Herdendenken?

Begonnen von Kuddel, 08:57:53 So. 17.April 2022

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Kuddel

Die momentane Situation (Ukrainekrieg) macht mir schwer zu schaffen.
Ich meine nicht die Schrecken des Krieges selbst (die mir nicht am Arsch vorbei gehen), sondern das gesellschaftliche Klima.

Es gibt immerwieder Zeiten, in denen sich die Stimmung in der Gesellschaft schnell und radikal ändert. Plötzlich hängen Leute ihr Weltbild an den Nagel und vertreten eine weitgehend andere Meinung. Warum? Weil alle das machen? Warum machen alle das? Kann man nur kollektiv eine Meinung haben? Warum gibt es so wenig Freigeister? Warum ist es so schwer, eine eigene Meinung zu vertreten, auch wenn sie nicht der Mehrheitsmeinung entspricht?

Ich verstehe dieses Herdenverhalten im Denken nicht.

Ich habe die erdrutschartigen kollektiven Stimmungs- und Meinungänderungen mehrfach erlebt.

  • Beim "Deutschen Herbst (RAF, Stammheim; Mogadischu)
  • Beim Jugoslawienkrieg
  • 9/11
  • Corona
  • Ukrainekrieg

Es geht mir nah, wenn nicht nur viele eine schlimme Meinung annehmen, sondern wenn es auch Menschen im eigenen Umfeld sind, die plötzlich "umfallen" und ihr kritisches Denken verlieren.

Tiefrot

Da stellst du eine verdammt gute Frage...

Die meisten Leute knabbern dabei an 2 Punkten.
Punkt 1 kommt aus dem eigenen Inneren. Darauf hört meistens keiner,
in einigen Fällen will Mensch auch gar nicht wissen, wie es innen aussieht.
Und das auch gern zu Recht.  >:(

Punkt 2, der Mensch ist ein Herdentier, immer schön konform bleiben.
Nur nicht anecken. Sowas färbt oft auf die eigenen Ansichten ab.
Dazu stellt sich die Frage, ob sich eine Ansicht als falsch erwiesen hat.
In solchen Fällen hilft umorientieren, nicht zwingend in die für die Person gute Richtung.

Nur mal als spontaner, unsortierter Gedankengang.....
Denke dran: Arbeiten gehen ist ein Deal !
Seht in den Lohnspiegel, und geht nicht drunter !

Wie bekommt man Milllionen von Deutschen zum Protest auf die Straße ?
Verbietet die BILD und schaltet die asozialen Medien ab !

BGS

Es scheint ein immensen Bedarf an schnellen, einfachen Erklärungen auf allen Ebenen zu geben. Doch wie kann z. B. eine komplette Nation oder Kultur als ,,feindlich" oder ,,völkermörderisch" bezeichnet werden? Ist dies etwa die  ,,europäische Zivilisation", von der so oft in Europa die Rede ist.

MfG

BGS
"Ceterum censeo, Berolinensis esse delendam"

https://forum.chefduzen.de/index.php/topic,21713.1020.html#lastPost
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Tiefrot

ZitatEs scheint ein immensen Bedarf an schnellen, einfachen Erklärungen auf allen Ebenen zu geben.
Das kommt noch erschwerend hinzu. Ich bin schon öfter zu dem Eindruck gekommen,
das viele Leute hoffnungslos überfordert sind, wenns mal unter die Oberfläche geht.

ZitatIst dies etwa die  ,,europäische Zivilisation", von der so oft in Europa die Rede ist ?
Ich wills nicht hoffen.
Denke dran: Arbeiten gehen ist ein Deal !
Seht in den Lohnspiegel, und geht nicht drunter !

Wie bekommt man Milllionen von Deutschen zum Protest auf die Straße ?
Verbietet die BILD und schaltet die asozialen Medien ab !

Kuddel

Irgendwie paßt es auch hierhier. Vor gut einem Jahrzehnt gab es hier im Forum einen Leiharbeiter, der sich ziemlich wohl zu fühlen schien. Er war jeden Tag online und postete viel. Er war bisweilen recht witzig, nicht dumm und er begeisterte sich auch für ungewöhnliche Formen der Gegenwehr.

