Klasse, Klassenzusammensetzung. Wer gehört dazu?

Begonnen von Kuddel, 13:53:27 Fr. 31.Dezember 2021

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Kuddel

Ich habe die folgenden Beiträge aus dem "Corona Freestyle"Thread herausgenommen, weil sie nicht unbedingt im Coronazusammenhang gesehen werden müssen, aber selbst so interessant und wichtig sind, daß sie hier weiterdiskutiert werden können.

Admin


Zitat von: Frauenpower am 13:28:33 Fr. 31.Dezember 2021
...haette ich keine Lust , in die Arbeiter Schublade gestellt zu werden. Wo gehoeren denn die arbeitslosen Akademiker_innen   rein, die in Zeitarbeit stecken oder Taxi fahren?

Genau da liegt das Problem. Diverse linke Organisationen und auch der DGB haben seit Jahrzehnten eine Vorstellung von Klasse oder Arbeiter, da fühlt man sich nicht zugehörig oder will da auch keinesfalls zugehören. Deren schwachsinniges Arbeiterbild war noch nie zutreffend.

Frauenpower

Und was waere dann die richtige Vorstellung aus deiner Sicht?

dagobert

Arbeiter im marxschen Sinne ist m.A.n. jeder, der seine Arbeitskraft verkaufen muss um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Die formale Trennung in Arbeiter und Angestellte kann in diesem Zusammenhang außer Acht bleiben. Abhängig von den laufenden Lohn- bzw. Gehaltszahlungen sind beide.
"Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden."
Thomas Mann, 1936

Kuddel

Alle, die nicht über Reichtum oder Produktionsmittel verfügen und sich irgendwie durchschlagen müssen.
Nicht nur Facharbeiter, sondern genauso Erwerbslose, Schwarzarbeiter, Rentner, Tagelöhner, Hausfrauen, Prostituierte, Akademiker, Scheinselbständige...


counselor

ZitatGenau da liegt das Problem. Diverse linke Organisationen und auch der DGB haben seit Jahrzehnten eine Vorstellung von Klasse oder Arbeiter, da fühlt man sich nicht zugehörig oder will da auch keinesfalls zugehören. Deren schwachsinniges Arbeiterbild war noch nie zutreffend.

Das liegt aber auch daran, wie man 'Arbeiter' definiert. Weite Teile der Gesellschaft verstehen darunter einen Arbeitnehmer, der nicht die Merkmale eines Angestellten erfüllt. Beispiele: Büroarbeit, kaufmännische Tätigkeit (auch einfacher Art) sowie Verkaufstätigkeit im Warenhaus begründen Angestellteneigenschaft; Kellner und Straßenbahnschaffner sind Arbeiter.

Die von Dir gescholtenen Organisationen konzentrieren sich in ihrer Arbeit auf das internationale Industrieproletariat. Darunter verstehen sie Arbeiter und Angestellte der internationalen Konzerne. Sie sind der Ansicht, dass man in diesen Konzernen dem internationalen Finanzkapital die zentrale Machtfrage stellen kann.

Nach Karl Marx sind Proletarier doppelt freie Lohnarbeiter, Menschen, die nichts anderes besitzen als ihre Arbeitskraft, die also allein durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft ihren überwiegenden Lebensunterhalt erzielen können.
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Proletariat
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

Kuddel

Daß die gescholtenen Organisationen sich für das Internationale Industrieproletariat einsetzen, wage ich zu bezweifeln. Die DGB Gewerkschaften konzentrieren sich sehr wohl auf die Kernbelegschaften der internationalen Konzerne. Ich vermisse bei ihnen absolut die Idee des Internationalismus. Sie führen sich als Sozialpartner wie Comanager im internationalen Konkurrenzkampf auf. Die Stahldemos, die, glaub ich, fast jährlich stattfinden, sind schlimme Beispiele. Da marschieren Gerwerkschafter, Betriebsmanagement und Politiker gemeinsam und fordern u.a. weniger strenge Umweltregeln, um besser mit "China" konkurrieren zu können.

