Die Verlagerung der amerikanischen Militärstützpunkte

Begonnen von Kater, 21:42:23 Sa. 23.September 2006

⏪ vorheriges - nächstes ⏩

Kater

DIE VERLAGERUNG DER AMERIKANISCHEN MILITÄRSTÜTZPUNKTE

Beitrag von ARTE aus der Reihe: ,,Mit offenen Karten" (Dreharbeiten November 2004)

ZitatBereits lange vor den Anschlägen des 11. September 2001 machte man sich im Pentagon Gedanken über eine Umstrukturierung der US-Streitkräfte im Ausland. Das sich das daraus ergebende neue Netz amerikanischer Stützpunkte wollen wir uns auf der Weltkarte ansehen.


US-Militärstützpunkte in Europa

Anfang des 21. Jahrhunderts entsprach die Stationierung von US-Streitkräften noch den Erfordernissen des Kalten Krieges. Die Vereinigten Staaten hatten im Laufe des Ost-West-Konflikts in Europa Stützpunkte in Deutschland, Großbritannien und Italien eingerichtet und waren mit der NATO gegen einen sowjetischen Angriff im Norden Europas gewappnet.

US-Stützpunkte in Asien

Nach der Machtübernahme durch die chinesischen Kommunisten im Jahre 1949 und dem Koreakrieg von 1953 sollten die in Südkorea stationierten Streitkräfte einen nordkoreanischen Angriff abwehren können.
Die Stützpunkte in Japan sollten seit der japanischen Niederlage im Jahre 1945 die Sicherheit des Landes gewährleisten und dazu beitragen, den Kommunismus in Asien einzudämmen.
Im Persischen Golf und im Indischen Ozean wiederum sollten Stützpunkte die Energieversorgung der Vereinigten Staaten sichern.

Die Verlagerung der Streitkräfte

Die Schlagkraft beruhte auf schweren, schlecht verlegbaren Landstreitkräften und richtete sich gegen Bedrohungen, die sich räumlich klar einordnen ließen. Inzwischen sind die Bedrohungen anderer Natur. Der Kampf gegen den überall agierenden Terrorismus setzt voraus, näher an den Krisenherden und beweglicher zu sein. Aber die Verlagerung von Stützpunkten ist eine kostspielige und langwierige Angelegenheit.

US-Stützpunkte in Deutschland

In Westdeutschland sind US-Streitkräfte seit 1945 präsent, gemeinsam mit britischen und französischen Truppen.
Von den insgesamt 110.000 in Europa stationierten GIs befinden sich 70.000 in Deutschland.
Der Luftwaffenstützpunkt Ramstein, in dem 34.000 Menschen leben, wenn man die Familienangehörigen der Soldaten mitzählt, ist die größte amerikanische Kleinstadt außerhalb der USA und soll unter NATO-Oberbefehl weitergeführt werden.
In Wiesbaden sind die 18.000 Soldaten der 1. US-Infanteriedivision stationiert.

Der Umbau der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland

Ab 2006 werden mindestens zwei Divisionen, insgesamt 30.000 Soldaten, Deutschland verlassen.
In ganz Deutschland dürften nach dem Umbau etwa 10.000 US-Soldaten verbleiben, so genannte "Stryker-Brigaden" mit Panzerfahrzeugen, die wesentlich leichter sind als die Abrams-Kampfpanzer.

Der Umbau der US-Streitkräfte in Großbritannien

Die in Großbritannien stationierten Bomber der US Air Force sollen nach Neapel verlegt werden, wo bereits die 6. US-Flotte stationiert ist. Damit wird Neapel zum größten militärischen Umschlagplatz Europas.
Daneben gibt es in Italien, zwischen Livorno und Pisa, mit Camp Darby das größte Militärdepot der Welt. Es spielt eine zentrale Rolle bei der Versorgung der amerikanischen Truppen im Irak.