Aber er schien irgendwie Halt zu brauchen (denke ich heute). Er reagierte superaggressiv, wenn jemand es wagte, den DGB zu kritisieren. Er wurde sogar ungehalten, wenn jemand Günther Wallraff von seinem Sockel zu schubsen wollte.

Ja, chefduzen fand er irgenwie cool und unterhaltsam. Aber in der Welt der Ausbeutung nahm er die Forencommunity nicht ernst als funktionierenden Schutz. Naja, das ist ihm vielleicht nicht zu verdenken. Daß er aber glaubte, der mächtige DGB mit seinen 2 Millionen Mitgliedern würde ihn schützen, war schon ein Trugschluß. Der DGB bräuchte ja einfach nur "nichts" zu machen und wir hätten schon längst "Equal Pay" in der Leiharbeit, wenn der DGB das nicht mit seinen Tarifverträgen wieder und wieder verhindern würde.

Ich sehe es immer wieder, Menschen suchen/brauchen Organisationen oder Menschen, die ihnen mächtig vorkommen. Dort suchen sie Schutz, auch wenn sie nach Strich und Faden in die Pfanne gehauen werden.

Es sind oft vom Leben gebeutelte und geschundene Menschen, die finden sich angezogen von Trump, Putin, Wagenknecht. Je schwächer und nichtiger sie sich selbst fühlen, desto attraktiver sind charismatische Persönlichkeiten.

Kuddel

Ich überlege hin und her und komme inzwischen zu dem Schluß, daß eine eigene Meinung eher ein Minderheitending ist. Ich denke, es ist enorm wichtig, auch ein "weder - noch" als Möglichkeit zu sehen, aber die Menschen haben scheinbar einen Hang zur Vereinfachung.

Man will es einfach, 2 Seiten und man entscheidet sich dann für eine.

Fuck! Ich finde meist beide Seiten scheiße.

BGS

"Ceterum censeo, Berolinensis esse delendam"

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counselor

Ich gehe von einer durch den Einfluss der Medien vermassten Denkweise aus.
Persönlich höre ich viel Radio. Fernsehen schaue ich schon lange nicht mehr. Hinweise auf wichtige Themen bekomme ich über die Nachrichten im Radio, über rf-news, dieses Forum, wsws und YouTube.
Alles ist in Bewegung. Nichts war schon immer da und nichts wird immer so bleiben!

Kuddel

Sicher, die Medien habe Einfluß auf das Denken der Menschen. Doch die Menschen sind mir zumeist zu wenig mutig im Denken. Sie selbst verstecken sich lieber in einer Gruppe, gern der Mehrheit und sie haben es gern einfach. Entweder - oder. Mehr gibt's nicht. Zweifel an allem ist jedoch sinnvoll.

Ich erinnere meine Kindheit in den 60er Jahren. Bei Familienfeiern kam es meist zu politischen Diskussionen, wenn der Alkoholpegel hoch genug war. Es gab im Grunde zwei Positionen entweder man war pro-SPD oder man war für die CDU. Die übelsten Spießer, Langweiler und Reaktionäre positonierten sich um die CDU, die anderen um die SPD. Gerne nahm man auch Themen auf, die von der BILD vorgegeben wurden. Da man mich wohl schon als Kind nicht so für die SPD begeistern konnte, fragte man mich, was ich denn werden wolle, wenn ich mal groß bin. "Bestimmt ein Gammler!" mutmaßte die Verwandschaft.