Der DGB ist auch derart auf die Stammarbeiter konzentriert, daß er Leiharbeiter und Outgesourcte einfach vergißt. Die Stammbelegschaften schrumpfen, und die Zersplitterung der Belegschaften nimmt zu. Werkverträge und diverse Formen der Scheinselbständigkeit sind schlimme Beispiele. Nicht das Klientel des DGB.

Ich hatte noch in der Schule gelernt, in England gäbe es noch eine "Arbeiterklasse", in Deutschland sei sie schon lange verschwunden. Man ging wohl von der Idee aus, daß ein richtiger Arbeiter "nichts zu verlieren hat, als seine Ketten". Da der deutsche Malocher aber oftmals ein Auto und einen Fernseher hatte, konnte er ja nicht mehr gemeint sein.

"Occupy", bzw. "Occupy Wall Street" sah es extrem anders. Man formulierte, "wir sind die 99%" und sah nur das eine Prozent der Superreichen auf der gegnerischen Seite.

Ich denke, es ist alles durchaus komplizierter. Es macht Sinn, daß wir hier weiter darüber quatschen.

Kuddel

Wenn wir den Kapitalismus überwinden wollen, kommen wir nicht umhin, uns mit der Klassenfrage auseinanderzusetzen. Das kommt so abgehoben und theoretisch rüber. "Arbeiterklasse" verbindet man doch mit diesen Vorstellungen von anno dunnemals mit Männern, die in Bergwerken oder der Stahlindustrie malochen.

Das ist heute eine verschwindend kleine Minderheit. Der Kapitalismus hat die Menschen heute so vielfältig eingebunden, daß man nicht mehr durchblickt. Als in den 60er und 70er Jahren viele Frauen ihr reines Hausfrauendasein aufgaben und in die Fabriken gingen, sprach man davon, sie würden "hinzuverdienen", also den Lohn ihrer Männer mit ihrer Arbeit aufstocken.

In den 70ern sangen Ton Steine Scherben "Ich will nicht werden, was mein Alter ist!". Arbeit war nicht das, was man anstrebte. "Arbeit macht das Leben süß - so süß wie Maschinenöl" (aus dem gleichen Song). Viele versuchten sich der Ausbeutung zu entziehen, man "jobbte" für begrenzte Zeit und lebte mit heruntergeschraubten finanziellen Ansprüchen vom Sozial- oder Arbeitsamt. Mit der Alternativbewegung versuchte man sich von Fabriken und Stechuhren zu entfernen und in der Form der Arbeit bereits eine bessere Gesellschaft vorwegzunehmen. Es ging um bessere Produkte, die auch ökologisch akzeptabel sind, um bessere Ernährung, um Kritik an der Schulmedizin, um ökologisches Bauen und ähnliches. Das war irgendwann auch einfach "Arbeit" und es war kein Thema, daß man mehr Wochenstunden arbeitete und dafür weniger Kohle kriegte, als der verachtete Fabrikarbeiter. Viele der ehemaligen "Jobber" machten sich selbständig, wurden Kleinunternehmer.

Heute hat sich das Image geändert, das schnarchig freakige wird belächelt und das Kleinunternehmertum nennt man ganz hip "Start-up" oder spricht von "Gründern". Und da haben wir eine komische Kultur, mit der wir als Linke nicht umzugehen wissen. Sind das nun Unternehmer, Kapitalisten? Andererseits arbeiten die Kleinunternehmer selbst hart wie Sau. Bis zum Umfallen. Inzwischen werden überall viele aus den traditionellen Produktionsprozessen herausgedrängt und in eine Scheinselbständigkeit gezwungen. Scheinselbständige Paketkuriere, die zu unterirdischen Bedingungen malochen. Radkuriere, die keine Vorgesetzten haben, sondern für eine App arbeiten.  Es kommt ein weiteres Problem hinzu. Ein Teil der Radkuriere will auch kein Arbeitsverhältnis mit Festanstellung. (Das ist in Europa, den USA oder China ähnlich.) Sie empfinden die Tagelöhnerei als persönliche "Freiheit" und arbeiten nur dann, wenn sie Geld brauchen und lassen es bleiben, wenn sie sich nicht so gut fühlen oder etwas anderes vorhaben. Wenn das Geld aber ständig knapp ist oder die Gesundheit nicht mitspielt, wird es zu einem Problem.

