Prekariat und Psyche

Begonnen von Kuddel, 14:03:15 So. 14.April 2013

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Kuddel

ZitatKonkrete Utopien
Theorie. Mit den Hartz-Regelungen entwickeln Staat und Kapital die Herrschaftsform »Anpassung durch Verunsicherung«. Linke Politik kann die daraus resultierende Selbstunterdrückung der Krisenopfer nur mit alltagsnahen Alternativen aufbrechen

Von Werner Seppmann


Aus einem vermeintlichen Selbstverschulden der wirtschaftlichen Krise heraus zu einem alltagspraktischen, für alle ­nachvollziehbaren widerständigen Handeln kommen (Besetzung eines RAG-Bergwerks in Gelsenkirchen, 7.3.1997)
Foto: Michael Urban / Reuters


Durch tiefgreifende Veränderungen – Sieg in der Systemkonfrontation, Durchsetzung einer für die Kapitalverwertung vorteilhafte Mondialisierungstendenz, Verunsicherung der Lohnabhängigen durch das Anwachsen der »industriellen Reservearmee« (Marx) – hat sich die Machtfülle des Kapitals in den letzten vier Dekaden vergrößert und sind ihm neue Gestaltungsmöglichkeiten erwachsen. Durch diese Entwicklungen allein, ist jedoch nicht zu erklären, weshalb es bei seinem ausbeutungszentrierten Umgestaltungsstreben ein so leichtes Spiel hatte. Es bleibt eine drängende Frage: Warum haben die Lohnabhängigen der gravierenden Verschlechterung ihrer Existenzbedingungen und Lebensperspektiven durch die neoliberalistische Offensive kaum Widerstand entgegengesetzt? Zumal ja keine Rede davon sein kann, daß die widersprüchliche eklatante gesellschaftliche Entwicklung von den Bedrohten und Bedrängten nicht wahrgenommen würde. Niemand macht sich wirklich Illusionen über den krisenhaften Gesellschaftszustand. Im Gegenteil: Eine deutliche Mehrheit ist davon überzeugt, daß die Widersprüche zugenommen haben, das »soziale Klima rauer« geworden und von der Zukunft nichts gutes zu erwarten ist.

Aber durch die herrschenden ideologischen Reproduktionsbedingungen, die Anpassung fördern, und durch das Fehlen einer Kultur des Widerstands, die ihren sichtbaren Ausdruck in der »Neutralisierung« gewerkschaftlicher Gegenmacht findet, werden die sozialen Katastrophenzustände gerade von den unmittelbaren Opfern in einer hinnehmenden und selbstunterdrückenden Weise verarbeitet. Dieser Problemkomplex muß näher betrachtet werden, um deutlich zu machen, weshalb der Neoliberalismus in seiner Durchsetzungsphase ein so leichtes Spiel hatte und den kapitalistischen Akteuren kaum Widerstand entgegengeschlagen ist.

In verallgemeinender Weise kann gesagt werden, daß sich durch die institutionalisierten Formen der Entwurzelung und Verunsicherung, die in der Bundesrepublik durch die Hartz-IV-Regelungen verstärkt wurden, ein neuer Modus sozialer Herrschaft etabliert hat. Es wird Bedürftigkeit zum Zwecke der Disziplinierung der Arbeitenden eingesetzt, um sie »zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen« (Pierre Bourdieu). Durch die Wirkung dieser strukturellen »Disziplinarwaffe« (Maurice Dopp) stabilisieren sich die bestehenden Machtstrukturen und die Verfügung des Kapitals über die Lohnabhängigen.

