Über zehn Prozent ALG-II-Empfänger in Bermuda-Dreieck verschollen

Begonnen von Kater, 16:36:03 Mi. 19.Oktober 2005

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Kater

ZitatÜber zehn Prozent ALG-II-Empfänger in Bermuda-Dreieck verschollen

Von Werner Jourdan

Waren Sie schon mal "trotz mehrmaliger Anrufe kein einziges Mal erreichbar"? Sie sagen, das sei doch nichts Ungewöhnliches, wenn Sie etwa mal öfter unter Leute gehen, gerade viele Termine haben oder einfach ihre Ruhe brauchen, nachdem bereits der fünfte telefonische Weinverkäufer oder Energiefonds-Händler bei Ihnen angerufen hat? Dann seien Sie froh, dass Sie nicht arbeitslos sind oder zumindest nicht unter Hartz IV fallen. Man würde Sie, da telefonisch nicht erreichbar, sofort zur "Missbrauchsquote" hinzurechnen und Ihnen "betrügerische Absicht" unterstellen.

Folgt man nämlich der ausgefeilten Logik der Bundesagentur für Arbeit und ihres stellvertretenden Verwaltungsratsvorsitzenden Peter Clever, dann sind Arbeitslosengeld-II-Empfänger nicht nur verpflichtet, ihren Wohnort nicht ohne Genehmigung zu verlassen, sondern auch dazu, jederzeit telefonisch erreichbar zu sein. Nicht etwa weil die Arbeitsagentur Stellen anzubieten hätte, die Arbeitssuchende binnen Stunden antreten müssten, nein, für die Statistik sollen die Joblosen parat stehen, wie beim Zählappell auf dem Kasernenhof. Nur dass es nicht um einmal Strammstehen pro Tag geht, sondern um ständige Telefonbereitschaft, die mit 345 Euro monatlich vergütet und im Osten mit einem Abschlag von 14 Euro versehen wird.

Nun weiß man als Bürger in diesem Staat aus Erfahrung, dass Politiker immer dann eine Berufs- oder Bevölkerungsgruppe verunglimpfen, wenn sie von ihren eigenen Versäumnissen ablenken wollen. Dann schimpft der Kultusminister über die faulen Lehrer, weil ihn sein schlechtes Gewissen wegen des dramatischen Unterrichtsausfalls plagt. Dann kann es auch vorkommen, dass ein Bundeswirtschaftsminister hunderttausende Arbeitslosengeld-II-Empfänger unter Generalverdacht stellt, weil er sonst erklären müsste, wie die Ausgaben für Harz IV von geplanten 12 Milliarden auf tatsächliche 26 Milliarden Euro steigen konnten. Rechtzeitig Schuldige zu finden, bevor man selbst verantwortlich gemacht wird, ist bewährte Selbsterhaltungs- Taktik in der Politik.

Das hat auch Peter Clever begriffen und so kann man es dem Arbeitgebervertreter im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit (BA) kaum verdenken, dass er von fragwürdig zustande gekommenen Ergebnissen einer Telefonaktion aus dem Callcenter der BA (von 390.000 Angerufenen waren angeblich 170.000 nicht erreichbar) gerade jetzt auf einen skandalösen Missbrauch des ALG II schließt. Immerhin hatte eine am Tag zuvor präsentierte Befragung der Stiftung Warentest ergeben, dass nur eine Fünftel der Befragten von ihrer Arbeitsagentur jemals ein Beschäftigungs- oder Qualifizierungsangebot erhalten hat (und dann auch meist nur zu einem befristeten Ein-Euro-Job). Da muss man als Clever dagegenhalten, keine Frage, und dann natürlich auch eine Aufsehen erregend hoch geschätzte Quote von "sicherlich über zehn Prozent" Missbrauchsfällen nennen. Presse und Öffentlichkeit werden sich dadurch bestimmt beeindrucken lassen - Zahlen sprechen ja für sich, wie es so schön heißt.