Wie gehen wir mit den Leuten um, die ein bißchen Unternehmer, aber gleichzeitig auch Arbeiter sind?

Klasse ist nicht unbedingt etwas, was als Begriff von außen übergestülpt werden kann. Klasse definiert sich auch in ihren Kämpfen. In den Streiks der LKW Fahrer in Kanada, in Rußland oder in Lateinamerika streikten angestellte Fahrer und selbstfahrende Unternehmer gemeinsam, oftmals waren die "Unternehmer" dabei in der Mehrheit. Gewerkschaften spielten in diesen Kämpfen keine oder eine untergeordnete Rolle. Die Kämpfe wurden teilweise sehr miltitant geführt und meist konnten weder brutale Polizeieinsätze noch Knaststrafen für "Streikführer" sie brechen.

Wir müssen uns mit den Menschen jenseits der klassischen Arbeiterschaft auseinandersetzen. Mit dieser komischen "Mittelschicht" wollten wir noch nie etwas zu tun haben. Da kriegen wir gerade die Quittung fur. Diese zuvor so auf Individualismus stehende "Mitte" findet in ihrer Angst vor dem Absturz ihre Kollektivität bei den Querdenkern.

Kuddel

Es ist ein echtes Problem, wie wenig wir uns mit der Klassenzusammensetzung auseinandersetzen.

Die MLPD orientiert sich weitgehend an einem historischen Arbeiterbild. Entsprechend kümmert man sich gezielt um Stahlarbeiter, Bergarbeiter und Automobilarbeiter.

Der DGB hat sein Hauptinteresse bei den Stammbelegschaften, vorzugsweise bei den gutbezahlten Auto- und Elektoindustriearbeitern, denn mit hohen Löhnen gibt es auch hohe Mitgliedsbeiträge.

Linksradikale haben eher ein Faible für prekär Beschäftigte.

Es bleibt da eine komische Mittelschicht außen vor, oftmals als Soloselbständige oder Kleinunternehmer. Viele von denen sind bei den Querdenkern gelandet.

Ich befürchte, das ist der Denkzettel dafür, daß wir uns nie für sie interessiert haben. Da fürchten inzwischen auch die Besserverdienenden den sozialen Absturz. Es ist zu verkürzt, sie einfach als "Kleinbürger" abzutun oder als Unternehmerpack. Sie arbeiten auch, teilweise wie die Irren.

Im Rahmen der Coronafolgen haben sich die Leute aus dem Kultursektor selbst organisiert, ein wahrlich weites Spektrum von Tresenkräften über DJs, Licht- und Tontechniker bis hin zu Festivalorganisatoren, also keine Kleinbetriebe mehr. Die haben beachtliche Proteste auf die Beine gestellt und zwar mit einer klaren Abgrenzung nach rechts und mit Maske und Abstand. Das hat super funktioniert und war auch recht erfolgreich. Warum haben wir uns damit nicht mehr beschäftigt? Man könnte davon lernen. Es war ein nicht unproblematischer Mix von prekär Beschäftigten, Soloselbständigen und mittelständischen Unternehmern. In dieser Sache hat es aber funktioniert.