Der italienische Kommunist Antonio Gramsci hat von Beispielen bürgerlicher Herrschaft gesprochen, die als »Einheit von Zwang und Konsens« zu begreifen seien. Diese Kombination war noch charakteristisch für das »sozialstaatlich« geprägte Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in den Jahrzehnten des Prosperitätskapitalismus. Bei der Durchsetzung der neoliberalistischen Prinzipien spielte Konsens hingegen eine geringere Rolle: Durch den »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (Marx) und der von ihnen hervorgerufenen Verunsicherungseffekte konnten die Lohnabhängigen den intensivierten Ausbeutungsstrategien des Kapital unterworfen und die für sie ungünstigeren Regulationsformen durchgesetzt werden. Es gab für diesen Prozeß die Unterstützung vom Management und der »kleinen Chefs« in den Betrieben, auch von Teilen der Funktionsintelligenz. Beim Großteil der Belegschaften dominierte jedoch nur eine Hinnahme des scheinbar Unvermeidlichen. Es gab genausowenig explizite Zustimmung, wie sich relevante Gegenwehr entwickelte.

Durch den finanzkapitalistisch determinierten Verwertungsdruck veränderten sich nicht nur die Verhältnisse in der Arbeitswelt, sondern auch die Strukturen des individuellen Lebens: Zunehmend wird das Private von Rentabilitäts- und »Flexibilisierungs«-Imperativen mitgeformt, gleichen sich Arbeit und privates Leben unter negativem Vorzeichen an.

Die Durchsetzungsgeschichte des Neoliberalismus ist ein Beispiel dafür, daß – anders als immer noch in der Linken verbreitete Auffassungen suggerieren – Krisen in der Regel einen Stabilisierungseffekt für das Kapitalverhältnis haben: Sind die Kräfte der Gegenwehr schwach entwickelt, festigt die Krise durch ihre verunsichernde und verängstigende Wirkung die Macht der Herrschenden. Sie ist Funktionselement des Kapitals: Sie führt zwar zu ideologischen Legitimationsverlusten – und stabilisiert dennoch (zumindest temporär) bestehende Verfügungsverhältnisse.

Kapitalismuskonform wirken Krisen auch, weil durch ihren Druck ökonomische Disproportionen beseitigt, beispielsweise Überkapazitäten abgebaut werden und »überzählige« Mitbewerber verschwinden. Die Profite können nicht zuletzt dadurch stabilisiert und tendentiell erhöht werden, daß den eingeschüchterten Arbeitskraftverkäufern Lohnverzicht, Arbeitszeitverlängerung und »Flexibilität« in allen denkbaren Formen zugemutet werden können. Mit den Worten, daß »die Krisen immer nur momentane gewaltsame Lösungen der vorhandenen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen (sind), die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen«, hat Marx (MEW 25, S. 259) diesen Wirkungsmechanismus beschrieben.

Zerfall der eigenen Lebensstruktur

Warum durch Ausgrenzung und Marginalisierung der Lohnabhängigen zumindest temporär machtstabilisierende Effekte entstehen, erklärt sich auch aus den vorherrschenden Verarbeitungsformen der Krise, mit ihren tief in die Psyche der Betroffenen eindringenden Konsequenzen: Ausgrenzung verursacht Vereinzelung und dadurch ein Moment von Wehrlosigkeit: Die meisten Krisenopfer »individualisieren« ihr Schicksal und leiden unter Schuldgefühlen, weil sie sich im Kontext der herrschenden ideologischen und alltagskulturellen Zurechnungsmuster für ihre Randstellung selbst verantwortlich fühlen. Die Erwerbslosen zweifeln ebenso an sich selbst, wie sie sich sozial degradiert fühlen. Sie durchlaufen verschiedene Phasen psychischer Destabilisierung, und meist werden sie von einem Gefühl von Nutz- und Orientierungslosigkeit geprägt.

»Die problematische, wenn nicht verzweifelte Existenz der meisten ›Arbeitssuchenden‹ macht (...) deutlich, daß man die Bedeutung der Arbeit gerade dann verspürt, wenn man keine hat«, so der gestern verstorbene französische Soziologe Robert Castel. Allen Behauptungen eines sozialen und individuellen Bedeutungsverlustes der Arbeit zum Trotz, zeigt sich besonders in der Situation der Erwerbslosigkeit, daß die Positionierung im Berufsleben von entscheidender Bedeutung für die Lebensgestaltung, das Selbstwertgefühls und die personale Stabilität ist.