Europa als Nachschubbasis der amerikanischen Streitkräfte

Es wird deutlich, dass Europa inzwischen für die USA  nicht mehr Frontgebiet, sondern Nachschubbasis ist. Vor allem Italien profitiert von dieser Umstrukturierung, im Gegensatz zu Deutschland.

Die Situation in Südkorea

In Südkorea haben die USA 31.000 Soldaten stationiert. Nordkorea ist nach wie vor ein feindliches Land. Trotzdem sollen die US-Truppen praktisch nur noch die Grenze sichern. Insgesamt soll etwa ein Drittel der amerikanischen Streitkräfte Südkorea verlassen. 5000 Soldaten sind bereits in den Irak verlegt worden.

Auch Japan ist betroffen

In Japan sind die USA seit dessen Kapitulation im Jahre 1945 präsent. Gemäß dem amerikanisch-japanischen Sicherheitsvertrag von 1960 sind 47.000 Soldaten in 91 Stützpunkten stationiert, auf Honshu (das Hauptquartier der 7. US-Flotte in Yokusuka) und Kyushu sowie allein 30.000 auf der kleinen Insel Okinawa.
Das Oberkommando hat seinen Sitz in Yokota westlich von Tokio.
Die Kosten für die Militärpräsenz belaufen sich auf 7 Milliarden Dollar pro Jahr. Davon kommen 60 % aus dem japanischen Haushalt. Es handelt sich also um ein bedeutendes Kontingent, aber die politischen Diskussionen zwischen den USA und Japan um das Ausmaß der Reduzierung sowie um die künftige Form und den Zweck dieser Präsenz sind ins Stocken geraten.
Außerdem geht es um die Lagerung von Mini-Atomwaffen, so genannter mini-nukes.

Wohin sollen die Streitkräfte verlagert werden?

Deutschland, Großbritannien, Südkorea und Japan – die USA ziehen sich von den Schauplätzen zurück, an denen die Kriege des 20. Jahrhunderts beendet wurden.
Die amerikanischen Streitkräfte werden in der Nähe der Krisenherde (Naher und Mittlerer Osten, Kaukasus, Zentralasien) stationiert.
Damit will man den neuen, von multinationalen und mobilen Terrornetzwerken ausgehenden Bedrohungen Rechnung tragen, denn diese Gruppen verfügen weder über ein Gebiet noch über eine Armee.

Neue Perspektiven in Osteuropa

Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien haben mit den USA Abkommen über die Einrichtung von Stützpunkten geschlossen. Die Personalkosten sind dort niedriger und die öffentliche Meinung weniger feindlich als in Deutschland.
Diese Vereinbarungen könnten sich für die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Verteidigung als hinderlich erweisen, da diese Staaten neben ihrer (im Fall Rumäniens und Bulgariens künftigen) Mitgliedschaft in der EU erst kürzlich auch der NATO beigetreten sind.

Veränderungen im Nahen Osten

Im Nahen Osten hatten die USA während des Krieges gegen den Irak fast 10.000 Soldaten in Saudi-Arabien stationiert, und der Prinz-Sultan-Stützpunkt diente als Kommandozentrale für die Luftangriffe. Langfristig soll die amerikanische Militärpräsenz dort aber abgebaut werden. Lediglich einige hundert Soldaten sollen sich in Dahran künftig um den Unterhalt der Luftwaffeneinrichtungen kümmern.
Für Washington geht es um einen politischen Rückzug aus Saudi-Arabien, das inzwischen als unsicherer Bündnispartner gilt. Deshalb hat das Pentagon eine Kommandostelle in Katar eingerichtet.

Eine ständige Präsenz in Zentralasien?

Seit ihrer Intervention in Afghanistan im Jahre 2001 haben die USA ihre Präsenz in der Kaukasusrepublik Georgien und in den zentralasiatischen Republiken Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan ausgeweitet.
Aufgrund dieser Präsenz ist es ihnen möglich, die islamistische Instabilität in Schach zu halten und die sich im Bau befindlichen Pipelines zu überwachen.
Noch ist nicht sicher, ob die amerikanische Präsenz in dieser Region von Dauer sein wird, aber in Usbekistan und Kirgisistan, das bei jedem Start eines Flugzeugs 7000 Dollar verdient, dauert sie jedenfalls an.