Doch auch wenn er den Begriff geschickt vermeidet - Clever operiert mit der ominösen Dunkelziffer. Sie geistert zwar immer noch durch manche Kriminalstatistik und manchen reißerischen "Kriminalreport", aber bei tatsächlich seriösen Statistikern und Auswertern ist die dunkle "Ziffer", die in Wahrheit eine Zahl ist, inzwischen verpönt. Es hat sich mit der Zeit doch die Erkenntnis durchgesetzt, dass man eine Dunkelzahl nicht wirklich schätzen kann, da sie ja im Dunkeln liegt und man schwerlich von Dunklem auf Dunkles schließen kann. Einleuchtender  formuliert: Wer mit geschätzten Dunkelziffern argumentiert, will nichts Erhellendes zu einer Diskussion beitragen, sondern nur verschleiern, dass er genau das nicht wissen kann, was er wissen müsste, um Recht zu behalten. Er macht praktisch das Licht aus, um besser sehen zu können.

Schon gar nichts weiß einer, der sich einen beliebigen Reim darauf macht, dass mancher Mitmensch telefonisch schlecht erreichbar ist. Man kann daraus schließen, dass er auf den Bermudas in der Sonne liegt oder im gleichnamigen Dreieck verschollen ist - wie es der Bundesagentur für Arbeit und deren Verwaltungsrat besser in den Kram passt. Seriös sind beide Annahmen nicht. Wer schon einmal versucht hat, bei einer Arbeitsagentur jemanden ans Telefon zu bekommen, und wer erlebt hat, dass diese Einrichtung "trotz mehrmaliger Anrufe kein einziges Mal erreichbar" war, wird ja deshalb auch nicht ernsthaft behaupten, es handle sich bei der BA um eine Briefkastenfirma in Hamilton, Bermuda.

http://linkszeitung.de/content/view/3011/51/

besorgter bürger

ZitatWer schon einmal versucht hat, bei einer Arbeitsagentur jemanden ans Telefon zu bekommen, und wer erlebt hat, dass diese Einrichtung "trotz mehrmaliger Anrufe kein einziges Mal erreichbar" war, wird ja deshalb auch nicht ernsthaft behaupten, es handle sich bei der BA um eine Briefkastenfirma in Hamilton, Bermuda.


briefkastenfirma  :D
Viele Menschen würden eher sterben als denken. Und in der Tat: Sie tun es.

Carsten König

Das haben die Briefkastenfirmen auf den Bahamas aber nun doch nicht verdient... mit den ARGEn/Arbeitsagenturen verglichen zu werden...

Regenwurm

Also "niemand" ist verpflichtet ans telefon zu gehen...
 110 und 112 das sind wahren Nummern


Zitat"trotz mehrmaliger Anrufe kein einziges Mal erreichbar"
-Haupsache man tut so, als ob man Service hat, macht ja 'nen guten Eindruck !
Das System macht keine Fehler, es ist der Fehler.

besorgter bürger

dazu passender artikel

tenor:
ZitatUnd nun rechnen Sie einmal mit uns nach, was das jährlich ergäbe, wenn der Staat die 5 Millionen Arbeitslosen mit durchschnittlich 1 800 Euro im Monat (über alles gerechnet) einstellen würde: 5.000 000 x 1.800 Euro x 12 = 108 Milliarden Euro.

Das wären also Einsparungen in der Größenordnung von zwischen 12 und 32 Milliarden Euro für die öffentlichen Haushalte, wahrscheinlich mehr.
...
Es wird also klar: Hartz IV diente nicht dem Sparen und sollte dies auch nie. Es ging um die Schaffung von niedrigst bezahlten Arbeiten in riesigem Ausmaß in Deutschland und die Verbreitung von Elend bei den Arbeitslosen und von Furcht und Schrecken bei denen, die noch Arbeit haben, um sie weich zu kochen für Verschlechterungen. Dafür gibt der nette neoliberale Politiker von nebenan schon mal gerne zwischen 12 und 32 Milliarden mehr aus.
Viele Menschen würden eher sterben als denken. Und in der Tat: Sie tun es.