Von unmittelbarer Konsequenz für die politischen Dispositionen von Lohnabhängigen ist die Tatsache, daß bei Erwerbslosigkeit ein ehemals aktives Realitätsverhältnis zunehmend von hinnehmenden Haltungen überlagert wird. Die Arbeitslosen ziehen sich zurück und verhalten sich passiv; in den meisten Fällen verlieren sie die Fähigkeit zur planenden und gestaltenden Reaktion auf ihre Lebensbedingungen. Diese psychisch-ideologische Rückbildungstendenz ist eine Reaktion darauf, daß mit der Erwerbslosigkeit von einem Tag auf den anderen die ganze soziale Existenz in Frage gestellt wird. Dauert die Arbeitslosigkeit länger an, wird die gesamte Lebensplanung über den Haufen geworfen. Aus schlechtem Grund empfinden sich die Betroffenen als Opfer äußerer Umstände, auf die sie keinen Einfluß haben.

Besonders bedrückend ist für viele das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden, nutzlos vor den Anderen und sich selbst zu erscheinen. Ist die Erwerbslosigkeit und die Abhängigkeit von Unterstützungsleistungen von Dauer, überlagern die Sorgen des Alltags fast vollständig jedes allgemeine Interesse, absorbiert die Bewältigung der unmittelbaren Alltagsgeschäfte meist die gesamte Lebensenergie. Das alltägliche Tätigkeitsspektrum wird enger, und auch das politische Interesse bildet sich in dem Maße zurück, wie der Zukunftsoptimismus schwindet. Man empfindet sich als »abgehängt« und hat ab einem bestimmten Punkt auch keine Hoffnung mehr, daß die Situation sich noch einmal zum Positiven wenden würde. »Bei anhaltender Arbeitslosigkeit fällt alles zusammen: Lebenslust und Mut ebenso wie ein geregelter Tagesablauf und das Zeitgefühl. Welche Wünsche, welche Hoffnungen bleiben bestehen, angesichts erfolgloser Arbeitssuche?« (Karin Fißler)

Kampf um den aufrechten Gang
Hat die Randständigkeit einen permanenten Charakter angenommen, wird die Fähigkeit beschädigt, selbst elementare Alltagsangelegenheiten erledigen zu können. Es ist ein typisches Beispiel verbreiteter Verhaltensregression, die von Julia Friedrichs und ihren Mitarbeitern in einer Reportage über ein langzeitarbeitsloses Paar geschildert wird: »Es ist kurz vor zwei, als Jessica und René Weber Janinas Kinderwagen vom Parkplatz des Supermarkts schieben. Morgens um halb zehn waren sie aufgebrochen. Vier Stunden für drei Einkaufstüten bei Lidl. Wenn das Leben aus der Bahn geraten ist, scheint der Alltag zum Kampf zu werden.«

Die Tatsache, daß den Arbeitslosen der ganze Tag zur freien Verfügung steht, bedeutet nicht, daß mit der Zeit sinnvoll umgegangen wird. Auffassungen, die Arbeitslosigkeit als neuen Möglichkeitsraum verklären, der Chancen zur selbstbestimmten Lebensgestaltung böte, ist bestenfalls naiv – politisch aber auf jeden Fall kontraproduktiv: Aus ihrem arbeitszentrierten Lebensrhythmus ausgesondert, verlieren sich die Menschen in einer unendlichen Zeitschleife: Ihr Leben fließt ohne markante Geschehnisse dahin. In ihren persönlichkeitsbedrohenden und die Psyche destabilisierenden Konsequenzen manifestiert sich, daß Arbeitslosigkeit eine Form struktureller Gewalt ist, die als Kehrseite der Durchsetzung ökonomischer Verwertungsinteressen begriffen werden muß.