Die Rückkehr der USA nach Südostasien

In Südostasien vollzieht sich gerade eine verblüffende historische Wende. Denn die Regierung in Hanoi erwägt, den Vereinigten Staaten ihren ehemaligen Stützpunkt Cam Ranh zu verpachten, den die russische Pazifikflotte im Juli 2003 endgültig aufgegeben hat.
Auf den Philippinen hatten die USA bis 1991 Marinebasen in Subic Bay und Clark Airfield unterhalten. Inzwischen verhandelt man in Manila und Washington über eine Rückkehr der amerikanischen Truppen.
Für die USA hätte eine erneute Präsenz auf den Philippinen Vorteile: die Möglichkeit, die Abu-Sayyaf-Terrorgruppe zu bekämpfen und die Nähe zu China.

Der Ausbau der Pazifikflotte

Im Pazifik sollen darüber hinaus Einheiten der Marineluftwaffe San Diego in Kalifornien verlassen und nach Hawaii verlegt werden. Ein Teil der 7. US-Flotte soll auf Guam, einer amerikanischen Pazifikinsel, stationiert werden. Dadurch würde sie näher an den Indischen Ozean und an Diego Garcia heranrücken, die amerikanische Basis für die Operationen im Nahen und Mittleren Osten.

Der Streitkräfteumbau soll bis 2008 beendet werden, also bis zum Ende von Präsident Bushs zweiter Amtszeit. Man will der Bedrohung durch den Terrorismus entgegentreten und Streitkräfte in der Nähe der Krisenherde im Nahen Osten, Asien und Afrika stationieren. Die taktische Überlegung ist nicht mehr: "Wo haben wir wieviele Truppen?" sondern: "Können unsere Truppen schnell entscheidend eingreifen?" Es wird zu Kriegen mit leichten, mobilen Expeditionskorps kommen, von denen man nicht weiß, wo sie zum Einsatz kommen werden. Kriege ohne Territorien, ohne Forderungen und ohne Geheimverhandlungen.


Links:

Militärstandorte
//www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Standorte/Welcome.html
Sammlung von Beiträgen zum Thema "Militärstandorte in Deutschland, US-Stützpunkte, Munitionslager" auf den Internetseiten des "Friedenspolitischen Ratschlags" der AG Friedensforschung an der Universität Kassel.


Neue Kommandostruktur für die NATO
//www.nato.int/docu/review/2003/issue3/german/military.html
"Die Staats- und Regierungschefs der NATO haben sich letztes Jahr auf dem Prager Gipfel zur Umgestaltung des Bündnisses verpflichtet. Vor diesem Hintergrund gaben sie die Anweisung, die militärischen Führungsvorkehrungen zu straffen, um zur Erfüllung der operativen Voraussetzungen für das gesamte Spektrum der Bündnisaufgaben 'eine schlankere, effizientere und besser dislozierbare Kommandostruktur' zu erreichen. Nach intensiver Arbeit des Militärausschusses sowie der Gruppe hochrangiger Vertreter der Mitgliedstaaten und der strategischen Kommandobehörden vereinbarten die Verteidigungsminister der NATO-Staaten dann sieben Monate später die revidierten Führungsvorkehrungen. Die daraus hervorgegangene neue Kommandostruktur der NATO bedeutet die vielleicht wichtigste Entwicklung hinsichtlich der militärischen Organisation des Bündnisses, seit die NATO vor mehr als 50 Jahren gegründet wurde."


Streitkräftereform
//www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/USA/truppen.html#deutsch
Rede von Präsident George W. Bush bei der Veteranenkonferenz in Cincinnati vom 16. August 2004 sowie das Hintergrundpapier des Weißen Hauses zu diesem Thema (englisch und deutsch).


