ALG-II bemüht Gerichte

Begonnen von Klassenkampf, 09:03:12 Sa. 03.Dezember 2005

⏪ vorheriges - nächstes ⏩

Klassenkampf

Hartz IV beschäftigt nicht nur die Gesellschaft, sondern ebenso die Justiz. Eines offenbart sich, zumindest bei Beachtung des folgenden Artikels: Hartz IV verstößt gegen geltende Rechtsauffassung - nicht generell, aber in vielen Details.

Gerade dieses Forum ist also passende Plattform, Wolfgang Büsers Bericht aus der Sueddeutschen Zeitung zu präsentieren:

ZitatHartz-IV-Empfänger vor Gericht

Auto, Wohnung, Extra-Ausgaben: Wie die Sozialgerichte Hartz IV auslegen.
Von Wolfgang Büser

 
Die Sozialgerichte kommen wegen Hartz IV nicht zum Luftholen: Sie müssen täglich über "angemessene Wohnungsgrößen", Bedarfs- und Haushaltsgemeinschaften oder über Regelleistungen entscheiden, streiten, schlichten und schließlich richten.

Eine Auswahl von Fragen, die bereits von Sozial- und Landessozialgerichten entschieden wurden - bisher allerdings in Vorabentscheidungen. Ihnen folgen nun noch die Hauptverhandlungen:

Stichwort "Betriebskosten": Hat die Arbeitsagentur neben den Heizkosten als weitere Betriebskosten einer Mietwohnung auch den Aufwand für Strom und Warmwasser zu übernehmen?

Nach den derzeit dafür maßgebenden Regeln nicht. Kommunen wie Arbeitsgemeinschaften erstatten diese beiden Positionen nicht, weil sie mit den Regelleistungen abgegolten seien. Das Sozialgericht Mannheim allerdings ist anderer Auffassung. Strom und Wasser gehörten zum "sozialen Mindeststandard in Deutschland". (AZ: S 9 AS 507/05)


Stichwort "Ein-Euro-Jobs": Haben Betriebs- oder Personalräte ein Mitbestimmungsrecht bei der Einstellung von Mitarbeitern, die auf Ein-Euro-Job-Basis beschäftigt werden sollen?

Das Verwaltungsgericht Gießen hat bei einem öffentlichen Arbeitgeber dem Personalrat ein Mitbestimmungsrecht bei der Einstellung solcher Beschäftigten, die keine "Arbeitnehmer" sind, eingeräumt. Entscheidend dafür sei, dass es nicht auf die Statusfrage ankomme. Vielmehr seien eine Eingliederung in die jeweilige Dienststelle und der Mindestbestand an arbeitsrechtlichen Beziehungen erforderlich. In solchen Fällen ist dann auch der Personalrat - in der Privatwirtschaft: der Betriebsrat - hinzuzuziehen. (AZ: 22 L 1267/05)


Stichwort "Autobesitz": Darf die Arbeitsagentur einem Arbeitslosengeld-II-Empfänger, der ein Auto im Wert von mehr als 5000 Euro besitzt, automatisch den Betrag als Vermögen anrechnen, der 5000 Euro übersteigt?

Die entsprechenden Richtlinien gehen grundsätzlich davon aus. Doch haben inzwischen mehrere Sozialgerichte geurteilt, dass die starre 5000-Euro-Begrenzung rechtswidrig ist. Ein "Luxusauto" sei zwar nicht angemessen für Arbeitslose, die staatliche Leistungen beziehen. Aber ein normaler Mittelklassewagen dürfe es schon sein. Andererseits rechnete das Sozialgericht Dresden einem Arbeitslosen vor, dass sein Audi A3 Attraction 1,9 TDI des Guten zuviel sei. Der aktuelle Wert des Fahrzeugs wurde mit 14 500 Euro festgestellt, wovon dem Besitzer 7500 Euro als "verwertbares Vermögen" angerechnet wurden. Sinnvollerweise sollte er den hohen Wert seines Wagens nicht durch weiteren Verschleiß verbrauchen, sondern versuchen, auf ein Modell einer niedrigeren Preisklasse umzusteigen. (AZ: S 9 AS 31/05)


Stichwort "Sonderleistungen": Gibt es überhaupt keine Möglichkeit, neben dem Regelbetrag von 345 Euro (im Osten zur Zeit noch: 331), den Heizkosten und den Sozialversicherungsbeiträgen Leistungen der Arbeitsagentur zu beziehen?

