Geschichtliches: Lehrlingsbewegung

Begonnen von admin, 19:10:45 So. 20.Mai 2012

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admin

Lehrlingsbewegung

Wenn wir heute die Bewegungen betrachten, die im Arbeitsleben, in den Betrieben als Widerstand gegen Arbeitsplatzvernichtung und Sozialabbau entstehen, ist es sinnvoll, die Zeit um 1970 zu betrachten, in der die Lehrlingsbewegung entstand, inspiriert durch die Jugend- und Studentenbewegung. Sie entstand in Hamburg als Lehrlings-Jour Fixe und dehnte sich in der ganzen BRD aus. Dazu hat David Templin eine Untersuchung geschrieben - sehr lesenswert!

Eine Besprechung des Buches von Peter Novak in trend-online:
http://www.trend.infopartisan.net/trd5612/t195612.html

Kuddel

...Das waren die Rahmenbedingungen, unter denen im Oktober 1968 der erste öffentliche und viel beachtete Lehrlingsprotest stattfand. In der Hamburger Börse verteilten Lehrlinge anlässlich der traditionellen Freisprechungsfeier Flugblätter mit ihren Forderungen. Eine breite Öffentlichkeitswirkung wurde aber erst spürbar, als die Lehrlinge auf der zentralen Maikundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 1. Mai 1969 auf dem Hamburger Rathausmarkt ihre Forderungen lautstark artikulierten. Prominente Festredner wie Willy Brandt, Herbert Weichmann und Otto Brenner mussten ihre Reden begleitet durch die Sprechchöre von schätzungsweise 3.000 Lehrlingen vortragen.

Infolge des für den Gewerkschaftsvorstand völlig unerwarteten Protestes an der Gewerkschaftsbürokratie trafen Betriebsräte und Vertrauensleute auf einer zentralen Konferenz nur wenige Tage später am 6. Mai 1969 weit reichende Entscheidungen über die künftige gewerkschaftliche Jugendpolitik.



Zentraler Punkt war die Gründung eines offenen Lehrlingszentrums, eines ,,Jour fixe" der Gewerkschaftsjugend in Hamburg, Ausgangspunkt für eine bundesweite Gründungswelle von Lehrlingszentren. Der Hamburger ,,Jour fixe" begann gleich mit einer Reihe öffentlicher Aktionen, z. B. im Oktober 1970 vor dem Rheinstahl-Werk in Hamburg oder eine große ,,Fegeaktion" auf der vorweihnachtlichen Einkaufsmeile Mönckebergstraße in Hamburg im November 1970



Auf dem Höhepunkt der Lehrlingsbewegung, 1971/72, gab es ca. 150 Lehrlingszentren in der Bundesrepublik, teils autonom, teils gewerkschaftlich organisiert. Diese waren i. d. R. örtlich bzw. branchenspezifisch (einzelgewerkschaftlich) organisiert, bis hin zu betrieblichen Gruppen (z. B. Durag in Hamburg, Siemens in München), je nach (gewerkschaftlicher) Infrastruktur in den Orten. In überwiegend kleinbetrieblichen (ländlichen) Regionen waren oft die Berufsschulen Ausgangspunkt dieser Selbstorganisation der Lehrlinge. Aber auch staatliche Berufsbildungseinrichtungen gerieten in die ,,Protestwelle", z. B. die zentrale Ausbildungswerkstatt der Stadt Frankfurt (LAW). Dazu gab es verschiedene Versuche der Lehrlingszentren bzw. Betriebsgruppen, sich in die Tarifpolitik der Gewerkschaften mit eigenen Forderungen einzuklinken bzw. sogar eigenständige ,,Ausbildungs-Tarifverträge" für Branchen und/oder Betriebe durchzusetzen (z. B. Durag-Betriebsgruppe Hamburg), solche Versuche eigenständiger Tarifpolitik wurden allerdings von den Gewerkschaften nicht unterstützt.