Nicht in das System der Erwerbsarbeit integriert zu sein, verursacht sozialen Bedeutungsverlust, provoziert individuelle Defizit- und Fremdheitserfahrungen. Gerade bei fehlender Berufstätigkeit wirkt die durch Sozialisation vermittelte Arbeits- und Leistungsorientierung als ideologische Fessel. Lange versuchen die Betroffenen ihren Imperativen zu genügen: Man will »dazugehören«, soziale Anerkennung und Wertschätzung genießen, aber auch mit sich selbst »im reinen« sein. Wenn dies aufgrund fehlender Beschäftigung jedoch nicht gelingt, verstärken sich die Gefühle der Schuld und des Versagens. Es wird der Glauben an sich selbst ebenso wie ein lebensgeschichtlicher Zuversichtshorizont zerstört: »Nein, ich schäme mich meiner Armut nicht, bin nicht Schuld daran«, gesteht ein Hartz-IV-Bezieher seine Gemütslage, »und dennoch schafft (...) (die Arbeitslosigkeit, W. S.) es, meinen aufrechten Gang zu beugen, ein Automatismus der geschlagenen Seele. In Situationen wie dieser spüre ich es deutlich, das Gefühl des Kleinseins und der Ohnmacht. Noch kann ich von mir behaupten, gegensteuern zu können, aber: Wie lange noch? Wie lange kann ich noch meine psychischen Kräfte mobilisieren? Die letzten Reste meines Selbstbewußtseins zusammenhalten? Eine Frage, die meinen Alltag prägt, mein restliches Leben zwischen Weiterbewilligungsanträgen und dem Bettlerstatus, zwischen Gängelei, Drohungen und Fesseln.«

Das Verhältnis zur »Gesellschaft«, jedoch auch zu den anderen Krisenopfern, ist das der »Distanz«: Die Arbeitslosen und Randständigen ziehen sich zurück, während gleichzeitig ihr Bild von der sozialen Welt diffus wird. Auch den urbanen »Sonderzonen«, in denen sich die »Problemfälle« mittlerweile konzentrieren, bleiben die Ausgegrenzten – trotz des kollektiven Charakters ihrer Soziallage – isoliert: Sie halten voneinander Abstand und ziehen sich auf ihre Wohnung als letzten Schutzraum zurück.

Sich mit solchen Problemfeldern zu beschäftigen bedeutet nicht, gesellschaftliche Prozesse zu psychologisieren, sondern aufzuzeigen, wie durch den gesellschaftlichen Druck die Erlebens- und Mentalitätsmuster, aber auch die Verhaltensweisen der Menschen negativ geprägt werden, wie durch Verunsicherung Anpassungsbereitschaft erzeugt wird.

Das ideologische Kampffeld



Die Grundlagen der Resignation der Krisenopfer mit ihren destruktiven Wirkungen müssen analysiert werden (Massenabfertigung in der Agentur für Arbeit in Berlin-Mitte, 2.4.2008)
Foto: Michael Urban / Reuters

Die Aneignung solchen Wissens muß der Ausgangspunkt sein, wenn Linke den mentalen und ideologischen, letztlich auch politischen Auswirkungen von Krisen gerecht werden will. Denn werden solche Befunde ernst genommen, wird deutlich, daß Hoffnungen auf spontane Widerstandshandlungen der Marginalisierten und »Randständigen«, die leider immer noch verbreitet sind, einen illusorischen Charakter haben. Angst und Ohnmachtsgefühle, Lethargie und Perspektivlosigkeit bei den Krisenopfern erschweren die Entwicklung von Widerstandsbereitschaft. Auch eine Verschärfung der Krise dürfte an diesem Zustand nichts ändern, sondern im Gegenteil die lähmenden Reaktionsmuster und mentalen Desorientierungen (einschließlich verstärkter Hinwendungen zu rechtsradikalen und rassistischen Orientierungen) verstärken.