In den 70ern war ich Teenager. Die Existenz der RAF polarisierte zusehens die Gesellschaft. Nach dem Deutschen Herbst 1977 wurde es besonders schlimm. Man mußte "mit beiden Beinen auf der freiheitlich demokratischen deutschen Grundordnung stehen", jeden Schritt zu einem autoritären Staat gut finden, möglichst auch "Rübe ab!" für "Terroristen" fordern, ansonsten galt man als "Sympathisant". Ein Sympathisant galt als nahezu so schlimm wie ein Terrorist. Man erklärte jede kritische Stimme zu einer Gefahr, zu dem schlimmen Sympathisantensumpf. Schriftsteller, Pastoren, Publizisten, Juristen, jeder, der wollte, daß man den Forderungen der radikalen Oppositionellen einfach mal zuhört und einen rechtsstaatlichen Umgang mit den politischen Gefangenen sicherstellt, alle kamen in den Sympathisantentopf. Es waren nicht nur die Vertreter von Politik und Medien, die das so sahen, ich wurde selbst von einigen meiner Mitschüler aus Sympathisant bezeichnet. Es gab da nur 2 Seiten. Knallhart.

In den 80ern machte ich meine Berufsausbildung. Es ging da langsam los mit dem Privatfernsehen. Die politischen Diskussionen der Kollegen waren meist nicht Ergebnis eigener Gedanken, man postionierte sich nach Talkshows hinter irgendwelchen Teilnehmern der Talkrunden.

Diese nine-eleven Geschichte war nochmal ein Einschnitt wie bei der bleiernen Zeit 1977. Da wurde auch mit politischer Vielfalt aufgeräumt. Bürgerrechte und Menschenrechte waren hinderliches Beiwerk im Kampf gegen den Terrorismus. Sie wurden weltweit abgebaut. Zu der Zeit gab es im Grunde keine 2 Meinungen mehr, sondern nur noch eine. Wer Zweifel an den Erklärungen über die Hintergründe der 9/11 Anschläge und die Aufteilung der Welt in gut und böse hatte, wurde als Verschwörungstheoretiker denunziert.

Bei dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurde es nochmal heftig. Es formierten sich 2 Seiten, die einander inbrünstig haßten.

Und mit dem Ukrainekrieg haben wir wieder so eine Scheißsituation. Scheinbar gibt es nur noch 2 Seiten und man hat sich zu entscheiden. Wenn man die Natostrategien für gefährlich hält, gilt man als Putinversteher. Es sind quasi keine Diskussionen mehr möglich zwischen Leuten, die sich positioniert haben. Bei diesem Scheißkrieg halte ich es für unmöglich, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden. Die Logik des Krieges vergiftet unser Denken. Wenn die Waffen ruhen (das halte ich erstmal für das wichtigste Ziel) herrscht noch lange keine Gerechtigkeit. Die kann man erst erkämpfen, wenn das Blutvergießen beendet ist.

Wir müssen uns auch nochmal um die Coronapandemie kümmern und aufarbeiten, was da abgelaufen ist. Dieses entweder/oder funktionerte nicht. Sowohl die ZeroCovid Szene, alsauch die Schwurbler, hatten einzelne Punkte, die Substanz hatten, in anderen lagen sie völlig daneben. Wir dürfen das alles nicht vergessen. Sonst sind wir im nächsten gesellschaftlichen Konflikt genauso dumm und hilflos.

Kuddel

Ich komme immer wieder zu dem Schluß, daß es für viele Leute nicht möglich ist, jeden Gedanken mal zu durchdenken, egal wie abstrus oder dem eigenen Leben entgegengesetzt er sein mag.

Ich mag Gedankenspiele mit offenem Ausgang. Das ist wohl nicht bei jedem so. Viele verunsichert so etwas. Da orientiert man sich an der Mehrheit oder an besonderen Personen, die man für besonders schlau hält oder aus anderen Gründen bewundert. Aber es kann auch eine Bewegung sein, an der man sich orientiert.

Zitat von: counselor am 12:57:25 So. 06.August 2023Niemand zwingt einen, den Neoliberalismus bzw den Kapitalismus einfach hinzunehmen bzw rechten Müll zu akzeptieren.

Je verunsichter Menschen sind, desto mehr fühlen sie sich angezogen von Ideologien oder Weltbildern, die einfach, aber auch mächtig erscheinen. Viele landen bei Religion orthodoxer Prägung, bei charismatischen Führern oder beim Faschismus.

Das sind nicht nur irgendwelche blöden, gestörten Leute, sondern es können ebenso welche sein, mit denen wir jeden Tag zu tun haben, und die wir als aufrechte Linke kennen.

