Dringende Bitte um Rat: Eine innerbetriebliche Forderung und ihre (möglichen) Folgen (LANG)

Begonnen von Sefardim, 13:21:27 Sa. 18.November 2006

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Sefardim

Hallo,

ich wende mich mit einer netten Geschichte aus der Arbeitswelt an die Lesenden dieser Gruppe. Zur Vorgeschichte:

Meine Mutter hat nach langer Arbeitslosigkeit in diesem Jahr endlich eine neue Stelle angetreten. Sie ist jetzt in einer mittelständischen Firma beschäftigt, die im Frühjahr ihre Produktion vom 3 – auf ein 4-Schicht-System umgestellt hat. Durch die Umstellung wurde es nötig, die bestehenden Teams zu splitten und für jede der vier neuen Arbeitsgruppen eine weitere Arbeiterin einzustellen. Unter diesen vier Neuen war dann eben auch meine Mutter.

Der Geschäftsführer der Firma hatte versprochen, dass keine der Frauen durch die Umstellung Lohneinbußen zu befürchten habe. Jedoch sehen die Beschäftigten das mittlerweile anders, da sie zwar den gleichen Lohn erhalten wie vorher (was, weil unsere Geschichte nun einmal im Osten spielt, nicht wirklich viel ist) und in etwa die gleiche Stundenzahl dafür aufbringen, innerhalb der Schichten jedoch das Arbeitsaufkommen stark gestiegen ist (sprich: sie alle müssen innerhalb der Schichten mehr Aufgaben übernehmen und noch mehr leisten als vor der Umstellung).

Aus diesem Grund haben die Beschäftigten unlängst ihren Chef um eine Vollversammlung gebeten, bei der sie um eine geringfügige Lohnerhöhung bitten wollten. Die Anfrage wurde abgeschmettert und der Betriebsleiter schlug stattdessen vor, jede der Frauen in Einzelgesprächen anzuhören.

Das hat den Beteiligten jedoch nicht zugesagt, weshalb sie einen Brief aufsetzten, in dem sie noch einmal förmlich um eine Vollversammlung baten. Um Geschlossenheit zu demonstrieren, wurde dieses Schreiben von allen Beteiligten unterzeichnet. Auch meine Mutter und die anderen drei neu eingestellten Kolleginnen schlossen sich dem Ansinnen an, um ihre Kollegen zu unterstützen. Jetzt hat meine Mutter jedoch regelrecht Panik, ihren Job zu verlieren, denn:

Der Betriebsleiter hat auf die schriftliche Anfrage höchst säuerlich reagiert. Er bestellt in dieser und der kommenden Woche die Beschäftigten einzeln zu sich ins Büro und verhört sie dort regelrecht: Wer hat den Brief verfasst? Wurden die Frauen dazu überredet, zu unterschreiben? Dabei soll er sich alles andere als freundlich gebärden, noch dazu wird jedes gesprochene Wort fein säuberlich protokolliert – und es gibt einen Eintrag in die Personalakte.

Die Gespräche mit den vier ,,Neuen" hat er sich für den Schluss seiner Interviewrunde aufgehoben. Wichtig ist noch, dass alle vier noch in der Probezeit sind. Sie sind sich bewusst, dass Lohnforderungen für sie ohnehin nichts bringen, wollten jedoch ihre Kollegen, wie schon gesagt, nicht im Regen stehen lassen und sich nicht gegen ihre Teams stellen, indem sie nicht unterzeichnen.

Meine Mutter denkt jetzt darüber nach, ihre Unterschrift zurückzuziehen, da sie Angst hat, nach ihrem ,,Gesprächs"-Termin in der kommenden Woche ihre fristlose Kündigung zu erhalten.

Nun ist es aber zum einen so, dass sich die Unterschrift ja nicht dematerialisieren würde, wenn sie die entsprechenden Worte ausspricht. Außerdem könnte – rein theoretisch – ein Rückzieher ihrerseits gewaltige Auswirkungen auf ihren Stand im Team haben.

Was ist an dieser Stelle angebracht?

Besteht eurer Ansicht nach tatsächlich die Möglichkeit, wegen einer solchen Lappalie – nichts anderes ist es in meinen Augen – entlassen zu werden?

Wenn es so weit kommen sollte: Welche Schritte wären möglich und angebracht?

Ich bitte vielmals um Verzeihung für die Länge des Posts,

mit freundlichen Grüßen,

S.

Troll

Hallo,

hat die Firma einen Betriebsrat? Wenn ja, würde ich mich mit dem mal unterhalten und wenn möglich mit zu dem Gespräch nehmen.


Probezeit: Möglichkeit zu kündigen oder entlassen zu werden ohne Angabe von Gründen.
Politik ist der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.
Dieter Hildebrandt
Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein.
Jiddu Krishnamurti

Sefardim

ZitatOriginal von Troll
Hallo,

hat die Firma einen Betriebsrat? Wenn ja, würde ich mich mit dem mal unterhalten und wenn möglich mit zu dem Gespräch nehmen.