Essentials of Post-Cold War Deterrence (englisch)
nautilus.org/archives/nukestrat/USA/Advisory/essentials95.html
1995, also unter Präsident Clinton, im Namen des Nationalen Sicherheitsrates (Security Council) der USA erarbeitetes Memorandum mit dem Titel Essentials of Post-Cold War Deterrence (Grundzüge der Abschreckung nach Ende des Kalten Krieges), dessen Autoren der Strategic Advisory Group (SAG) angehörten. Sie propagieren darin, dass sich die Vereinigten Staaten als "irrational und rachsüchtig" präsentieren sollten, "wenn ihre vitalen Interessen attackiert werden". Auf der Website des Nautilus Institute for Security and Sustainable Development, das Strategien zur Lösung globaler Probleme auf den Gebieten Sicherheit und nachhaltige Entwicklung erarbeitet.


Die Transformation der US-Streitkräfte in Europa
//www.bits.de/public/researchnote/rn04-1.htm
Mit einer Rede vor Veteranen in Cincinnati hat US- Präsident George W. Bush am 16. August einen weltweiten Umbau der US-Streitkräfte angekündigt. Die Vorschläge sind Instrument im US-Präsidentschaftswahlkampf, werden aber auch zur tatsächlichen Transformation der Truppen führen. Der Autor, Otfried Nassauer, zeigt die Auswirkungen auf Europa. Auf den Internetseiten des BITS, des "Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit".


Wohin gehen die USA?
//www.bpb.de/publikationen/SOFKMR,4,0,Wohin_gehen_die_USA_Die_neue_Nationale_Sicherheitsstrategie_der_BushAdministration.html
Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema Nationale Sicherheitsstrategie der USA (NSS).
Quelle:

http://www.arte.tv/de/geschichte-gesellschaft/mit-offenen-karten/392,CmC=730556,CmPage=70.251900.259998.392,CmPart=com.arte-tv.www,CmStyle=98674,view=introduction.html

Kater

ZitatDie in Großbritannien stationierten Bomber der US Air Force sollen nach Neapel verlegt werden, wo bereits die 6. US-Flotte stationiert ist. Damit wird Neapel zum größten militärischen Umschlagplatz Europas. Daneben gibt es in Italien, zwischen Livorno und Pisa, mit Camp Darby das größte Militärdepot der Welt. Es spielt eine zentrale Rolle bei der Versorgung der amerikanischen Truppen im Irak.

Europa als Nachschubbasis der amerikanischen Streitkräfte
Es wird deutlich, dass Europa inzwischen für die USA  nicht mehr Frontgebiet, sondern Nachschubbasis ist. Vor allem Italien profitiert von dieser Umstrukturierung, im Gegensatz zu Deutschland.


klingt nach einer wirklich großartigen Idee  :D

Zitat"Ist das hier noch Europa?"
Mafia-Morde haben Neapel in die Schlagzeilen gebracht - für die Neapolitaner aber ist die alltägliche Gewalt in ihrer Stadt das viel größere Problem
06.11.2006
Regina Kerner

NEAPEL. Es ist erst ein paar Tage her, da wurde Maurizio Gaudino am helllichten Tag ausgeraubt. Auf der Piazza Garibaldi war das, mitten in Neapel, um fünf Uhr nachmittags in einem Bus. Ein junger Mann hielt ihm ein Messer vor die Brust und wollte sein Geld. Viel hatte Maurizio Gaudino nicht dabei, er ist Soziologe und arbeitslos. Er gab ihm die 65 Euro aus seiner Brieftasche. Es waren auch andere Fahrgäste im Bus, aber die taten so, als sähen sie nichts. "Was ist das bloß für eine Stadt, in der mitten am Tag so etwas passiert?", fragt Maurizio Gaudino seither jedes Mal erregt, wenn er die Geschichte erzählt. "Neapel hat eine glanzvolle Geschichte und wunderschöne Architektur. Aber man fragt sich, ist das hier noch Europa?" Damit will er nicht sagen, dass der Räuber einer der vielen Schwarzafrikaner war, die auf den Straßen rund um die Piazza Garibaldi billige Imitate von Markenhandtaschen verkaufen. Nein, der junge Mann mit dem Messer sprach neapolitanischen Dialekt. Er frage sich, sagt Gaudino, ob in seiner Heimatstadt gar keine Regeln für ein zivilisiertes Zusammenleben mehr gelten.

