Regelleistungskürzung wegen Klinikaufenthalts auch 2008 unzulässig, VG Bremen, S3 V 1393/08

Begonnen von Mambo, 20:08:31 Mo. 02.Juni 2008

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Mambo

Regelleistungskürzung wegen Klinikaufenthalts auch 2008 unzulässig (nicht rechtskräftig)

VG Bremen, Az: S3 V 1393/08 vom 22.05.2008

ZitatVerwaltungsgericht

der Freien Hansestadt Bremen

- 3. Kammer für Sozialgerichtssachen –
   
Freie
Hansestadt
Bremen

Az: S3 V 1393/08

Beschluss


In dem Rechtsstreit

hat das Verwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen - 3. Kammer für Sozialgerichtssachen - durch Richter Dr. Schnitzler am 22.05.2008 beschlossen:
   
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin in der Zeit vom 1. Juni bis zum 30. September 2008 Leistungen nach dem SGB II – ohne Kürzung wegen der Teilnahme an einer Rehabilitationsmaßnahme - als Darlehen zu gewähren.
Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.


Gründe:

I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen eine Kürzung ihrer Regelleistung wegen einer Rehabilitationsmaßnahme.
Die 1957 geborene Antragstellerin steht im laufenden Leistungsbezug bei der Antragsgegnerin.
Seit dem 13. Mai 2008 nimmt sie an einer Rehabilitationsmaßnahme in der Marbachtalklinik in Bad Kissingen teil. Die Beklagte änderte deshalb den ursprünglichen Leistungsbescheid durch Änderungsbescheid vom 11. April 2008 ab und rechnete der Antragstellerin ab Mai 2008 sonstiges Einkommen in Höhe von 121,45 Euro an. Hiergegen erhob die Antragstellerin mit Schreiben vom 5. Mai 2008 Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist. Sie vertrat, für die Kürzung der Regelleistung gebe es keine Rechtsgrundlage und verwies auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Bremen für die Fälle in den Jahren bis einschließlich 2007 sowie auf die einstimmige Empfehlung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages.

Am 8. Mai 2008 hat die Antragstellerin das Gericht um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ersucht. Sie sei eventuell gezwungen, die Maßnahme abzusagen, weil sie damit zusammenhängende notwendige Anschaffungen – wie Badeanzug, Gepäcktasche etc. – nicht vornehmen könne. Auch nach der Änderung der Alg II-Verordnung zum 1. Januar 2008 sei eine Kürzung der Regelleistung nicht zulässig. Weiterhin könnte die in einer Klinik gewährte Vollverpflegung nicht als Einnahme angerechnet werden. Einkommen könne nur etwas sein, was einen Marktwert habe. Das sei bei der Verpflegung in einer Klinik nicht gegeben.

Die Antragsgegnerin hat die Kürzung der Regelleistung für Mai 2008 durch Änderungsbescheid vom 9. Mai 2008 zurückgenommen, weil im Mai die Bagatellgrenze gem. § 2 Abs. 5 SGB II nicht überschritten sei. Dies betreffe jedoch nicht die Kürzung in den Folgemonaten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin und auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

II.
Der gem. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Antrag ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Auflage 2002, § 86b Rn. 27, 29). Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Überprüfung zu unterziehen; hierbei muss der Antragsteller glaubhaft machen, dass ihm aus dem Rechtsverhältnis ein Recht zusteht, für das wesentliche Gefahren drohen (Meyer-Ladewig, aaO, Rn. 29, 36). Der Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, dass heißt, es müssen erhebliche belastende Auswirkungen des Verwaltungshandelns schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden. Dabei muss die Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheinen, § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG.
Dies bedeutet zugleich, dass nicht alle Nachteile zur Geltendmachung vorläufigen Rechtsschutzes berechtigen. Bestimmte Nachteile müssen hingenommen werden (Binder in Hk-SGG, 2003, § 86 b Rn. 33). Es kommt damit darauf an, ob ein Abwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache hingenommen werden kann. Ob dies der Fall ist, bemisst sich an den Interessen der Antragssteller und der öffentlichen sowie gegebenenfalls weiterer beteiligter Dritter. Dabei reichen auch wirtschaftliche Interessen aus (vgl. Binder, a.a.O.).

Der Anordnungsgrund folgt daraus, dass es der Antragstellerin aufgrund ihrer finanziellen Situation nicht zumutbar ist, das Hauptsacheverfahren abzuwarten.

Es liegt auch ein Anordnungsanspruch vor. Nach vorläufiger Prüfung der Sach- und Rechtslage steht der Antragstellerin auch in der Zeit vom 1. Juni bis zum 30. September 2008 ein Anspruch auf ungekürzte Leistungen nach dem SGB II zu. Insbesondere ist die Antragsgegnerin nicht berechtigt, die Regelleistung wegen des stationären Aufenthalts zu kürzen.