Es gab auch Versuche einer überregionalen Organisierung der Lehrlingszentren, z. B. eine bundesweite ,,Arbeitskonferenz der Lehrlingszentren" in Frankfurt am 13./14. Februar 1971, an der sich über 40 Lehrlingszentren beteiligten, und danach eine Regionalkonferenz Norddeutschland am 13./14. März 1971 in Hamburg. Zu diesen Bemühungen einer überregionalen ,,autonomen" Organisation der Lehrlingszentren gehörte auch die aus dem Hamburger Jour fixe hervorgegangene Initiative für die ,,LZ – Zeitung für Lehrlinge und Jungarbeiter", die ab 1970 in Hamburg hergestellt und bundesweit zumeist über die Lehrlingszentren vertrieben wurde.

http://de.wikipedia.org/wiki/Lehrlingsbewegung_der_1970er-Jahre


Kuddel

ZitatEine Lehre fürs prekäre Leben

Vor 40 Jahren begann der Niedergang der Lehrlingsbewegung, aus der auch Ton Steine Scherben hervorgingen. Angesichts der prekären Situation von Auszubildenden heutzutage wäre es an der Zeit für eine Wiederbelebung.


von Peter Nowak

Ein Film, der kürzlich in den Kinos angelaufen ist, trägt den Titel »Die Ausbildung«. Regisseur Dirk Lütter schildert darin die Zwänge der neoliberalen Arbeits- und Bürowelt aus der Sicht ­eines Auszubildenden (Interview Jungle World 12/2012). Der Protagonist Jan, der eine Lehre in einem Callcenter absolviert, wird in einer Rezension der Taz als »Azubi am unteren Ende der Hackordnung« beschrieben. Auffallend sei die Uniformität, die im Büro herrsche. Alle tragen »dieselben korrekt gescheitelten Frisuren« und heißen »Jan, Jens oder Jenny«, bei den Prota­gonisten handele es sich um »prekär beschäftigte Klone«. Angesichts solcher Befunde stellt sich die Frage, ob sich wirklich viel verbessert hat im Vergleich zu jener Zeit, als anstelle von Azubis von Lehrlingen oder ganz altmodisch von »Stiften« die Rede war. Abgesehen davon, dass es damals undenkbar gewesen wäre, den Chef zu duzen, und die Zuständigkeit fürs Zigarettenholen noch zum Alltag von Lehrlingen gehörte.

»Brauchst Du einen Arbeitsmann, schaff Dir ­einen Lehrling an«, lautete einer der Slogans, mit denen sich junge Menschen vor 40 Jahren ­gegen solche Zustände zur Wehr setzten. In der Folge der Studentenbewegung bildete sich auch eine Lehrlingsbewegung heraus, doch fand eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr lange Zeit nicht statt. Kürzlich hat der Historiker David Templin von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg den Band »Lehrzeit – keine Leerzeit« herausgegeben, der den Hamburger »Aufstand der Stifte«, wie die Bewegung von den Medien häufig bezeichnet wurde, untersucht. Seine Arbeit könnte auch weitere Fallstudien anregen, schließlich war die Lehrlings­bewegung dezentral organisiert.

Das zwiespältige Verhältnis zu den DGB-Gewerkschaften spielt in dem Band ebenso eine Rolle, wie die linken politischen Gruppen jenseits der SPD. Am Beispiel Hamburgs veranschaulicht Templin die Bedeutung, die die beiden Linkssozialisten Reinhard Crusius und Manfred Wilke beim Entstehen der Lehrlingsbewegung hatten. Die Aktivisten der Gewerkschaftlichen Studentengruppe (GSG), in der Studierende der Hamburger Akademie für Wirtschaft und Politik organisiert waren, nutzten gewerkschaftliche Organisationsformen und versuchten dennoch, ihre poli­tische Autonomie zu wahren.

Dabei kam ihnen zu Hilfe, dass der Geist der außerparlamentarischen Bewegung von den Hochschulen auf immer größere Teile der Gesellschaft übergegriffen hatte. Vor allem junge Menschen begannen, auch außerhalb des Campus die Gesten der Revolte zu adaptieren. Damit ging auch ein wachsendes Interesse an politischer Auseinandersetzung einher. Ein äußerlich sichtbares Zeichen für die Veränderung war die Haarlänge bei Männern.