Die Frage, was das für eine merkwürdige Stadt ist, in der sie leben, stellen sich in diesen Tagen viele Neapolitaner. Innerhalb von zehn Tagen sind zwölf Menschen auf offener Straße erschossen worden. Fast alle gehörten sie zu den Clans der Camorra, den Mafiafamilien, die die Stadt unter sich aufgeteilt haben. Nach der Mordserie haben die italienischen Politiker Neapel zu einer Art Notstandsgebiet erklärt. Von einem Sumpf ist die Rede, von einer Stadt im Zustand der Verwesung, dem Untergang nahe. Die Regierung in Rom erwog sogar, die Armee nach Neapel zu schicken.

In den Cafés, in den Geschäften, bei lautstarken Unterhaltungen in den wäschebehängten Gassen der Altstadt ist das alles seit Tagen das große Thema. Die Neapolitaner schwanken zwischen der Empörung über ihre Stadt und der Empörung darüber, dass sie einen so schlechten Ruf hat. Aber es sind gar nicht die Morde der Camorra, die die Leute aufwühlen. Die hat es immer gegeben, sagen sie. Wenn gerade wieder ein Krieg zwischen den Clans tobte, wie Anfang der Neunzigerjahre, dann starben weit mehr als 200 Camorristi innerhalb von zwölf Monaten. Was die Neapolitaner wirklich beschäftigt, das sind die tagtäglichen Überfälle auf den Straßen, die Kleinkriminellen und Handtaschendiebe, vor denen man auf der Hut sein muss, die sinnlose Gewalt von Jugendlichen.

Die Politikstudentin Marina Moschi etwa erzählt, wie sie mit Kommilitonen in einem Straßencafé nahe der Spaccanapoli saß, der Gasse, die die Altstadt längs durchschneidet. Eine junge Frau auf dem Rücksitz eines Mopeds griff im Vorbeifahren nach ihrem Haarzopf. Und riss daran. Einfach so. Marina kamen vor Schmerz die Tränen, sagt sie. Ihrem Freund Mauro hat ein Mann kürzlich die Pistole an den Kopf gehalten und das Moped verlangt, auf dem er saß.

Geschichten wie diese können viele Neapolitaner erzählen. Fragt man, wo die Ursachen liegen für die Blüte der Gewalt und Kriminalität in der Stadt, so gibt es ganz verschiedene Antworten, die alle zusammengenommen vielleicht eine Erklärung liefern. Natürlich sagen viele, dass die Politik schuld ist. Es gibt aber auch eine selbstkritische Antwort. Sie besagt, dass die Neapolitaner keine Regeln respektieren, keinen Sinn für Rechtstaatlichkeit haben und keinen Bürgersinn. So sieht es der Kardinal von Neapel, Erzbischof Crescenzio Sepe. So sieht es auch Maurizio Gaudino, der Soziologe, dem man im Bus ein Messer vor die Brust setzte. Und dann gibt es noch eine weit verbreitete Erklärung in Neapel: Die Drogen sind schuld. Denn die Camorra verdient einen Großteil ihrer Milliarden im Handel mit Kokain, Heroin und Ecstasy. Eine Ursache schließlich sehen alle in Neapel deutlich: die Arbeitslosigkeit. In dieser Stadt mit 1,2 Millionen Einwohnern findet die Hälfte der Jugendlichen keinen Job. So schlagen sich viele durch, werden kriminell und heuern beim größten Arbeitgeber der Region an, der Camorra.