Hallo Troll, leider existiert kein Betriebsrat und die Belegschaft ist zu klein, als das einer zwingend vorgeschrieben werden könnte.


ZitatOriginal von Troll
Probezeit: Möglichkeit zu kündigen oder entlassen zu werden ohne Angabe von Gründen.

Genau das ist das Problem. Von da her auch die Frage, was man unternehmen könnte, wenn es soweit kommen sollte.

Im Moment möchte ich wirklich nicht in der Haut meiner Mutter stecken... sie wollte eben alles richtig machen und es sich mit keiner der beiden Seiten verscherzen. Mit ihren Kollegen versteht sie sich gut und sie wollte, dass das auch so bleibt. Außerdem hat sie den Brief gelesen, der war wirklich harmlos. Jetzt versteht sie natürlich nicht, wieso dieses Aufhebens gemacht wird.

Troll

ZitatAußerdem hat sie den Brief gelesen, der war wirklich harmlos. Jetzt versteht sie natürlich nicht, wieso dieses Aufhebens gemacht wird.

Meine Vermutung wäre, daß der Chef ein netter Zeitgenosse ist der jegliche Kritik am liebsten mit der Knute bentworten würde. Alle sollen froh sein wenn sie Arbeit haben, jede Frage nach mehr bzw. gerechter Entlohnung wird als unberechtigte Unverschämtheit angesehen.

ZitatGenau das ist das Problem. Von da her auch die Frage, was man unternehmen könnte, wenn es soweit kommen sollte.

Leider das gleiche was sie vor dem neuen Job gemacht hat  :(
Ansonsten hoffen daß es nicht so schlimm kommt wie wir uns es gerade ausmalen.
Politik ist der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.
Dieter Hildebrandt
Es ist kein Zeichen geistiger Gesundheit, gut angepasst an eine kranke Gesellschaft zu sein.
Jiddu Krishnamurti

besorgter bürger

ZitatMit ihren Kollegen versteht sie sich gut und sie wollte, dass das auch so bleibt. Außerdem hat sie den Brief gelesen, der war wirklich harmlos.

genau so würde ichs auch dem chef erzählen. mal ehrlich, was ist so schlimm daran nach einer lohnerhöhung zu fragen?

ZitatBesteht eurer Ansicht nach tatsächlich die Möglichkeit, wegen einer solchen Lappalie – nichts anderes ist es in meinen Augen – entlassen zu werden?

eigendlich nicht, es sei den der chef will ein exempel statuieren. warscheinlich versucht er deshalb in den einzelgesprächen rauszufinden wer "die anführer" sind. kann er die nicht entlassen, warum auch immer, könnte er auf die idee kommen irgendjeman zu entlassen, hauptsache die anderen bekommen angst.
das könnte dann die probezeitler treffen.
Viele Menschen würden eher sterben als denken. Und in der Tat: Sie tun es.

Klassenkampf

ZitatBesteht eurer Ansicht nach tatsächlich die Möglichkeit, wegen einer solchen Lappalie – nichts anderes ist es in meinen Augen – entlassen zu werden?

Genau das ist das Problem. Von da her auch die Frage, was man unternehmen könnte, wenn es soweit kommen sollte.

Tatsächlich besteht in der Probezeit die Möglichkeit aufgrund ganz anderer Lappalien, ja, aufgrund einer schiefsitzenden Nase entlassen zu werden. Natürlich ließ es sich der Gesetzgeber nicht nehmen, den Unternehmen die Freiheit zu belassen, keine Gründe angeben zu müssen, während der ersten sechs Monate. Grundlos entlassen wird aber freilich niemand, die Gründe vollziehen sich aber alleine im Kopf des Personalbevollmächtigten oder des Betriebsleiters. Rechenschaft über deren wirre Motive müssen sie nicht ablegen.

Gäbe es einen Betriebsrat, so ist dieser von der Kündigung zu unterrichten, mitsamt den Gründen, die zur Entlassung führten. Dieses Aufzählen angeblicher Gründe ist reine Formalie und bestenfalls als Interna anzusehen. Handlungsspielraum bleibt auch dem Betriebsrat nicht.

Außerhalb der Probezeit wäre dies kein Kündigungsgrund, zumal es sich nur um eine schriftliche Anfrage handelt, nicht um Drohung mit Streikabsichten oder dergleichen. Käme es zur Kündigung, wird er - da nicht nötig - keine Gründe angeben; sein Grund, der ihm im Kopf rumspukt wird die vermeintliche oppositionelle Haltung der neuen Mitarbeiterinnen sein. Faule Äpfel hat er sich in den Korb geholt, womöglich sind sie die Initiatoren des Aufstandes, da es vorher kein solches Verhalten der Belegschaft gab...

Freilich muß es nicht zum Schlimmsten - wenn es denn das Schlimmste ist, was dem Menschen widerfahren kann - kommen. Aber da die industrielle Reservearmee geduldig wartet und Löhne nach unten treibt, kann die Kündigung der Neuen als statuiertes Exempel dienen, quasi als Maulkorb für die alte Belegschaft, aber auch als Warnsignal für die baldigen Neuen.