Ich habe von jemandem aus dem Gesundheitsbereich gehört, wie er es hasste, wie Gewerkschaften und Linke dogmatisch an Spaltungen festhalten würden. Die Gewerkschaften legen wert auf Mitgliedschaft in ihrem Verein. Gewerkschaften und Linke stehen Ärzten auch eher ablehnend und naserümpfend und man hält sie irgendwie für die "Gegenseite". Dabei arbeiten sich Krankenhausärzte auch oftmals kaputt oder treten kämpferisch gegen die neoliberalen Tendenzen in der Gesundheitsindustrie auf, wie gegen die Fallpauschalen. Es gäbe da Möglichkeiten für Bündnisse und gemeinsame Kämpfe, die bisher zu wenig genutzt wurden.

counselor

Die MLPD sieht die kleinburgerlichen Zwischenschichten als Bündnispartner an, insoweit sie fortschrittliche Ansichten vertreten.
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

Kuddel

Ansichten können sich verändern. Viele Arbeiter haben reaktionäre Ansichten. Ansichten verändern sich am besten im Kampf.

BGS

Als inzwischen Arbeiter mit Gehalt - man konnte wählen ob Gehalt oder Stundenlohn- sehe ich im Norden gleichfalls eine Vermischung der Arbeitsformen. Falls nötig mache ich manchmal auch Papierkram bzw. Dokumentation.

Es gibt im Polarhafen nur noch ein Minimum an Arbeitern und die wenigen haben grosse Freiheiten, will heissen man kann auch mal während der Arbeitszeit in der nächsten Stadt etwas privates erledigen, Auto zur Werkstatt bringen oder zum Zahnarzt etc. ohne Abzüge.

In etlichen Branchen gibt es (Schein-)Selbstständige [Internet, Lieferdienste, kleine und grosse Dienstleister], Freelancer [Journalismus, Kunst] etc. Im Grunde arbeitet wer Arbeit hat von selbst wie Sau,
da dies seit dem Kindergarten verinnerlicht wurde [auch ich, wenn im Job - damit ich mich nicht langweile]. Hier stecken arbeitende Eltern ihre Brut mit 1 in Kindergärten, was ich persönlich als Katastrophe empfinde.

Arbeitslos Gemachte sollten sich endlich als Klasse sehen und gemeinsam kämpfen, doch ist die Vereinzelung am Polarkreis extrem, auch wenn es Ausnahmen gibt.

MfG

BGS
"Ceterum censeo, Berolinensis esse delendam"

https://forum.chefduzen.de/index.php/topic,21713.1020.html#lastPost
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Kuddel

Zitat von: BGS am 12:34:10 Sa. 19.Februar 2022
Arbeitslos Gemachte sollten sich endlich als Klasse sehen ...

Ich bin in den 80er Jahren am Ende des Bergarbeiterstreiks durch UK getrampt und habe mir die Mining Communities angesehen. Die Bergarbeiter redeten immer von "Working Class" und sich sagte, was sollten denn die Erwerbslosen machen, die gehörten schließlich nicht dazu?

Sie meinten, Quatsch, die sind selbstverständlich Teil der Arbeiterklasse und gehören zusammen. Ich habe meine Vorstellung da mal überdacht. Und ich bin bis heute der Meinung, daß sie Recht hatten.

Kuddel

Wodurch zeichnen sich Klassengesellschaften aus und wer gehört zur Arbeiterinnenklasse? Welche Rollen spielen Migration und Rassismus sowie die Ausbeutung von Frauen in der Klassengesellschaft? Nicole Mayer-Ahuja, Oliver Nachtwey und ihre Kollegen haben in dem Buch ,,Verkannte Leistungsträger:innen – Berichte aus der Klassengesellschaft" Werktätige aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen aufgesucht. So ist ein umfassendes Portrait der arbeitenden Klasse entstanden. Matthias Ubl spricht bei JacobinTalks mit Nicole Meyer Ahuja über Pflegenotstand und Care-Arbeit, die Fleischindustrie und den Klassen-Begriff von Karl Marx.

Podcast mit Nicole Mayer-Ahuja

https://jacobin.podigee.io/5-neue-episode

Kuddel

Heute gibt es viele Menschen, die weder klassische Arbeiter sind, noch zur Herrschenden Klasse gehören. Diese Leute, die teilweise extrem hart arbeiten, sich aber nicht als als Arbeiter sehen, findet man oft bei den Querdenkerdemos. Ich denke, das liegt daran, daß die Linke sich mit diesen Leuten nie beschäftigt hat. (Teilweise setzt sich die Linke selbst aus solchen Leuten zusammen.)