Die Studentin Marina glaubt, dass die junge Frau, die sie an den Haaren riss, aus einer der Gegenden Neapels kam, die man besser meidet und von denen es unzählige gibt. Auf einem - noch zu erstellenden - Stadtplan des kriminellen Neapels müssten sie als rote Gefahrenzonen gekennzeichnet werden. Es sind Bereiche in der Altstadt, wie die Quartieri Spagnoli, ein Geflecht aus engen Gassen, die sich zu beiden Seiten der Geschäftsstraße Via Toledo erstrecken. Oder das Viertel Sanit, das gleich hinter der Kathedrale beginnt. Für Touristen wäre solch ein Stadtplan eine große Hilfe. Denn das komplizierte Muster der "No-Go-Areas" ist für sie kaum zu erkennen. "Nicht einmal dafür gibt es Regeln", sagt Marina. Ein Geschäftsmann erzählt, er sei in der Altstadt mit der Vespa gestürzt, weil das Pflaster mit Öl bedeckt war. Das ist die Methode der Bewohner dort, um sich gegen Razzien der Polizei zu schützen, die in den Gassen nur mit Mopeds vorankommt.

In die berüchtigtsten Gegenden - die Peripherie im Norden Neapels - verschlägt es keinen einzigen Touristen. Dahin fahren auch Einheimische freiwillig nicht, und sogar die Polizei kommt nur selten. "Scampia, das ist wie der Irak", sagt der Taxifahrer im Zentrum von Neapel. "Ein schrecklicher Ort." Wenn es dunkel ist, weigert er sich, das Viertel am nördlichen Stadtrand anzusteuern. "Ich will doch keine Kugel in den Kopf." Scampia ist vom romantischen Panorama der Altstadt mit Vesuv und blauem Mittelmeer tatsächlich mindestens so weit entfernt wie Bagdad. Graue Betonwürfel stehen in verwildertem Brachland, auf den Straßen stapelt sich der Sperrmüll und unter den Autobahnbrücken haben Roma-Familien Hütten gebaut. Scampia gilt als Hochburg der Camorra, als Zentrum ihrer Drogengeschäfte. Etwa hunderttausend Menschen leben in den Sozialwohnungsblocks, die seit Mitte der Sechzigerjahre in die Landschaft der Campania gebaut wurden. Wer hier aufwächst, hat kaum eine Chance, je wieder herauszukommen.

Antonietta, eine kleine resolute Frau, die den weichen Dialekt Neapels spricht, wohnt seit zwanzig Jahren hier. Die Drei-Zimmer-Wohnung kostet nur 60 Euro im Monat und ihr Mann, der als Straßenkehrer arbeitet, verdient nicht genug, als dass die Familie umziehen könnte. Ihre Wohnung ist groß, hell und sauber, aber im Treppenhaus fehlen Fensterscheiben, die Wände sind voller Graffiti. Im ganzen Viertel gibt es nur einen Supermarkt, kein Café, kein Jugendzentrum. Von ihrem Wohnzimmerfenster aus kann Antonietta beobachten, wie gegenüber im halb zugemauerten ehemaligen Kindergarten Drogen verkauft werden. Unten halten die Autos, und vom ersten Stock aus wird an einer Schnur ein Körbchen mit dem Stoff heruntergelassen. Von dort aus können die Dealer - Jungs aus der Nachbarschaft - die Straße überblicken. Und falls doch einmal die Polizei kommt, sind sie schnell weg.

Antoniettas Tochter Laura hat einen Job, sie arbeitet in einem kleinen Betrieb in der Provinz, der Handtaschen herstellt. Laura verdient 100 Euro die Woche, als Schwarzarbeiterin. "Ein Dealer bekommt dagegen mindestens 100 Euro am Tag", sagt Antonietta. Sie kann nicht verstehen, dass die Stadt Neapel viel Geld ausgibt für Kultur, aber nichts übrig hat, um in Scampia etwas zu unternehmen, um die Jugendlichen von den Drogen wegzubringen und von den Straßen.