Die kulturelle Komponente spielte in der Lehrlingsbewegung eine große Rolle. Sehr eng mit der Bewegung verbunden war die Kölner Band Floh de Cologne, die avantgardistische Musik mit Texten aus der Arbeitswelt verband. Wesentlich berühmter wurde allerdings eine Band, die sich im Umfeld der Westberliner Lehrlingsbewegung gründete und anfangs »Rote Steine« nannte. Nach ihrer Umbenennung in Ton Steine Scherben avancierte sie zur Lieblingsband der Linken. Von der Lehrlingsbewegung hatten viele ihrer Fans jedoch kaum etwas mitbekommen, als 1972 das Album »Keine Macht für niemand« erschien, hatte die Lehrlingsbewegung ihren Höhepunkt bereits überschritten.

Wie schon bei deren Entstehen gilt Hamburg auch für den Niedergang als maßgeblich. 1972 zeigten sich in Hamburg bereits erste Zerfallserscheinungen, Mitte der siebziger Jahre war es mit der Lehrlingsbewegung in der gesamten Republik vorbei. Dabei spielten Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen kommunistischen Gruppen eine große Rolle. Während sich politisch unorganisierte Jugendliche durch die Abgrenzungsrituale der unterschiedlichen K-Gruppen ausgeschlossen fühlten, wurde innerhalb dieser Organisationen die Herausbildung einer Arbeiterjugend als hinderlich für den anvisierten gemeinsamen Klassenkampf empfunden. Ein weiterer Grund für den Niedergang der Lehrlingsbewegung waren die von der sozialliberalen Koalition durchgesetzten Reformen im Ausbildungsbereich, die vor allem den ökonomischen Erfordernissen des Wirtschaftsstandortes BRD entsprachen.

Mit dem Abschied vom »Stift«, der vor allem für die Bereitstellung von Bier und Kaffee zuständig war, gingen Änderungen einher, die vielen politisch aktiven Lehrlingen entgegenkamen. So zitiert Templin aus der Zeitungsanzeige eines Unternehmens der Deutschen Post von 1971, in der es heißt: »Wir brauchen keine Penner zum Bier- und Zeitungsholen. Denn wir legen Wert auf ihre Ausbildung«. Auch die Hamburger Handelskammer kam mit der Einführung eines Kontrollhefts, in dem der Stand der Ausbildung bei jedem Lehrling dokumentiert wird, den Jugendlichen entgegen, denen es vor allem um eine bessere Ausbildung und nicht um eine grundsätzliche Kritik der Lohnarbeit ging. Neben dem DGB avancierte die der DKP nahestehende Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) zu den Interessenvertretern dieser reformerisch eingestellten Auszubildenden. Damit hatte die SDAJ zu Beginn der siebziger Jahre Erfolg, die Mitgliederzahl stieg, einige wurden Funktionäre beim DGB. Heftige Kritik an der Politik der SDAJ wurde nicht nur von maoistischen Gruppen geübt, sondern auch von der linkssozialistischen GSG. Wilke und Crusius warfen der SDAJ sogar vor, gemeinsam mit dem DGB-Apparat die Lehrlingsbewegung niedergeschlagen zu haben.
http://jungle-world.com/artikel/2012/17/45332.html

ManOfConstantSorrow



ZitatAutonomer Handwerkernachwuchs
Die Gruppe »anstiften« will eine neue Lehrlingsbewegung anstoßen. Ihr Vorbild ist der linke Aufbruch Auszubildender in den 1970er Jahren


    Von Peter Nowak   

»Ausbildungsvertrag und alles, was dazu gehört« und »Krank werden und krank machen in der Ausbildung« - das sind einige der Themen, die auf einer neuen Internetplattform für Lehrlinge publiziert werden. Sie will Auszubildende im Bauhandwerk organisieren. Die Initiatoren, die selber in der Branche beschäftigt sind und teilweise eine akademische Ausbildung absolviert haben, wollen mit dem Projekt »anstiften.net« an eine Bewegung anknüpfen, die heute weitgehend vergessen ist.