Für die Zeit bis zum 31. Dezember 2007 hat das die Kammer bereits mehrfach entschieden.
Insofern ist beispielsweise auf das Urteil vom 13. Dezember 2007 in dem Verfahren S 3 K 2647/06 zu verweisen (siehe auch Urteil der 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Bremen vom 4. Juni 2006, S 8 K 1416/06; ebenso: SG Detmold, Beschluss vom 10.01.2006, Az. S 9 AS 237/05; SG Freiburg, Urteil vom 24.10.2006, Az. S 9 AS 1557/06; SG Berlin, Urteil vom 06.03.2006, Az. S 103 AS 468/06 und Urteil vom 29.09.2006, Az. S 37 AS 2302/06; SG Oldenburg, Beschluss vom 02.11.2006, Az. S 46 AS 1333/06; SG Gotha, Urteil vom 10.11.2006, Az. S 26 AS 748/06 und Urteil vom 18.12.2006, Az. S 26 AS 748/06; SG Schleswig, Beschluss vom 26.01.2007, Az. S 2 AS 12/07; SG Mannheim, Urteil vom 28.02.2007, Az. S 9 AS 3882/06; kritisch auch: LSG MV, Beschluss vom 12.02.2007, Az. L 8 B 201/06; SG Münster, Beschluss vom 10.01.2007, Az. S 16 AS 191/06; offen gelassen: LSG NRW, Beschluss vom 10.01.2007, L 20 B 304/06; a. A.: SG Koblenz, Beschluss vom 20.04.2006, Az. S 13 AS 229/05; SG Augsburg, Urteil vom 21.11.2006, Az. S 6 AS 495/06; SG Karlsruhe, Urteil vom 09.01.2007, Az. S 14 AS 2026/06; SG Stuttgart, Urteil vom 24.01.2007, Az. S 3 AS 5145/06; LSG Nds.-Bremen, Beschluss vom 29.01.2007, Az. S 13 AS 14/06 ER).

Nichts anderes gilt für stationäre Aufenthalte im Jahr 2008. Zwar bestimmt seit dem 1. Januar 2008 § 2 Abs. 5 der Alg II-V, dass bereitgestellte Vollverpflegung pauschal in Höhe von monatlich 35 Prozent der Regelleistung zu berücksichtigen ist. Die Alg II-V ist jedoch nur auf Einkommen anwendbar, und stationäre Behandlung stellt begrifflich kein Einkommen dar (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 9. Senat, Beschluss vom 25. Februar 2008, L 9 AS 839/07 ER). Eine Kürzung der Regelleistung während eines stationären Aufenthalts ist zudem durch die Ermächtigungsgrundlage der Alg II-V nicht gedeckt. Der 9. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen – dem die Kammer sich anschließt - hat insofern ausgeführt:

,,Die in Anwendung von Artikel 80 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) erforderliche gesetzliche Ermächtigung zum Erlass der Alg II-V ergibt sich aus § 13 SGB II. Dabei ordnet Artikel 80 Abs. 1 Satz 2 GG an, in der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz zu bestimmen. Dabei sind bei Ermächtigungen zu - wie hier - belastenden Regelungen strengere Anforderungen zu stellen als bei Ermächtigungen zu begünstigenden Regelungen (BVerfG, Beschluss vom 30. Januar 1968, 2 BvL 15/65 = BVerfGE 23,62,73). Dies hat der Bundesgesetzgeber hier in § 13 Nr. 1 SGB II derart getan, das er dem Verordnungsgeber die Ermächtigung erteilt hat, Einnahmen zu bestimmen, die nicht als Einkommen zu berücksichtigen sind. Der Gesetzgeber hat den Verordnungsgeber in § 13 Nr., 1 SGB II aber gerade nicht ermächtigt, Einnahmen, die nach dem Gesetz nicht als Einkommen zu qualifizieren sind, auf dem Verordnungswege als Einkommen zu definieren. Selbst wenn der Verordnungsgeber dies also getan hätte, hätte er damit die ihm eingeräumte Rechtssetzungskompetenz überschritten. Eine erweiternde Auslegung scheidet vor dem Hintergrund der angedeuteten Anforderungen von Artikel 80 Abs. 1 Satz 2 GG aus."

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

H i n w e i s

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 Euro nicht übersteigt und wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr nicht im Streit sind (§ 172 Absatz 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Absatz 1 SGG).

gez. Dr. Schnitzler
Für die Ausfertigung

Wilde
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
des Verwaltungsgerichts Bremen
Quelle:
Beschluss vom 22.05.2008 - S3 V 1393/08 (pdf, 59.9 KB)

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