An diesem Punkt treffen sich die Meinungen von Antonietta, der Hausfrau aus Scampia, und von Franco Roberti, dem Staatsanwalt und Leiter der Anti-Camorra-Ermittlungsgruppe von Neapel. Roberti, ein Mann in den Fünfzigern, graumeliert, Kettenraucher, hat sein Büro im zwölften Stock eines Hochhauses. Durch trübe Fensterscheiben blickt er auf Industrie- und Raffinerieanlagen mit dem Vesuv im Hintergrund. Die Bürostühle sind abgewetzt, das ganze Gebäude hat etwas Melancholisches, Roberti selbst auch. Er gäbe eine gute Figur in einem Krimi ab. Seit einem Jahr leitet Roberti die 23 Mitarbeiter der Ermittlungsgruppe, steht selbst unter Polizeischutz. Für einen Mann in dieser Position ist er ungewöhnlich offen. Wenn er über die Ursachen der Misere spricht und darüber, warum die Politik gerade jetzt so stark darauf reagiert, klingt er resigniert. Roberti sagt, Neapel sei die am schwersten zu regierende Stadt Italiens, es gebe hier so großen Reichtum und so große Armut. "Jeden Morgen wachen hier tausende von Verzweifelten auf, die ohne jede Perspektive sind und bereit, alles zu tun." In den vergangenen Monaten hätten sich aber die Probleme potenziert. Denn da gab es ja auch den "indulto", den Straferlass.

Vor zwei Monaten hat die Regierung von Romano Prodi tausende Häftlinge aus den überfüllten Gefängnissen entlassen. Darunter waren eben auch viele Camorristi, sagt Staatsanwalt Roberti. Es sei erwiesen, dass einige der Killer und sogar einige der zwölf Opfer der vergangenen Tage frisch aus dem Knast gekommen waren. "Die haben versucht, wieder in ihre alte Position im Drogengeschäft einzusteigen, da gab es Rivalitäten", sagt Roberti. Die Beteuerungen von Regierungschef Prodi, der Straferlass habe nichts mit den Camorra-Morden in Neapel zu tun, kommentiert der Staatsanwalt mit einem müden Lächeln.

Und dann kommt er zu seinem wichtigsten, einem geradezu erschlagend ernüchternden Argument: Die Justizbehörden seien gar nicht in der Lage, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen, sagt Franco Roberti, der Staatsanwalt. Seine eigene Behörde auch nicht. "Es fehlt an allem: Funktionierende Autos, Benzin, sogar an Kassetten, um Verhöre aufzuzeichnen." Müde zählt er die Fakten auf: Dreißig Prozent der Stellen bleiben unbesetzt, weil kein Geld da ist, die Mitarbeiter sind überaltert und unmotiviert, täglich melden sich etwa vierzig Prozent des Personals krank. "Es ist eine katastrophale Situation", sagt Roberti und zündet sich eine Zigarette an. Dann sagt er noch, der Plan von Ministerpräsident Prodi, die Polizei in Neapel um tausend Mann zu verstärken, werde die Krise eher verschlimmern. Noch mehr Festnahmen - und die Justiz wäre völlig überfordert. Allein gegen mutmaßliche Camorristi laufen in Neapel mehr als 2 000 Ermittlungsverfahren, über 5 000 Handtaschenräuber sind in diesem Jahr festgenommen worden. Viele von ihnen kommen rasch wieder frei, weil sich keiner mit ihrem Fall befassen kann.

Der arbeitslose Soziologe Maurizio Gaudino hat übrigens den jungen Mann mit dem Messer, der ihn im Bus ausgeraubt hat, seither immer wieder gesehen. Immer an der Piazza Garibaldi, immer an der Bus-Haltestelle. "Der lungert da rum, unter Garantie bin ich nicht sein einziges Opfer. Und bestimmt kennen ihn viele - Busfahrer und Fahrgäste", sagt Gaudino. Aber keiner ruft die Polizei.

http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2006/1106/blickpunkt/0001/index.html?group=berliner-zeitung;sgroup=;day=today;suchen=1;keywords=Neapel;search_in=archive;match=strict;author=;ressort=;von=6.11.2006;bis=;mark=neapel

Kater

ZitatKoalitionsstreit um US-Militärbasis

Italiens Ministerpräsident Prodi wird sich trotz heftigen Protests im Land nicht gegen einen Ausbau eines US-Militärstützpunktes im Norden des Landes stellen. Seine Koalitionspartner protestieren gegen die Pläne.