Wir leben nicht im 19. oder frühen 20. Jahrhundert, wo die Menschen großteils auf dem Land arbeiteten oder in Bergwerken und großen Fabriken.

Gerade die Rebellionen und Gegenbewegungen haben dazu geführt, daß der Kapitalismus sich stark gewandelt hat. Hippie- und Alternativbewegung haben scheinbare Auswege aus der Fabrikarbeit ermöglicht. Man lebte von Sozialleistungen und stockte es durch kurze Jobs oder Kleinkriminalität (Gras verticken, Versicherungsbetrug) etwas auf. Das ganze führte wieder zurück in den kapitalistischen Prozeß. Es entwickelte sich eine alternative Gesundheits- und Psychobranche, in der man arbeitete. Kunsthandwerk. Alternative Produkte. Mit der Ich-AG versuchten viele Erwerbslose mit Freiberuflichkeit dem Jobcenter zu entkommen. Man begann hart zu arbeiten in einer Pseudoselbständigkeit und verdiente oftmals nicht mehr als die Stütze, man war schon froh, dem Mobcenter entkommen zu sein. Es gab auch einige, denen ein gewisser Aufstieg gelungen ist, die einen Betrieb mit mehreren Beschäftigten führen.

Diese Menschen fühlten sich oftmals irgendwie links, man sah sie auf Anti-AKW Demos oder bei Protetsten gegen TTIP oder CETA.

Wir müssen uns nun fragen, was die linke Politik ignoriert oder falsch gemacht hat, daß diese Leute heute oft bei den Schwurblern gelandet sind und teilweise Faschos hinterherlaufen.


Kuddel

Zitat von: Strombolli am 00:50:03 Di. 16.August 2022
Deshalb bin ich ja auch der Meinung, dass es zu Unruhen kommt, wenn genau diese Spieß...äh, Kleinbürger ihrer Wohlfühlzone beraubt werden. Ob das Pendel dann zu den Nazis oder den Linken ausschlägt... Ich befürchte, aufgrund der überschaubaren Intelligenz des Volkes, es geht nach rechts. Das wäre fatal.

Wie das Pendel ausschlägt, hat auch damit zu tun, wie sich die Bewußtseinsbildung entwickelt. Sie entwickelt sich im Alltag und in Auseinandersetzungen.

Die Mehrheit der Menschen arbeitet nicht in Großfabriken. Viele arbeiten in Büros, als Leiharbeiter, im Homeoffice, in Start-ups, sie sind Freiberufler oder haben sich selbständig gemacht. Es gibt Vorstellungen, Arbeiter würden aussterben, eine Arbeiterklasse gäbe es schon lange nicht mehr. Scheinbar sind heute fast alle nur noch irgendwie Mittelklasse, auch wenn das heißt, zu arbeiten bis zum Umfallen und am Ende doch arm zu sein. Andere haben ein wenig Wohlstand und Statussymbole.

Diese heterogene Masse, die von arm bis gut situiert reicht, sich aber dadurch auszeichnet, nicht Arbeiter sein zu wollen, nennt man Mittelschicht, bürgerlich oder ähnliches. Sie sind nicht die die Herrschende Klasse. Mit diesen Leuten hat sich die Linke nie sonderlich beschäftigt.

Viele in dieser Masse haben linke Hintergründe, sie waren bei Anti-AKW Demos dabei, bei Protesten gegen den Natodoppelbeschluß, gegen den Irakkrieg, gegen CETA und TTIP oder gegen Genfood und industrielle Landwirtschaft.

Die eher akademische Linke interessierte sich wenig für die merkwürdige "Mittelschicht". Die linksalternativen Teile der Mittelschicht werden nun eher von den Grünen und der Esoszene beeinflußt.

Die "unpolitischen" Teile rücken aus Angst vor ihrem sozialen Absturz immer weiter nach rechts. Es gibt ja den Mythos, die AfD beziehe ihre Wählerstimmen bei den abgehängten Prolls, doch die wählen kaum. Der größte Teil der AfD Wähler kommt aus der Mittelschicht.