»Es gibt in Deutschland seit den 1970er Jahren keine Selbstorganisation und Vernetzung von Auszubildenden im Bauhandwerk mehr«, meint Max Siebert. In Folge dessen gebe es keinen Wissenstransfer über Rechte von Auszubildenden, die folglich auch nicht durchgesetzt würden. »Stattdessen werden Missstände individualisiert und entpolitisiert«, kritisiert Siebert.

Der linke Aufbruch der 1970er Jahre wird vor allem mit dem akademischen Nachwuchs identifiziert. Erst der Historiker David Templin hat in seinem Buch »Lehrjahre - keine Herrenjahre« am Beispiel von Hamburg gezeigt, wie tiefgreifend der gesellschaftliche Aufbruch damals auch in der proletarischen Jugend gewesen ist. »Braucht Du einen billigen Arbeitsmann, schaff' Dir einen Lehrling an«, lautete einer der Slogans, mit denen sich junge Leute damals gegen die Zustände in der Ausbildung wehrten. Dazu gehörte noch das obligatorische Zeitung holen und Brötchenschmieren. Selbst Prügel vom Meister waren keine Seltenheit.

Für Siebert und seine Freunde war die Lektüre des Buches ein Anlass, sich zu fragen, warum es heute eine solche Lehrlingsbewegung nicht gibt. Siebert hält sie trotz aller Veränderungen der Arbeitswelt nicht für obsolet. »Die Bedeutung von Auszubildenden ist heute nur insofern zurückgegangen, als dass sie sich in der Regel klein machen und nicht aufmucken, also auch keine Aufmerksamkeit auf ihre Situation ziehen«, erklärt er gegenüber »nd«. »Ohne Auszubildende gibt es keinen Nachwuchs im Handwerk, darum haben wir auch ein Druckmittel«, betont der Aktivist. Schließlich sei die Klage über fehlende Arbeitskräfte bei Handwerks- und Wirtschaftsverbänden laut. Es müsste also eine gute Zeit sein, um Verbesserungen im Ausbildungsbereich durchzusetzen. Zumal es nicht mehr nötig ist, die einzelnen Betriebe abzuklappern. Die Initiative wirbt dort für sich, wo sich heute viele junge Menschen tummeln: in den sozialen Netzwerken.

Für Siebert und seine Kollegen ist die Diskussionsplattform der erste Schritt zum Aufbau der Lehrlingsbewegung. Tipps und Erfahrungen von jungen Beschäftigten werden dort veröffentlicht. Zudem hat die kleine Gruppe in den letzten Monaten Interviews mit Dutzenden Auszubildenden in ganz Deutschland geführt, und sie nach ihren Erfahrungen und Problemen am Arbeitsplatz befragt. Immer wieder wurden dabei genannt: Unbezahlte und unfreiwillige Überstunden, Wochenendarbeit, ausbildungsfremde Tätigkeiten, zu wenig Geld und Urlaub.

Auch der Umgang von Kollegen mit diesen Problemen ist ein Thema. Da berichtet ein Auszubildender über einen Mann, der schwerste Arbeiten alleine macht und Hilfe zurückweist. »Bis ich dann erfahren habe, dass der Kollege auch deswegen so mürrisch war, weil er seit vielen Jahren auf Schmerzmitteln zur Arbeit kommt und einen total verschlissenen Körper hat.«

Die Initiatoren der Plattform hingegen wollen zu einem solidarischen Umgang am Arbeitsplatz anstiften. Sie knüpfen an die Praxis der sogenannten militanten Untersuchungen an, mit der in den 1970er Jahren in Italien linke Gruppen Arbeiterbefragungen durchführten. Das Ziel war auch hier ihre Organisierung außerhalb der großen Gewerkschaften. Siebert und seine Kollegen benennen das Ziel der Befragungen klar: »Wir wollen eine neue, selbstbewusste Lehrlingsbewegung lostreten, die sich autonom von Gewerkschaften und Parteien organisiert und sich nicht mehr alles gefallen lässt.« Dabei geht es ihnen nicht um Arbeitertümelei. Der Sexismus männlicher Bauarbeiter wird auf der Onlineplattform ebenso kritisiert, wie Alternativen zur Lohnarbeit zur Diskussion gestellt werden.