Ich habe es erlebt beim Mauerfall, der Implosion der Sowjetunion, bei Corona und beim Ukrainekrieg. Das sind Freunde und Genossen zur Gegenseite übergelaufen und haben den politisch unmöglichsten Scheiß vertreten. Mit dem Freien Willen ist es scheinbar so eine Sache.

Der Sog starker Bewegungen reißt Leute mit, denen man es nicht zugetraut hat. Ich mag mir garnicht ausmalen, wer noch in den Sog der AfD gerät...


Kuddel

Ich denke viel darüber nach, wie es möglich ist, daß Leute ihre politischen Ansichten an den Nagel hängen und plötzlich ein entgegengesetztes Weltbild vertreten.

Wenn es eine Frage von Erkenntnissen und Erfahrungen wäre, könnte ich es verstehen. Es ist schließlich eine gute Sache, wenn man dazulernt und dadurch seinen Lebensweg ändert. Nur so ist ein Weg in eine bessere Gesellschft möglich.

Aber oft ist dieses Umschwenken in ein neues Weltbild nicht logisch und nicht hilfreich.

Deutschland hatte mal die stärkste Arbeiterbewegung der Welt. Doch der Faschismus setzte sich durch und Leute, die zuvor eine linke Einstellung hatten, riefen plötzlich "Sieg Heil!".

Es gibt scheinbar ein enormes Bedürfnis, zu einer Gruppe zu gehören, einer möglichst starken. Dann übernimmt man auch die Ideologie dieser Gruppe.

Wenn ich an meine Kindheit denke, wurde auf Familienfeiern nach einigem Alkoholkonsum stets über Politik gequascht. Es war keine echte Diskussionen, man hat in erster Linie seine Gruppenzugehörigkeit klargestellt und verteidigt. Es war im Grunde ganz einfach, der autoritäre und spießige Teil der Sippe vertrat die Ansichten der CDU, die lebendigeren und witzigeren waren auf SPD Kurs. Da gab es im Grunde keine Alternative und es gab nie einen Wechsel der politschen Lager.

Ich erinnere noch einen, der sich durchaus eigene Gedanken gemacht hat, die kein reines Nachplappern waren. Er fügte diesen Gedanken aber stets hinzu, "vielleicht hast du es auch irgendwo gelesen". Er hielt wohl eigene Gedanken für wenig überzeugend und meinte, sie hätten erst Gewicht, wenn sie bereits in gedruckter Form erschienen sind.

Daß Leute aber scharenweise das politische Lager wechselten, habe ich zweimal erlebt. Einmal war es beim Zusammenbruch der Sowjetunion/Fall der Mauer, dann bei Corona und den Querdenkern.

Da sind wirklich viele umgekippt, haben nicht gesagt, "ich verstehe die Welt nicht mehr", "ich komme nicht mehr mit der Welt klar" oder "ich ziehe mich von meinem politischen Engagement zurück", nein, sie fingen plötzlich an, das Gegenteil von dem zu vertreten, was vorher ihr Weltbild war. Es waren teilweise Leute aus einem linksalternativen Millieu, aber auch "gestandene Linke", Menschen, die sich seit Jahren oder Jahrzehnten im linken Lager zuhause fühlten.


Kuddel

Immer wieder frage ich mich, warum so wenig Menschen mobilisierbar sind, wenn es um ihre eigenen Interessen geht.

Erwerbslose sind nahezu null mobilisierbar, wenn es um Proteste gegen Jobcenter und Bürgergeld geht.

Heutzutage ist Einsamkeit ein Grundproblem und als Einzelner fühlt man sich schwach und angreifbar. Gerade Erwerbslose sind mit den Nerven am Ende, weil nicht nur ihre reale Situation deprimierend ist, sondern weil sie für gesellschaftliches Mobbing ("Sozialschmarotzer", "liegen den Arbeitenden auf der Tasche") freigegeben sind. Deshalb wollen sie als Erwerbslose unsichtbar bleiben.

Ich fand die Kampagne #IchBinArmutsbetroffen super, denn damit sind Leute bewußt aus der Unsichtbarkeit herausgetreten. Leider blieb die Beteiligung eher übersichtlich.