Es ist fatal, daß es kaum Verbindungen und Debatten von links mit diesem "Kleinbürger"-Millieu gibt. Die politische Ausrichtung entwickelt sich nicht "von selbst", sondern durch Einflußnahme und durch offene Debatten. In den USA und Kanada haben solche Debatten dazu geführt, daß selbstfahrende LKW Unternehmer sich nicht mehr als "Unternehmer" bezeichnen, sondern als de facto Arbeiter.

In den Querdenkerdemos versammeln sich Teile dieser "Mittelschicht", die aus verschiedenen guten Gründen ihr Mißtrauen und ihre Ängste auf die Straße tragen. In dieser Situation zeigten sich die Rechten sehr flexibel und erfolgreich. Antifa und Linke treiben mit ihrer Verständnislosigkeit diese Menschen weiter in den Arme der Rechten.

Wir müssen uns dringend auch mit diesen Schein- und Kleinselbständigen befassen, sollten ihre Ängste und Nöte kennenlernen. Wir sollten ihre sozialen Verteidigungskämpfe unterstützen, so lange sie dabei nicht nach unten treten.

counselor

Eine immer größere Rolle unter den Lohnabhängigen spielen auch die Akademiker. Sie gehören zur Mittelschicht und wir sollten sie bei unseren Überlegungen nicht vergessen.
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

Kuddel

Jaja, wir müssen uns mit diesen Dingen beschäftigen, denn es ist auch verdammt widersprüchlich.

Die Occupy Bewegung in den USA hat die Klassenfrage zu stark vereinfacht, indem sie sagte, "wir sind die 99%". Das macht einerseits zwar Sinn, andererseits ignoriert es viele Widersprüche.

Es können Menschen arm, unterdrückt und marginalisiert sein, trotzem sind sie gleichzeitg aktive Rädchen in dem System der Ausbeutung.

Ehemalige Geflüchtete entdeckten die Geschäftsidee, als "Schlepper" ihre Brötchen zu verdienen. Leiharbeiter arbeiten sich hoch, werden Disponent und machen anschließend ihre eigene Leihbude auf.

Das mit Akademikern sehe ich eben auch als zwiespältig. In den letzten Jahrzehnten war die linke Bewegung kaum proletarisch, sie war studentisch, akademisch dominiert, noch mit einem sozialarbeiterischen Anteil, etwas eher (Kunst-)Handwerkliches (maximal Tischler), "irgendwas mit Medien" oder IT, Gastro. Das war's dann auch schon.

Einige mögen auch erwerbslos sein, doch sie kämpfen nicht als Erwerbslose, sondern als Linke, das bleiben getrennte Dinge.

Ich finde es gut, wenn eine soziale oder klassenkämpferische Bewegung aus Leuten mit unterschiedlichen Hintergründen besteht. Die Dominanz der akademischen Szene, die alle plattreden kann, halte ich jedoch für ein echtes Problem.

Ich finde die aktuellen Bestrebungen gut, die Prekarisierung der akademischen und universitären Arbeit zu thematisieren, insbesondere dann, wenn man auch technisches- und Servicepestonal (Reinigungskräfte) mit einbezieht. Das sind eher neue Tendenzen, daß dieses Millieu die eigene soziale Situation diskutiert und nicht nur die Führung im revolutionären Kampf beansprucht.

counselor

Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu den Akademikern sind meine Erfahrungen mit Ärzten und einem mittlerweile verstorbenen Physiker. Diese sind durchwegs positiv. Man sollte sehen, dass viele Ärzte sich heute in medizinischen Versorgungungszentren anstellen lassen bzw bevor sie sich selbständig machen, in Kliniken angestellt waren. Auch Ingenieure sind oft angestellt und werden ausgebeutet. Oft sind sie über die Umweltfrage ansprechbar.