Die DGB-Gewerkschaften als Interessenvertreterin der Auszubildenden sehen die »Anstifter« mit Skepsis. »Da fehlt es oft an einer klar parteiischen und entschlossenen Haltung, im Konfliktfall wirklich für die Interessen der Auszubildenden einzutreten anstatt sie auf die Zeit nach der Ausbildung zu vertrösten«, sagt Michaela Weber. Die Tischlerin vermisst bei den Gewerkschaften eine politische Vision, die über »Gute Arbeit für alle« und einen »besseren Kapitalismus« hinaus geht. Doch bei aller Kritik hält Weber im Einzelfall eine Kooperation mit DGB-Gewerkschaften für möglich.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1058068.autonomer-handwerkernachwuchs.html



Wer wir sind

Es gibt in Deutschland seit den 70er Jahren keine Selbstorganisation und Vernetzung von Auszubildenden im Bauhandwerk mehr. In Folge dessen gibt es keinen Wissentransfer über Rechte von Auszubildenden und deren praktische Durchsetzung. Stattdessen werden Missstände individualisiert und entpolitisiert.

Als eine Gruppe Auszubildender und Gesell_innen wollen wir diesen Mechanismen entgegenwirken. Wir sehen innerhalb des Ausbildungssystems die Manifestation und Reproduktion verschiedener Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen. Für diese ein Bewusstsein zu schaffen und auf eine andere Realität zu zu arbeiten ist unser Ziel.

Der Ratgeber soll die Misere der Ausbildung im Bauhandwerk offen legen und parteiisch für Auszubildende Tipps geben, damit Rechte eingefordert werden können. Mit Erfahrungsberichten werden Wege der Organistation aufgezeigt, um die Ausbildungszeit selbstbewusst zu gestalten.

anstiften zielt auf Austausch und Kommunikation bei der eine Plattform entstehen soll, auf der sich Auszubildende gegenseitig bei ihren Problemen helfen und sehen können, dass die Missstände kein Problem eines einzelnen Individuums sind, sondern Viele sich in der gleichen Situation befinden.

Unsere Utopie ist es, dass sich Auszubildende und Arbeiter_innen wieder selbst organisieren, vernetzen und handeln.

Bei unserer Arbeit distanzieren wir uns ausdrücklich von etablierten Gewerkschaften und Parteien.

https://systemausfall.org/~anstiften/wer-wir-sind/
Arbeitsscheu und chronisch schlecht gelaunt!

Kuddel

ZitatZeit für eine neue Lehrlingsbewegung
Parallel zu den Studierenden brachten 1968 auch Azubis frischen Wind in die Politik - und in die Gewerkschaften


Mehr als eine halbe Million Lehrlinge starten am 1. September ins Berufsleben. Auch in diesem Jahr ist der Ausbildungsbeginn begleitet vom Lamento der Arbeitgeberverbände, es gebe zu wenige Azubis. Tatsächlich blieben im Ausbildungsjahr 2016 43 000 Ausbildungsplätze unbesetzt, ihnen standen jedoch zugleich 280 000 junge Menschen gegenüber, die keine Stelle fanden. Der vielfach beklagte Fachkräftemangel ist also durchaus hausgemacht.

In einigen Branchen herrscht allerdings wirklich ein Mangel an Auszubildenden. Insbesondere der Hotel- und Gaststättensektor und einige Branchen des Handwerks tun sich schwer bei der Suche nach Nachwuchskräften. Einen Hinweis auf die Gründe dafür liefert der jährliche Ausbildungsreport der DGB-Jugend zur Ausbildungsqualität (siehe Infokasten).