Rom - Die Basis bei Vicenza nahe Venedig soll Einheiten der 173. Luftlandebrigade aufnehmen, die bislang in Bamberg und Schweinfurt stationiert sind. Ministerpräsident Romano Prodi sagte, er werde den italienischen US-Botschafter Ronald Spogli von der Entscheidung informieren. "Unsere Einstellung zu den USA ist die eines Freundes und Verbündeten", sagte Prodi. Spogli sprach von einem "Schritt nach vorne" für die amerikanisch-italienischen Beziehungen.

Die USA wollen mehrere hundert Millionen Dollar in den Ausbau des Stützpunkts investieren, damit dort 4500 Soldaten statt bislang 2750 stationiert werden können. Italienische Befürworter des Projekts weisen auf die Bedeutung für die örtliche Wirtschaft hin.

Der Ausbau des Stützpunkts ist in Italien umstritten. Teile der Regierungskoalition hatten eine Volksabstimmung verlangt und die Kommunisten mit Protest im Kabinett gedroht. Prodis Vorgänger, Silvio Berlusconi, warf Prodis Regierung Antiamerikanismus vor.

Die Debatte ging auch nach der Erklärung des Ministerpräsidenten weiter. Der Chef der italienischen Kommunisten, Oliviero Diliberto, sagte, er sei "sehr enttäuscht, sehr verärgert".

http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,460272,00.html

Regenwurm

Die "Ami's" als Weltpolizei.

Früher hat der CIA schon etliche Kriege angezettelt.

Die AMI-Armee hat noch nie einen Krieg gewonnen.

Sie verteilen sich und wollen die Weltmacht, doch plötzlich wollen die anderen auch Atomraketen !

Siehe Vietnam,Irak und Guantanamo.
Rüstungsindustrie und Börsenmakler-Kriegsgewinnler ohne Gewissen.

Warum besteht die Geschichte der menschlichen Zivilisationen aus einer Kette von Dynastien, Kaiserreichen und Diktaturen? Wäre es nicht Amerika, so würde ein anderer Staat die Weltherrrschaft anstreben. Das scheint gesetzmässig zu sein:

Die Gewalt besitzt das Primat, nicht die Vernunft.
Archaische Strategien dominieren auch die Politik: Revierverhalten, Recht des Stärkeren, Egoismus und Selbstüberschätzung, Auge um Auge ...
Die grössten Vereinfacher werden Volkshelden, Führer und Diktatoren.
Das Gewalt- und Meinungsmonopol führt zwangläufig zu einer Diktatur.
Auch die Demokratie ist eine Utopie, sie funktioniert nicht. Nicht einmal in der Familie (antiautoritäre Erziehung).
Der technische Fortschritt hat einen entscheidenden Effekt: Er verhilft dem Neandertaler zu einer besseren Keule.
"Es ist tragisch, vor Allem weil diese Todesfälle so einfach verhindert werden könnten. 3 von 4 Todesfällen bei Neugeborenen könnten mit einfachen und billigen Geräten, die schon lange verfügbar sind, verhindert werden: Zum Beispiel Antibiotika gegen Lungenentzündung, sterile Skalpelle die die Nabelschnur durchschneiden einfache Kleidung, um die Babys warm zu halten."

Schon mit wenigen Mitteln könnte man also Millionen von Babys retten. In Amerika wie in Afrika sind die Gründe, warum diese Mittel nicht zur Verfügung stehen, im Übrigen verwandt:
In Amerika herrscht der militärisch-industrielle Komplex, der astronomisch hohe Rüstungsausgaben für sich einsackt. Da bleibt kein Geld für ein paar Ghettomütter. Für Halliburtons Aktienkurs muss nunmal auch der ärmste Amerikaner Opfer bringen.
Das System macht keine Fehler, es ist der Fehler.

  • Chefduzen Spendenbutton