Klar können die besser reden, als andere und beanspruchen oft die Führung in Kämpfen. Das heißt aber, dass sie lernen müssen, mit Nicht-Akademikern auf Augenhöhe umzugehen.
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

Kuddel

Hier eine Buchvorstellung.
Etwas praktisches. Persönliche Erfahrungen.

Mit geballter Faust in der Tasche. Über Klasse, Normen und die Linke. Autobiografische Perspektiven


"Mit diesen Texten stießen Aktivist*innen aus Schweden eine erste und scharf geführte Debatte um Klassismus in der Linken an. Dieser Sammelband vereint autobiografische Zugänge linker Aktivist*innen aus Schweden zum Thema Klasse. Neben Ausschlüssen und Barrieren wird die Frage der Deutungshoheit thematisiert."

ZitatICH BEGANN ZU VERSTEHEN, was es bedeutet, Teil der Arbeiter*innenklasse zu sein, als ich versuchte, mich wie meine politisch engagierten Mittelklassefreund*innen zu benehmen. Aber ihr Anspruch, Aussagen über die Arbeiter*innenklasse zu formulieren, unter anderem über die Lebensumstände, verwirrte mich und machte mich unsicher. Häufig dachte und machte ich Dinge falsch. Für meine Freund*innen war es unmöglich zu akzeptieren, dass es Menschen gibt, die es sich nicht leisten können, Bio-Produkte zu kaufen. Kauft man nicht bio, dann ist man unwissend und schlecht, Punkt. Aus. Und sich zu organisieren ist eine Selbstverständlichkeit. Ich war ebenso verzückt von meinen Freund*innen, wie ich sie verachtete. Aber vor allem hasste ich, wie ich selbst in ihrer Gegenwart war, eine ungebildete, blutdürstige Idiotin. Trotzdem waren wir in allem Wesentlichen so gleich, dass ich beinahe hineingepasst hätte. Es stand im Zusammenhang mit ihrem verdrehten Bild der Klassengesellschaft; ein Bild, das ich so intensiv versuchte anzunehmen, dass ich Muster zu erkennen begann...
Lilith Daverud

https://www.edition-assemblage.de/buecher/mit-geballter-faust-in-der-tasche/


https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2023/02/GeballteFaust.pdf

https://www.labournet.de/?p=209271

BGS

Besten Dank für den interessanten Hinweis. Ist möglicherweise der schwedische Titel bekannt?

MfG

BGS
"Ceterum censeo, Berolinensis esse delendam"

https://forum.chefduzen.de/index.php/topic,21713.1020.html#lastPost
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dagobert

"Sie haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden."
Thomas Mann, 1936

BGS

"Ceterum censeo, Berolinensis esse delendam"

https://forum.chefduzen.de/index.php/topic,21713.1020.html#lastPost
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Bowie

ZitatEn knuten näve i fickan

Für mich klingt das nach Schweinkram.

BGS

ZitatEn knuten näve i fickan
[/quote]

= Eine geballte Faust in der Tasche

MfG

BGS
"Ceterum censeo, Berolinensis esse delendam"

https://forum.chefduzen.de/index.php/topic,21713.1020.html#lastPost
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counselor

Nicht zur Klasse gehören zB Handwerker, weil diese in der Regel kleine Selbstständige sind, die eigene Leistungen verkaufen, die sie mit eigenen Produktionsmitteln herstellen (Kleinbürger bzw Kleinbourgois).
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

Onkel Tom

Zitat von: Bowie am 11:02:50 Do. 02.März 2023
ZitatEn knuten näve i fickan

Für mich klingt das nach Schweinkram.

Zitat von: BGS am 19:17:18 Do. 02.März 2023= Eine geballte Faust in der Tasche


also kein Taschenbilliard..

@counselor

Zitat von: counselor am 02:01:26 Sa. 04.März 2023Nicht zur Klasse gehören zB Handwerker, weil diese in der Regel kleine Selbstständige sind, die eigene Leistungen verkaufen, die sie mit eigenen Produktionsmitteln herstellen (Kleinbürger bzw Kleinbourgois).