ZitatBillige Arbeitskräfte

Mehr als 12 000 Lehrlinge werden jedes Jahr für den Ausbildungsreport der DGB-Jugend zu Ausbildungsqualität und -zufriedenheit befragt. Die Auswertung zeigt: Bei der dualen Ausbildung besteht dringender Handlungsbedarf. So sind laut dem letzten Bericht von 2017 zwar 71,9 Prozent der Azubis mit ihrer Ausbildung zufrieden, jedoch werden die Nachwuchskräfte häufig nicht betrieblich ausgebildet, sondern als billige Arbeitskräfte eingesetzt. 35 Prozent haben keinen betrieblichen Lehrplan zur Überprüfung der Ausbildungsinhalte, obwohl das gesetzlich vorgeschrieben ist. 11,5 Prozent von ihnen üben regelmäßig ausbildungsfremde Tätigkeiten aus. Auch die nach dem Berufsbildungsgesetz eigentlich ausgeschlossenen Überstunden gehören zum Alltag vieler Azubis. 36,2 Prozent müssen regelmäßig Überstunden leisten, 11,6 Prozent der unter 18-Jährigen arbeiten trotz gesetzlichen Verbots mehr als 40 Stunden die Woche und 13,4 Prozent der Lehrlinge bekommen für ihre Überstunden weder Freizeitausgleich noch Bezahlung.

Besonders schlecht schneiden dabei die Branchen ab, die sich über fehlenden Nachwuchs beklagen. Vor allem Azubis im Hotel- und Gaststättenbereich, im Friseurhandwerk und in der Lebensmittelbranche sind unzufrieden und bewerten ihre Betriebe als mangelhaft. Hier sind auch die Abbruchquoten während der Ausbildung am höchsten.

Weitere große Probleme im Bereich der dualen Ausbildung stellen laut der Gewerkschaftsjugend die schlechte finanzielle Ausstattung der Berufsschulen und die mangelnde Abstimmung zwischen Berufsschulen und Betrieben dar. Sie fordern deshalb einheitliche Qualitätsstandards in der Ausbildung und ein Investitionsprogramm für die Berufsschulen.

Vor allem aber setzen die jungen Gewerkschafter auf eine Reform des veralteten Berufsbildungsgesetzes (BBiG). Dieses wurde 1969 verabschiedet und ist seither nur wenig verändert worden. Auf eine solche Reform hatten sich eigentlich auch Union und SPD bereits im Koalitionsvertrag von 2013 geeinigt - jedoch ohne Resultat. Nun setzt die Gewerkschaftsjugend ihre Hoffnungen in die erneute Große Koalition, denn auch im aktuellen Koalitionsvertrag wurde eine Novellierung des Gesetzes vereinbart. Geschehen ist seitdem jedoch wenig. Entstanden ist das BBiG 1969 allerdings ebenfalls nicht aus der Einsicht der damals Regierenden in die Notwendigkeit gesetzlicher Ausbildungsstandards. Es ist vielmehr ein Resultat des Kampfes der Lehrlingsbewegung, der vor 50 Jahren begann.

Als es Flugblätter regnete

Auch wenn das Jahr 1968 vor allem als das Jahr der Studentenbewegung in die Geschichte einging, war es auch das Jahr, in dem sich Lehrlinge verstärkt organisierten und der Aufschwung der Gewerkschaftsjugend begann.

Will man den Beginn der Lehrlingsbewegung bestimmen, stößt man unweigerlich auf den 25. September 1968. Zwar rumorte es schon zuvor unter den jungen Beschäftigten, doch an diesem Tag traten sie erstmals auf spektakuläre Weise an die Öffentlichkeit. Während der traditionellen Freisprechungsfeier der Handelskammer in der Hamburger Börse regnete es plötzlich Flugblätter auf Teilnehmer und Gäste, in denen die Ausbildungsbedingungen junger Arbeiter angeprangert wurden. Kurze Zeit später gründeten gewerkschaftlich orientierte Jugendliche in Hamburg die »Arbeitsgemeinschaft der Lehrlinge für eine bessere Berufsausbildung«, die bald darauf die erste selbstständige Lehrlingsdemonstration organisierte. Mehr als 1000 Teilnehmer zogen mit Parolen wie »Brauchst du einen billigen Arbeitsmann, schaff dir einen Lehrling an« durch Hamburg. Es war der Auftakt für Demonstrationen und Proteste in allen größeren Städten der damaligen Bundesrepublik.

