereitete Kollegin springt für ihn ein und lässt eine allgemeine Diskussion über den New-Deal-Kurs zu. »Es ist ein Klotz am Bein«, wendet ein 30-jähriger Afrikaner ein, »reine Zeitverschwendung.« Die Trainerin versucht, das Programm von der Schokoladenseite her zu zeigen, aber immer mehr Teilnehmer äußern ihre Skepsis. »Sie tun so, als ob Blair uns hier einen Gefallen tun möchte!« – »Ersparen Sie uns die Politik; wir sind hier, weil man uns sonst das Arbeitslosengeld sperrt!« Nein, beharrt die Trainerin tapfer, das Programm soll den Menschen aus der Armut heraushelfen. Die Teilnehmer stürzen sich auf sie, zum Glück nicht körperlich, sondern nur mit der Kraft der besseren Argumente. »Sie haben keine Ahnung, so ist's bei den Politikern, sagen tun sie eines, und tun gerade das Gegenteil.« Die Frau steckt alle Kritik ein, die dem abwesenden Tony Blair gilt, und dient ihm als Blitzableiter.

Nach fünf Tagen wunschlos glücklich?

Und was nach diesen fünf Tagen? Henrys »New-Deal-Berater« im Job Centre wird's ihm sagen. Vorsichtshalber erklärt sich mein Freund bereit, seine PC-Kenntnisse verbessern zu wollen. Wer weiß, was ihm blüht, wenn er sich als wunschlos glücklich bezeichnet?

Er läuft noch mal an Labours Wahlplakat an der Unterführung vorbei, die seltsamerweise nicht mit Blair wirbt, sondern Thatcher, deren Nachfolger John Major und den heutigen Konservativenführer Michael Howard abbildet; der saß schon bei den beiden anderen im Kabinett. Neben den ehemaligen Premiers prangt das Wort »Rezession«, neben Howards Bild ein riesiges Fragezeichen. Unter Labour hast du noch einen Job, unter den Tories nicht, heißt die wortlose Botschaft. Das gilt wohl für Henrys christliche Trainer. Er selbst sieht das anders: Am 5. Mai liefern wir New Labour die Quittung.

(ND 17.03.05)

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