Die Möglichkeiten dagegen juristisch vorzugehen sind vergebene Liebesmüh'; ein Anwalt würde bereits vorher abraten, sich vor dem Arbeitsgericht eine Niederlage einzuhandeln.

Das Verhalten des Betriebsleiters indes, offenbart das Tyrannische, mit dem dieser Betrieb scheinbar geführt wird. Opposition wird nicht geduldet und selbst eine harmlose schriftliche Anfrage wird behandelt wie ein Frevel, wie eine persönliche Beleidigung. Die Stammbelegschaft wird - wie es erfahrungsgemäß abläuft - schlucken und diese Despotie weitererdulden, schließlich hat man ja einen Hungerlohn zu verlieren. Sie - die Altgedienten - wären es, die Holzschuhe ins Getriebe keilen könnten, wenn sie nur wollten...

Leider gibt es wenig Hoffnung in diesem Falle, sollte es zum Äußersten, sprich: zur Kündigung, kommen. Die Gewißheit aber, sich nicht selbst verraten, nach besten Gewissen geurteilt zu haben, mag kurzfristig kaum Trost spenden, aber die Freude, sein Gesicht weiterhin im Spiegel betrachten zu können, ohne sich schämen zu müssen, wird langfristig eine wertvolle Tatsache sein.

Oder anders formuliert: Ihre Mutter sollte nicht daran zweifeln richtig gehandelt zu haben, Zweifel sind an den despotischen Machenschaften dieses Herrn angebracht.
Ob außerdem der Rückzug der Unterschrift sinnvoll sein kann? - Daran könnte der Tyrann akute Charakterschwäche festmachen.

Dennoch, alles Gute!
,,Diese Verhältnisse sind nicht die von Individuum zu Individuum, sondern die von Arbeiter zu Kapitalist... Streicht diese Verhältnisse, und ihr habt die ganze Gesellschaft aufgehoben."
--- Karl Marx, "Das Elend der Philosophie" ---

Paul Brömmel

Den Vorrednern kann ich mich hier nur anschließen.
Aber eine sinnvolle Möglichlichkeit gibt es noch : Presse und Fernsehen!
Auch wenn die mittlerweile ziemlich gleichgeschaltet sind ,bewirken sie im Einzelfall mitunter sehr viel !

raffi

ZitatHallo Troll, leider existiert kein Betriebsrat und die Belegschaft ist zu klein, als das einer zwingend vorgeschrieben werden könnte.
Hi Sefardim,
bin noch neu hier und weiß nicht ob das klappt, ich probiers mal:
Also wenn Deine Mutter in einem 4-Schicht-Betrieb arbeitet gehe ich mal davon aus, dass über 5 Leute dort arbeiten.
Im Betriebsverfassungsgesetz steht:
Betr.VG §1:
In Betrieben mit in der Regel mindestens 5 ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen 3 wählbar sein müssen, werden Betriebsräte gewählt Punkt
Frage:
Ist jemand von den Mitarbeitern vielleicht in einer Gewerkschaft? Wenn ja, dann mit dieser in Verbindung setzen. Wenn nicht sollten schnellstens einige und auch Deine Mutter in eine Gewerkschaft eintreten, denn für solche Fälle sind die da.
Viel Glück
Raffi
2 Dinge sind unendlich: Das Universum und die menschliche Dummheit.
Aber beim Universum bin ich mir doch nicht so sicher. A. Einstein

Sefardim

Erst einmal danke für die vielen Antworten eurerseits!

Hallo raffi,

einen Betriebsrat zu gründen, halte ich persönlich auch für eine gute Idee - doch geht es hier leider nicht ohne dickes ABER:

Wir befinden uns im Osten, und es ist leider kein Klischee, dass hier Gewerkschaften kaum Fuß fassen können.

Im Fall solcher kleinerer Betriebe wie den, den wir hier behandeln, liegt das besonders darin begründet, dass die Arbeitnehmer

a) Angst haben, sich ein Organ zu schaffen, da sie genau wissen, dass es immer auch eine Möglichkeit gibt, Gewerkschaftsmitglieder loszuwerden. Zur Not unterstellt man dann als Geschäftsführer halt Diebstahl oder Ähnliches - noch trauriger: Es werden sich oft auch Zeugen finden, die den Diebstahl bestätigen.

b) Trauen die Menschen teilweise den Gewerkschaften nichts zu.

Das sind Erfahrungen, die ich selbst gemacht habe, als wir in meiner alten Firma nach einem Weg gesucht haben, diverse Ungerechtigkeiten abzustellen. Selbst der patenteste Kollege, der für den Betriebsrat in Frage gekommen wäre, hat dankend abgelehnt: "Ich muss zwei Kinder ernähren."

raffi

Die grösste Feindin der Wahrheit ist die Feigheit,
nicht die Lüge. W.Ludin
2 Dinge sind unendlich: Das Universum und die menschliche Dummheit.
Aber beim Universum bin ich mir doch nicht so sicher. A. Einstein

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