Trotz der einsetzenden Wirtschaftskrise herrschte Ende der 1960er Jahre Vollbeschäftigung, und auch an Ausbildungsplätzen bestand kein Mangel. Wegen des Fehlens einheitlicher Standards war die Qualität der Ausbildung jedoch sehr unterschiedlich. Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen mit wenigen Beschäftigten waren Auszubildende weitgehend entrechtet. Die Proteste richteten sich daher vor allem gegen die altertümlichen Ausbildungsbedingungen.

Im Zeitalter der Raumfahrt wurden die gewerblichen Lehrlinge immer noch nach der Gewerbeordnung des 19. Jahrhunderts ausgebildet, für kaufmännische Auszubildende galt das Handelsgesetzbuch, das ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammte. Die protestierenden Auszubildenden forderten unter anderem das Ende körperlicher Züchtigungen, ein Verbot ausbildungsfremder Tätigkeiten, ein Streikrecht für Lehrlinge, die Überführung der Ausbildung in staatliche Einrichtungen und Schulen und insbesondere neue gesetzliche und vertragliche Grundlagen der Ausbildung. Vielerorts gingen Lehrlinge auch für ein garantiertes Mindesteinkommen oder die Herabsetzung der Höchstarbeitszeit auf sechs Stunden auf die Straße. Im ganzen Land entstanden Lehrlingszentren, in denen sich junge Beschäftigte selbstständig organisierten, sich weiterbildeten und Proteste planten. Auf dem Höhepunkt der Bewegung existierten etwa 150 solcher Lehrlingszentren in der ganzen Bundesrepublik. Einige von ihnen wurden später zur Keimzelle der Jugendzen-trumsbewegung.

Ein Grund für diesen hohen Grad an Selbstorganisation war, dass die Gewerkschaften lange untätig geblieben waren und die Vertretung von Lehrlingsinteressen nicht als ihre Aufgabe sahen. Gewerkschaftliche Jugendarbeit existierte damals faktisch nicht. Dies änderte sich erst mit der Lehrlingsbewegung, die den Druck auf den DGB erhöhte, sich auch für junge Beschäftigte einzusetzen. So geriet der 1. Mai 1969 für die Gewerkschaftsführung zum Desaster, nachdem sich in vielen Städten unter dem Motto »Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft« eigene Lehrlingsblöcke auf den DGB-Demonstrationen gebildet hatten, die sich lautstark Gehör verschafften. Auf der zentralen Mai-Kundgebung des DGB in Hamburg musste Bundeskanzler Willy Brandt seine Rede begleitet von den Sprechchören von 3000 Lehrlingen vortragen.

Infolge dieses für den Gewerkschaftsvorstand völlig unerwarteten Protests gegen die Gewerkschaftsbürokratie traten schon am 6. Mai Betriebsräte und Vertrauensleute auf einer Konferenz zusammen, um die Jugendarbeit des DGB neu auszurichten. Kurz darauf entwarfen die Gewerkschaften ein Sofortprogramm, bei dessen Ausarbeitung auch gewerkschaftlich organisierte Lehrlinge und Studenten eingebunden wurden. Davon ermutigt, riefen verschiedene Lehrlingszentren und neu gegründete gewerkschaftliche Jugendgruppen zu einer Demonstration in Köln auf, an der sich 10 000 Lehrlinge beteiligten.