Ich frage mich, wieso rechte Aufmärsche eine vergleichbar große Beteiligung haben.

Den Rechten ist es gelungen, eine gewisse Macht auszustrahlen. Scheinbar fürchten alle diese Macht, die Medien, die Eliten und die Linken. Und die Rechten stehen für eine Wut, die die Ausgegrenzten und Abgehängten fühlen.

Es scheint wichtiger zu sein, eine kraftvolle Gemeinschaft zu verkörpern, als das, wofür sie steht. Politische Inhalte werden ignoriert.

Dieses Bedürfnis nach einer Gemeinschaft (die ich im Anfangsposting abfällig als "Herde" bezeichnet habe) sollte man ernst nehmen. Es ist ein großes Problem, wenn die linke Szene eine geschlossene Gesellschaft mit Dress- und Sprachcodes ist, die in keinster Weise attraktiv ist für Menschen, die mit diesem subkulturellen Kram nichts am Hut haben, die wenig gebildet sind und mit dem linken Umgang mit Sprache nicht klarkommen. Wenn man nicht soziale Aktivitäten entwickelt, in denen sich Unpolitische wohl fühlen, wird die Linke Bewegung eine bedeutungslose Randerscheinung bleiben.

Wir sollten das Verdrängen politischer Inhalte aber nicht akzeptieren. Wir müssen immer wieder klarmachen, wessen Interessen die Rechten vertreten. Sie werden von Reichen, bzw. der Wirtschaft gesponsort. Unter ihrer Herrschaft würden es weiter bergab gehen mit der Sozialen Absicherung, mit den Arbeitsbedingungen und mit der Umwelt.

Linke Aktivitäten sollten ohne Gelaber für sich sprechen, Kämpfe für bessere Arbeitsbedingungen, bessere soziale Absicherung, niedrigere Mieten!

counselor

Ich finde, die gesellschaftliche Entwicklung ist widersprüchlich. Einerseits kämpfen die Lohnabhängigen in gewerkschaftlichen Zusammenhängen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, andererseits wählen sie AfD und marschieren mit Rechten auf Demonstrationen.

Einige Politikwissenschaftler sind der Auffassung, dass wir in Antonio Gramscis "Interregnum" leben, also in einer Epoche, in der das Alte abstirbt, und das Neue nicht geboren werden kann und dass das Verhalten der Menschen in einer solchen Zeit eben auch irrational sein kann.

Wir werden sehen, wie es weitergeht.

Ich lese zur Zeit ein interessantes marxistisches Lehrbuch aus Vietnam über die philosophische Methodologie des Marxismus. In dem Buch wird auch dargestellt, dass Revolutionäre Rücksicht auf kulturelle und politische Besonderheiten im jeweiligen Land nehmen müssen, um die Menschen zu mobilisieren.  Besonders arm und unterdrückt zu sein führt zwar zu Hass auf das Bestehende, macht die Menschen aber halt nicht automatisch zu Revolutionären.

Als Revolutionär sollte man den Unterdrückten mit Hingabe und durch Kampf dienen.

Vielleicht kann man ja was aus Vietnam lernen.
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Kuddel

Der Mensch ist ein Herdentier.
Positiv ausgedrückt: ein Soziales Wesen.

Es ist nur schwer möglich, allein zu überleben. Das ist organisatorisch so (man braucht Lebensmittel und eine Gesundheitsversorgung), aber auch psychisch. Andere Menschen mögen nerven, aber Einsamkeit ist schwer zu ertragen.

Je schwächer und verängstigter der Einzelne sich fühlen mag, desto größer ist das Bedürfnis, sich einer möglichst starken Gruppe anzuschließen. Da scheint es nicht so wichtig zu sein, wofür eine Gruppe inhaltlich steht.

Die Pandemie hat uns richtig zurückgeworfen. Ein Teil der Linken hat gerufen "Stay the fuck at home!", aber viele haben das Alleinsein in der eigenen Bude nicht ausgehalten. Weder der Staat, noch die Linken haben Verständnis für das Unwohlsein und die Ängste dieser Menschen gezeigt. Die Querdenker haben davon profitiert und so viele Menschen auf die Straße gebracht, wie Linke seit dem Irakkrieg nicht mehr.