Die ganze Dimension selbstunterdrückender Krisenverarbeitung kann gerade deshalb nicht ignoriert werden, weil die herrschenden Apparate die oft mit ihnen verbundenen Prozesse der Selbstaufgabe und des Motivationsverfalls – durch die systematische Vertauschung von Ursache und Wirkung – als den eigentlichen Grund der Erwerbslosigkeit darzustellen versuchen: Die Kampagnen über die »faulen Arbeitslosen« und die schamlosen Behauptungen, daß jeder der arbeiten will, auch eine Beschäftigung findet, sind hinlänglich bekannt. In einem Papier des Wirtschaftsministerium wurde 2005 mit Hilfe von Sprachmustern der Nazipropaganda sogar von »Parasiten« gesprochen, die das Sozialsystem mißbrauchten. Vor allen werden jedoch in den gängigen Verleumdungsmustern die aus der Randständigkeit resultierende Symptome verwertungsorientierter »Dysfunktionalität« (Persönlichkeitsverfall, Tendenzen sozialer »Auffälligkeit«, Motivationsschwäche, eingeschränkter Leistungsradius) als Argument gegen die Ausgrenzungsopfer gewendet. Systematisch ist eine demagogische Kulisse vom »unmotivierten«, wenn nicht sogar »arbeitsscheuen« Hartz-IV-Beziehern aufgebaut worden: Die persönlichkeitsbedrohenden und psychisch destabilisierenden Konsequenzen von »Randständigkeit« werden zum Anlaß genommen, von ihren Ursachen abzulenken. Wie jede Ideologie fundiert diese Denunziationsstrategie in tatsächlich existierende Formen zivilisatorischen Verfalls und persönlichkeitszerstörender Konsequenzen prekärer Existenzbedingungen. Es gibt beispielsweise die »Antriebsschwäche«, die aus den Lebensumständen resultiert, aber nicht Indiz von »Charakterdefiziten«, sondern Ausdruck einer situationsbedingten Resignation ist.

Statt diesen legitimatorischen Umkehrmechanismus zu denunzieren, ist es in Teilen eines »autonomen« und »kulturlinken« Prekaritätsdiskurses jedoch zur politisch und intellektuell selbstzerstörerischen Übung geworden, sich der Kenntnisnahme der realen Zustandsformen (und darin eingeschlossen der persönlichkeitszerstörenden Konsequenzen von Arbeitslosigkeit) zu verweigern und das Trugbild eines selbstbestimmten Lebens im Netz sozialer Unterstützungsleistungen zu verbreiten. Durch diese Haltung wird weder der ideologischen Offensive der herrschenden Apparate das Wasser abgegraben, noch der verzweifelten und perspektivlosen Lebenssituation der Randständigen Rechnung getragen. Es handelt sich um eine Flucht vor der Realität und die selbstgenügsame Einigelung in subkulturellen Nischen. Die erfreuliche Tatsache, daß sich aus dem Millionenheer der Bedrängten (im besten Fall) einige zehntausend zu mehr oder weniger intensiven Formen der Selbstorganisation gefunden haben, ist bemerkenswert, jedoch wenig geeignet, den massenhaften Rückzug und die verbreitete politische Abstinenz zu relativieren, wie es die »kulturlinken« Wortführer regelmäßig versuchen.

Deren politische Artikulationspraxis zeigt in geradezu dramatischer Weise, daß es ohne eine kritische Theorie und ein reflektiertes Verständnis der sozialen Zustandsformen – die beide in der Lage sind, die Barrieren wie auch die förderlichen Bedingungen progressiven Handelns zu reflektieren – nicht einmal eine Ahnung transformatorischer Praxis gibt. Daraus ist natürlich nicht zu schließen, daß die existierenden Formen der Selbstorganisation nicht ihre Berechtigung haben und für einen linken Reorganisationsprozeß von geradezu existentieller Bedeutung sind. Sie sind als basale Formen der Gegenwehr und als möglicher Entwicklungsraum politischen Bewußtseins unverzichtbar. Sie selbst aber schon zum Ausdruck eines ernsthaften Widerstandes aufzubauschen, ist politisch kontraproduktiv.

Konkretisierung der Alternativen
Die existierenden Formen der Selbstorganisation können nur dann ihren Beitrag zur Aufsprengung der allgemeinen Atmosphäre der Resignation leisten, wenn die sie tragenden Aktivisten sich der notwendigen Vermittlungsschritte bewußt sind. Wo daß nicht der Fall ist, kapseln sie sich in einer Atmosphäre der Selbstbezüglichkeit ein, stellen dabei faktisch der Dominanz menschenzerstörender und entsolidarisierender Sozialverhältnisse nur das erbauliche Bild eines subkulturellen Entfaltungsraums gegenüber.