Verjüngung der Gewerkschaften

Die Lehrlingsbewegung forcierte sowohl eine Neuausrichtung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik als auch die Reform der beruflichen Ausbildung. Die SPD/FDP-Regierung verabschiedete auf Druck der Gewerkschaften noch 1969 das BBiG, das erstmals einheitliche Regelungen und Standards für die Ausbildung festschrieb. Dazu kam eine umfassende Reform des Jugendarbeitsschutzgesetzes und des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG). In der ersten Fassung des BetrVG von 1952 hatten sich nur einige verstreute Vorschriften über die besondere Vertretung Jugendlicher gefunden. Erst die Forderung der Auszubildenden nach mehr Mitbestimmung erzwang 1972 die Zusammenfassung der Vorschriften in einem eigenen Abschnitt und die Ausweitung der Befugnisse. Insbesondere gelang es, den Kündigungsschutz auch auf Jugend- und Auszubildendenvertreter auszuweiten. Hinzu kamen weitere gesellschaftliche Reformen wie die Volljährigkeit - und damit das Wahlrecht - ab 18 Jahren.

Der Bundesregierung gelang es so größtenteils, den Protest einzuhegen. Jedoch nicht immer. In der ersten Hälfte der 70er Jahre kam es immer wieder zu Protesten junger Arbeitnehmer, darunter auch zu wilden Streiks.

Einen Beitrag zur Kanalisierung des Protests leisteten auch die Gewerkschaften. In immer mehr Orten wurden gewerkschaftliche Jugendausschüsse gegründet. Viele Betriebsräte kümmerten sich nun auch um die Belange der Nachwuchskräfte und die Gewerkschaften verstärkten ihre Jugendarbeit. Allmählich übernahm der DGB auch die Forderung nach eigenständigen Ausbildungstarifverträgen und band die Jugendlichen aus den Lehrlingszentren in die inhaltlichen Debatten und Verhandlungen ein. Den Gewerkschaften tat der frische Wind gut. Nicht nur stiegen ihre Mitgliederzahlen unter jungen Beschäftigten rasant an; vielerorts waren es vor allem die gewerkschaftlichen Jugendausschüsse, die nach Jahren der Saalveranstaltungen die Gewerkschaften am 1. Mai wieder auf die Straße brachten.

Mitte der 70er Jahre ebbte die Lehrlingsbewegung ab. Diejenigen, die nicht in die Gewerkschaften integriert wurden, wandten sich immer stärker der Jugendzentrumsbewegung zu. Zugleich machte sich die Krise der Weltwirtschaft auch auf dem deutschen Ausbildungsmarkt bemerkbar. An die Stelle des einstigen Überschusses an Ausbildungsplätzen trat ein Mangel, und die Jugendarbeitslosigkeit stieg.

Wie der jährliche Bericht der DGB-Jugend zeigt, liegt in der dualen Ausbildung auch heute einiges im Argen. Während die Jugendarbeitslosigkeit ein Rekordtief erreicht hat und Nachwuchskräfte teils dringend gesucht werden, gelang es in den vergangenen Jahren nicht, auf dem parlamentarischen Weg eine tatsächliche Verbesserung von Ausbildungsqualität und -bedingungen durchzusetzen. Die Zeit scheint reif für eine neue Lehrlingsbewegung.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1096222.die-er-bewegung-zeit-fuer-eine-neue-lehrlingsbewegung.html


Kuddel

Am Samstag haben wir unser Input zur Situation von Azubi und Ausbildung gemeinsam mit der Internationalen Jugend in Köln organisiert. Im Anschluss haben wurde dann noch gemeinsam gegrillt.






ManOfConstantSorrow

Azubis fallen mir zur Zeit als aktivste und kreativste Kraft in aktuellen Arbeitskämpfen auf.



Arbeitsscheu und chronisch schlecht gelaunt!

Kuddel


Kuddel



Naja, Verdi ist nun nicht sooo aufregend und schon gar nicht revolutionär...
Aber immerhin ein wenig Bewegung unter Auszubildenden.

Onkel Tom

Die PA schaut nicht schlecht aus, her damit  ;)
Lass Dich nicht verhartzen !

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