Eine weitere Schockwelle der Verunsicherung war der Ukrainekrieg. Die Linke zeigte sich in der Frage zerstritten. Ehemalige Pazifisten und selbst Anarchisten befürworteten Nato-Waffen für die Ukraine. Die konsequenteste Gegnerschaft zur Nato-Politik kam von Wagenknecht/BSW und der AfD.

Die Linke war auf dem absteigenden Ast und wenig attraktiv. Die linke Szene weiß nichts mit den Menschen anzufangen, die unpolitisch, verängstigt und verwirrt sind. Moralische Vorwürfe und Debatten, bei denen man die Verirrten und Verwirrten einfach gegen die Wand redet, sind wenig hilfreich.

Eine Klassenpolitik würde heißen, daß man diesen Menschen Schutz und Eingebundenheit in einer Gruppe gibt, auch wenn sie nicht links sind. Es geht darum, den Menschen, die gesellschaftlich "unten" stehen, erst einmal das Angebot von "Gemeinschaft" zu bieten. Wenn es dann noch gelingt, diese Gemeinschaft zu einer Gegenwehr gegen "die da Oben" zu bewegen, hätte man die Basis für eine echte linke Politik, statt der geschlossenen Blase linker Debattierzirkel.

Bisher finden die Menschen, die in diesen chaotischen Zeiten Halt suchen, nur 2 starke Gruppen:
  • Den Staat mit der Parlamentarischen Demokratie, seiner Verfassung, seinen Gerichten, Bullen und Knästen.
  • Die Faschos, die als einzige ihre Radikalopposition zur Schau stellen und damit die ganze Republik in Aufruhr und Schrecken versetzen.

Letzteres scheint für etwa jeden 3. attraktiv zu sein, besonders für junge Leute, die glauben, sich bei den Rechten an einer Rebellion beteiligen zu können.

Es fühlt sich für viele so an, als würden die Rechten gegen "die da oben" kampfen. Ihnen ist nicht klar, daß es sich nur um die radikalere und brutalere Spielart des Kapitalismus handelt und ebenso den Interessen der Reichen dient.

counselor

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat die Coronamaßnahmen mitgetragen und hatte kein Verständnis für die Querdenker. Die Querdenker waren eine laut auftretende, aber isolierte Minderheit.

Ich kann mich auch erinnern, dass linke Gruppen durchaus Kritiken an einigen Maßnahmen (wie zB an den Ausgangssperren) hatten.
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Wanderratte

Ich finde den Gedanken sehr interessant, dass man die Erkenntnis, dass der Mensch ein Herdentier ist, nutzen kann, um Menschen für linke Politik zu begeistern. Aber auch, um möglicherweise zu verstehen, warum so manches bei den Rechten funktioniert und bei den Linken nicht. Warum die Rechten plötzlich solch einen großen Erfolg haben! Denn AfD usw. scheinen meiner Meinung nach vermehrt auf das Bedürfnis des Menschen nach Gemeinschaft einzugehen. Daraus folgt, dass linke Politik dem Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit gerecht werden sollte.

Zitat von: Kuddel am 04:45:06 Mi. 02.Oktober 2024Der Mensch ist ein Herdentier.
Positiv ausgedrückt: ein Soziales Wesen.

Es ist nur schwer möglich, allein zu überleben. Das ist organisatorisch so (man braucht Lebensmittel und eine Gesundheitsversorgung), aber auch psychisch. Andere Menschen mögen nerven, aber Einsamkeit ist schwer zu ertragen.
Organisatorisch längere Zeit allein zu überleben, kann sowieso nicht funktionieren. Auch wenn man das wollte! Dass es psychisch möglich ist, allein zu sein, dachte ich mehrere Jahre lang, bis ich dadurch einige Probleme bekommen habe. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Totaler Rückzug war schon irgendwie verlockend. Funktioniert aber auf Dauer auch nicht!