Karin

Vor allem ist es relativ selbstverständlich das der Durchschnittsarbeitlose nicht rund um die Uhr erreichbar ist. Schließlich ist seine Arbeit sich Arbeit zu suchen. Und wie es aussieht wird die ihm kaum jemand durch das Telefon bringen und beim Pizzaservice kann man auch nicht: Eine Magarita mit einigermaßen Bürojob ordern.
Wenn ich arbeiten gehe bin ich für 345 € für meinen Arbeitgeber gerade mal 3 Stunden den Tag erreichbar. Warum sollte da die BA mehr verlangen können? Sollen lieber die verschusselten Anträge suchen und nicht aufrechte Bürger am Telefon belästigen.

Gruß
KArin
"Deine Theorie ist nicht besser als deine Praxis, und dein Körper ist nicht besser als die Nahrung die du ihm gibst" (Marge Piercy "Frau am Abgrund der Zeit")

Spätlese

@besorgter bürger:

Zum Einspareffekt:

Das ist ja die blödsinnige Denke der hohen Herrschaften, die uns tagtäglich einen vertellen wollen. Jeden Tag meinen die, mit immer höheren "Milliardenlöchern" die Lage z. B. für Arbeitslose bedrohlicher darstellen zu können, bzw. die angeblich leeren Haushaltskassen ins rechte Bild zu rücken. ("Mehr ist immer besser!)

Und irgendwann schlagen DIE sich selbst mit ihrer eigenen Bauernschläue, so wie hier geschehen.

Dabei wäre ja die Einsparung in Folge noch höher:
RV-Beiträge fliessen wieder,  KV-Beiträge sind von diesem Brutto abzuführen, AV-Beiträge werden wieder eingefahren, Beschäftigungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen, Subventionen usw. können zurückgefahren werden ... und ...
"2 von 3" BA bzw. ARGE-Geschäftsstellen dicht machen, was aber in dem Fall zumindest bei Angestellten ein paar Zehntausend neue Arbeitslose mit sich bringen würde ...

Das würde evtl. je nach Rechenart, dem Staat noch eine Rendite einbringen ... aber die wollen ja nur Schulden haben.
Alle von mir getätigten Aussagen/Antworten/Kommentare entsprechen lediglich meiner persönlichen Meinung und stellen keinerlei Rechtsberatung dar.

besorgter bürger

Zitat... aber die wollen ja nur Schulden haben.

die banken freuen sich. dumm nur das der staat nicht 100% seiner einnahmen als zinszahlung an die banken abführt. immer diese lästigen sozialleistungen! die banken könnten noch viel mehr gewinn machen wenn der staat mehr zinsen zahlen könnte.
Viele Menschen würden eher sterben als denken. Und in der Tat: Sie tun es.

Pinnswin

Hat jemand von euch EIN FALL FÜR ESCHER gekuckt?
Laut Herrn Hanke[?!] von der Arbeits-Agentur sind es 7% "Schmarotzer", laut dem Rechtsanwalt für Sozialrecht sind es 2% denen Leistungsbetrug nachgewiesen werden könnte, wenn die Agenturen nicht so schlampig arbeiten würden.
Das Ende Der Welt brach Anno Domini 1420 doch nicht herein.
Obwohl vieles darauf hin deutete, das es kaeme... A. Sapkowski

Kuddel

ZitatOriginal von Pinnswin
 laut dem Rechtsanwalt für Sozialrecht sind es 2% denen Leistungsbetrug nachgewiesen werden könnte

Die Propaganda hat ja wohl gut gewirkt.
Jetzt fangen wir schon an uns Gedanken zu machen darüber, wer zurecht und wer zuunrecht als krimineller Schmarotzer bezeichnet wird. Mit Einführung der Agenda 2010 geht es einem Großteil der Bevölkerung (und nicht nur die Erwerbslosen) schlechter als zuvor. Wenn sich einige ein paar Tricks ausdenken, wie sie annähernd ein ähnliches Einkommen kriegen können, wie es ihnen vorher ganz normal zugestanden hat, dann schreien Politiker und Medien, das sei kriminell. Dabei versuchen sie sich nur zurückzuholen was ihnen geklaut wurde.

Wenn wir die Deutungshoheit darüber, was kriminell ist und was nicht, den herrschenden Verbrechern überlassen, dann haben wir bereits verloren!

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