Ja. So gibt es bereits eine Entscheidung der zweiten Instanz, nach der es Zuschüsse für eine Haushaltshilfe geben kann. So kann eine allein stehende Arbeitslosengeld-II-Empfängerin, der ein Bein amputiert werden musste die Übernahme der Kosten - in diesem Fall in Höhe von 85 Euro monatlich - zusätzlich zur Regelleistung von der Arbeitsagentur verlangen. So hat es das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen entschieden. (AZ: L 20 B 9/05 SO ER)

In einem anderen Fall ging es um die erkrankte Tochter einer Arbeitslosengeld-II-Empfängerin, die wegen einer Neurodermitis-Erkrankung monatlich 240 Euro für Medikamente und Pflegeprodukte aufbringen muss, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Das Sozialgericht Lüneburg verurteilte die Arbeitsagentur zur entsprechenden Erhöhung ihrer Leistungen, da ansonsten das verfassungsrechtlich geschützte Existenzminimum nicht mehr gesichert sei. (AZ: S 30 AS 328/05 ER)

Im dritten Fall ging es um einen allein erziehenden arbeitslosen Vater, der drei minderjährige Kinder aus der Ehe mit seiner geschiedenen Frau betreut. Er hat als Arbeitslosengeld-II-Empfänger Anspruch darauf, für die Autofahrt mit der ältesten (14-jährigen) Tochter zu ihrer - umgangsberechtigten - Mutter in deren 500 Kilometer entfernten Wohnort von der Arbeitsagentur ein Darlehen zu erhalten. Er muss einen Zuschuss zu den Regelleistungen bekommen, wenn die Mutter selbst bedürftig ist und keinen Führerschein hat, so das Sozialgericht Speyer. (AZ: S 10 ER 178/05 AS)


Stichwort "Eingliederung": Dürfen die Arbeitsagenturen Eingliederungsvereinbarungen nach "Schema F" treffen?

Nein. In den Eingliederungsvereinbarungen soll auf die individuelle Situation der Arbeitslosen eingegangen werden. Deshalb kassierte das Sozialgericht Berlin eine Vereinbarung, die schematisch die Kürzung des Arbeitslosengeldes II um 30 Prozent für drei Monate vorsah, ohne Ausnahmen zuzulassen. Hier war eine allein erziehende Mutter, die ihren 21-jährigen Sohn seit 20 Jahren pflegt und seither auch nicht mehr erwerbstätig war, aufgefordert worden, während des Aufenthaltes des Sohnes in der Behindertenwerkstatt sechs Stunden täglich zu arbeiten. Das Berliner Gericht hielt dies für unangebracht; vielmehr solle die Agentur sich darum kümmern, die Frau "bei der Bewältigung der Pflege zu unterstützen beziehungsweise eine Lösung für die Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit aufzuzeigen". (AZ: S 37 AS 7807/05 ER)


Stichwort "Unterkunft": Wie lange muss die Arbeitsagentur die Kosten einer - aus ihrer Sicht "zu teuren" - Wohnung tragen?

Grundsätzlich für maximal sechs Monate. In einem Fall vor dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ging es um eine Alg-II-Empfängerin, die von ihrem Job-Center mitgeteilt bekam, dass künftig ihre vollen Unterkunftskosten nicht mehr ersetzt würden. Die allein lebende Frau bezahlte für 55 Quadratmeter eine Monatsmiete von 315 Euro. Die Agentur für Arbeit beabsichtigte, die Zahlung auf "angemessene" 258 Euro im Monat zu senken. Die "unangemessene" Miete wurde für sechs Monate zugebilligt. Voraussetzung: Die Alg-II-Empfängerin weise nach, dass sie sich um eine günstigere Wohnung (erfolglos) bemüht habe und auch die Agentur für Arbeit keine geeignete preiswertere Unterkunft finden konnte. (AZ: L 8 AS 138/05 ER)

Vielleicht nur ein spärlicher Trost, aber für manchen kann es der berühmte Silberstreif sein...

Quelle
,,Diese Verhältnisse sind nicht die von Individuum zu Individuum, sondern die von Arbeiter zu Kapitalist... Streicht diese Verhältnisse, und ihr habt die ganze Gesellschaft aufgehoben."
--- Karl Marx, "Das Elend der Philosophie" ---

  • Chefduzen Spendenbutton