Kontakt zu Menschen, die nerven, möchte ich nicht unbedingt haben. Andererseits: Vielleicht bin ich ja selbst nervig. Vielleicht sollte man Menschen, die nerven, nicht generell ablehnen, sondern sich stattdessen mit ihnen auseinandersetzen. Macht schon irgendwie Sinn, auch wenn es anstrengend sein kann.

Zitat von: Kuddel am 04:45:06 Mi. 02.Oktober 2024Je schwächer und verängstigter der Einzelne sich fühlen mag, desto größer ist das Bedürfnis, sich einer möglichst starken Gruppe anzuschließen. Da scheint es nicht so wichtig zu sein, wofür eine Gruppe inhaltlich steht.
Das klingt plausibel. Andererseits waren alle starken Gruppen irgendwann schwach und mussten sich erst zu einer starken Gruppe entwickeln. In den 70er und 80er Jahren waren die linken Gruppen viel stärker und attraktiver als jetzt. Die Rechten hingegen haben es mittlerweile als schwache Gruppe geschafft, immer stärker zu werden. Deswegen bin ich mir nicht so sicher, ob es tatsächlich auch am Vorhandensein einer starken Gruppe liegt, dass die Rechten momentan solch einen großen Zulauf haben.

Zitat von: Kuddel am 04:45:06 Mi. 02.Oktober 2024Die Pandemie hat uns richtig zurückgeworfen. Ein Teil der Linken hat gerufen "Stay the fuck at home!", aber viele haben das Alleinsein in der eigenen Bude nicht ausgehalten. Weder der Staat, noch die Linken haben Verständnis für das Unwohlsein und die Ängste dieser Menschen gezeigt. Die Querdenker haben davon profitiert und so viele Menschen auf die Straße gebracht, wie Linke seit dem Irakkrieg nicht mehr.
So sieht es aus. Diese Situation war ein riesengroßes Problem. Wer regierungskritisch ist, hat halt nur zwei Möglichkeiten: Links oder rechts. Und die Linken haben sich mehrheitlich nicht gekümmert oder waren noch schlimmer als die Regierung.

Zitat von: Kuddel am 04:45:06 Mi. 02.Oktober 2024Eine weitere Schockwelle der Verunsicherung war der Ukrainekrieg. Die Linke zeigte sich in der Frage zerstritten. Ehemalige Pazifisten und selbst Anarchisten befürworteten Nato-Waffen für die Ukraine. Die konsequenteste Gegnerschaft zur Nato-Politik kam von Wagenknecht/BSW und der AfD.
Das alles macht mich fassungslos. Es ist schon irgendwie krass, dass die Rechten diejenigen sind, die sich geschlossen für den Frieden einsetzen.

Ich habe den Eindruck, dass in diesem Land mittlerweile sehr vieles verdreht ist. Ich kann nicht nachvollziehen, warum selbst Menschen, die sich für politisch links halten, Waffenlieferungen befürworten. Solch ein Verhalten schädigt meiner Meinung nach allen linken Gruppen sehr.

Zitat von: Kuddel am 04:45:06 Mi. 02.Oktober 2024Die Linke war auf dem absteigenden Ast und wenig attraktiv. Die linke Szene weiß nichts mit den Menschen anzufangen, die unpolitisch, verängstigt und verwirrt sind. Moralische Vorwürfe und Debatten, bei denen man die Verirrten und Verwirrten einfach gegen die Wand redet, sind wenig hilfreich.

Eine Klassenpolitik würde heißen, daß man diesen Menschen Schutz und Eingebundenheit in einer Gruppe gibt, auch wenn sie nicht links sind. Es geht darum, den Menschen, die gesellschaftlich "unten" stehen, erst einmal das Angebot von "Gemeinschaft" zu bieten. Wenn es dann noch gelingt, diese Gemeinschaft zu einer Gegenwehr gegen "die da Oben" zu bewegen, hätte man die Basis für eine echte linke Politik, statt der geschlossenen Blase linker Debattierzirkel.
Ich denke, das ist ein sehr bedeutsamer Punkt, auf den es letztendlich ankommt. Ein Ansatz, der meiner Meinung nach auf jeden Fall funktioniert.