Wat verklickkerst Du da, das die Hanwerker nicht zur Klasse gehören ?
Das sehe ich aber ganz anders.
Lass Dich nicht verhartzen !

Kuddel

Zitat(...) Gleichwohl sprechen wir in der Regel nur von sozialer Ungleichheit oder Spaltung, den 1 Prozent und den 99 Prozent, und eher selten von Klassen und Klassengesellschaft. Dass der Elefant im Raum so selten benannt wird, hat viele Gründe, aber vor allem auch ideologische: Nennt man die Klassengesellschaft eine solche, dann wird unmittelbar klar, dass die moderne Gesellschaft nicht so fortschrittlich ist, wie sie sich gerne sieht, dass soziale Aufwärtsmobilität immer noch auf Grenzen stößt und Abstiege wieder zugenommen haben.

Die Existenz einer Klassengesellschaft galt in Deutschland seit Mitte des 20. Jahrhunderts als Phantasma linker Soziologen, die an ihren überkommenen Vorstellungen gesellschaftlicher Ungleichheit festhalten wollten. (...)

Es gab aus der Sicht von Schelsky und Beck zwar noch Ungleichheiten, aber für diese betrachteten sie den Klassenbegriff als nicht mehr zeitgemäß, schließlich seien auch die proletarischen Lebensstile verschwunden. Soziale Klassen sind allerdings nicht allein eine Frage von Lebensführung und sozialer Lage, und sie verschwinden ganz sicher nicht, indem man einfach den Begriff verabschiedet. Die Klassengesellschaft hat nur ihre Form geändert, nicht ihre grundsätzliche, kapitalistische Struktur. Klassen gibt es, solange das Eigentum an den Produktionsmitteln in der Hand weniger konzentriert bleibt und solange es Herrschaft in und durch Arbeit gibt.(...)
https://jacobin.de/artikel/erik-olin-wright-marxismus-soziologie-klassenanalyse

Das sehe ich genauso.

Doch mit der Definition einer "Mittelklasse", ihrer Einordnung und Bewertung tue ich mich schwer.

ZitatViele orthodoxe Marxisten betrachteten den Aufstieg der Mittelklassen schlicht als Illusion. (...)

Andere wollten in den neuen Gruppen der Mittelschicht eine neue eigene Klasse sehen – wahlweise als neue Mittel- oder Dienstleistungsklasse oder als Klasse der Manager bezeichnet.

Wright wurde schließlich dadurch bekannt, dass er eine adäquatere und realistischere Perspektive entwickelte. Er analysierte Manager, Vorgesetzte, kleine Arbeitgeber und Angestellte mit einem hohen Grad an Autonomie nun als widersprüchliche Klassenlagen, die in sich sowohl Merkmale der benachbarten übergeordneten als auch der untergeordneten Klassen aufwiesen. Führende Angestellte würden beispielsweise als Lohnempfängerinnen Merkmale der Arbeiterklasse aufweisen, aber in ihrer Leitungsposition ebenso Herrschaft im Produktionsprozess ausüben.

Für Wright waren die Mittelklassen mit ihren widersprüchlichen Klassenlagen keine eigene historische Kraft, sondern immer Teil von sich jeweils zusammensetzenden Klassenallianzen. Zwar tendieren sie im Regelfall zu einem Bündnis mit den Kapitalisten, da sie dann von der Ausbeutung profitieren können, aber es besteht auch immer die Möglichkeit zu einer Allianz mit der Arbeiterklasse, da die Mittelklasse selbst schließlich entweder lohn- oder marktabhängig ist. Besonders in Phasen, wo die Mittelklasse Erfahrungen der Dequalifizierung, des Abstiegs oder der Entwertung macht, ist sie offen für andere Bündnisse. Diese Bündnisse müssen aber nicht zwangsläufig mit Bewegungen der sozialen Gerechtigkeit stattfinden, sondern können auch in Wohlstandschauvinismus münden.(...)
https://jacobin.de/artikel/erik-olin-wright-marxismus-soziologie-klassenanalyse

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