Es ist ein großes Problem, wenn man mit diesen Menschen nicht angemessen umgeht. Auf diese Weise lassen sich keine neuen Mitstreiter gewinnen. Abgesehen davon, dass dabei auch das Menschliche auf der Strecke bleibt!

Zitat von: Kuddel am 04:45:06 Mi. 02.Oktober 2024Bisher finden die Menschen, die in diesen chaotischen Zeiten Halt suchen, nur 2 starke Gruppen:
  • Den Staat mit der Parlamentarischen Demokratie, seiner Verfassung, seinen Gerichten, Bullen und Knästen.
  • Die Faschos, die als einzige ihre Radikalopposition zur Schau stellen und damit die ganze Republik in Aufruhr und Schrecken versetzen.

Letzteres scheint für etwa jeden 3. attraktiv zu sein, besonders für junge Leute, die glauben, sich bei den Rechten an einer Rebellion beteiligen zu können.

Es fühlt sich für viele so an, als würden die Rechten gegen "die da oben" kampfen. Ihnen ist nicht klar, daß es sich nur um die radikalere und brutalere Spielart des Kapitalismus handelt und ebenso den Interessen der Reichen dient.
Wenn die jungen Leute glauben, dass sie sich an einer Rebellion beteiligen können, dann sind sie meiner Meinung nach bei den Rechten komplett falsch. Ich denke nämlich eher, dass es den meisten rechten Gruppen und Parteien nicht um echte Rebellion geht. Gerade weil der Kapitalismus nicht abgelehnt wird! AfD usw. haben nämlich keine echten Lösungen für die bestehenden gesellschaftlichen Probleme zu bieten. Das kann nämlich so nicht funktionieren, was die Rechten aber leider nicht kapieren. Stattdessen geben sie lieber vor, einfache Antworten auf komplexe Fragestellungen und Probleme zu kennen.

Rechts zu sein bedeutet, konservativ zu sein. Konservativ zu sein, bedeutet u.a., sich frühere Zeiten zurückzuwünschen, wo die Welt im Vergleich zur jetzigen angeblich noch in Ordnung war. Die Linken dagegen wollen Veränderungen, Reformen, die vielen Menschen möglicherweise Angst machen. Veränderungen, die vielen Menschen vielleicht zu extrem erscheinen. Man muss den Menschen ausführlich erklären, worum es letztendlich geht. Auch diesbezüglich kann die Gemeinschaft einer linken Gruppe sehr hilfreich sein.

Den Kapitalismus abzuschaffen und somit die wahren Ursachen der gesellschaftlichen Missstände dauerhaft loszuwerden, ist sehr schwierig. Niemand weiß so recht, wie das auf die Schnelle funktionieren könnte. Stattdessen benötigt man sehr viel Ausdauer und Geduld. Die Rechten haben es da einfacher. Ihre Antworten auf gesellschaftliche Probleme scheinen immer sehr einfach umsetzbar zu sein. Es geht immer gegen die Armen und sowieso schon Unterdrückten, was den Kapitalismus noch weiter stabilisiert. Doch dies scheint vielen Menschen schlichtweg gleichgültig zu sein.

Abschließend noch eine kurze Anmerkung zur ,,Querdenker"-Bewegung:

Zitat von: counselor am 10:30:19 Mi. 02.Oktober 2024Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat die Coronamaßnahmen mitgetragen und hatte kein Verständnis für die Querdenker. Die Querdenker waren eine laut auftretende, aber isolierte Minderheit.
Ich denke, regierungs- und mediengläubig waren die meisten Menschen schon immer. Sieht man ja auch jetzt bei der aktuellen Kriegspropaganda!

Hätten "Politik" und Medien bezüglich Corona das komplette Gegenteil behauptet, hätten dies meiner Meinung nach die meisten Menschen auch geglaubt und nachgeplappert. Das hat also nichts zu sagen.

Die ,,Querdenker"-Bewegung war neu. Dafür, dass diese vor "Corona" noch nicht existierte, war sie schon recht groß, finde ich.

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