Politisch produktiv wäre es dagegen, auf Grundlage des Wissens um die Formen der selbstunterdrückenden Krisenverarbeitung herauszuarbeiten (das ist tatsächlich bisher nur unzureichend geschehen!), daß es sich bei der Resignation um keine festgeschriebenen Zustandsformen handelt. Jedoch müssen diese regressiven Reaktionsweisen berücksichtigt, in ihren tiefgreifenden, oft auch destruktiven Wirkungen analysiert werden, wenn Klarheit darüber entstehen soll, wie Widerstand dennoch möglich ist, und Prozesse der Gegenwehr trotz alledem in Gang kommen und unterstützt werden können. Dazu bedarf es jedoch etwas, woran es gegenwärtig am meisten mangelt: Alltagspraktisch nachvollziehbare Vorstellungen, daß eine andere Gesellschaft möglich ist und mehr als nur allgemeine Hinweise darauf, wie die Wege dahin aussehen könnten.

Es muß aber auch die realistische Einschätzung akzeptiert werden, daß die »Randständigen« gerade aufgrund ihrer isolierten Situation und den Prozessen individualistischer Selbstisolation kaum in der Lage sind, selbst zum zentralen Negationssubjekt der sie unterdrückenden Verhältnisse zu werden. Von politisch progressiver Relevanz könnten sie nur im Rahmen einer umfassenden Widerstandsbewegung sein, die ihr vitales Zentrum in den Betrieben und den Gewerkschaften hat. Natürlich ist das leichter gesagt, als realisiert. Aber gerade weil Segmentierungen und Spaltungen zur Signatur des gegenwärtigen Kapitalismus gehören, muß ihre Überwindung angestrebt werden, wenn der Kapitaldominanz erfolgreich Paroli geboten werden soll.

Weil der Kapitalismus gerade auch die Subalternen spaltet und seine Akteure versuchen, sie aufeinander zu hetzen, sind solche von den »Empire«-Autoren Michael Hardt und Antonio Negri eingeführten Kategorien wie »Multiversum« oder »Multitude« und die ihnen zugrundeliegenden Konzepte nicht geeignet, den notwendigen Überblick über die gesellschaftlichen Entwicklungen zu verschaffen. Ihr größtes Defizit besteht darin, daß durch ihren »Universalismus« alle realen Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen und Bewegungen verwischt werden. Sie werden durch ihren abstrakten »Universalismus« auch der alltäglichen Realität des Klassenkampfs, also der Vielfalt der tatsächlichen Widerstandsaktionen und Widerspruchshandlungen nicht gerecht – obwohl sie sich permanent darauf berufen. Sie »homogenisieren« künstlich, was differenziert betrachtet werden müßte, denn die »Masse« (denn nichts anderes bedeutet ja »Multitude«) ist – auch wenn sie entwurzelt und bedrängt ist – noch keine kritische Masse. Oft ist sie es gerade wegen der bedrängenden Lebenssituation der Subjekte und des ebenso bedrohlichen wie entsolidarisierenden Charakters ihrer Widerspruchserfahrungen nicht.

Das Subjekt der Veränderung
Im Gegensatz zu dem herrschenden intellektualistischen Klima einer lähmenden Selbstgenügsamkeit muß ein profiliertes Verständnis der potentiellen Gegenkräfte erst erarbeitet werden. Über realistische Möglichkeiten, sich zu einer relevanten Gegenkraft zu entwickeln, verfügen immer noch, obwohl sie erheblich unter Druck geraten sind, die Beschäftigten in den Kernbereichen des Industriesystems (dazu gehören auch die größeren Organisationseinheiten der Gesundheits- und Vorsorgesektoren, oder des Güter- und Personenverkehrs): Diese »Orte real vergesellschafteter Arbeit – das ist der immer noch entscheidende Unterschied zu manchen anderen politischen Orten – bieten aber zumindest die Möglichkeit, (Krisen-)Erfahrungen auszutauschen, (teil-)kollektiv zu verarbeiten und gemeinsame Schlüsse daraus zu ziehen« (Richard Detje u.a.).

Wenn die Linke Antworten auf Fragen nach dem konkreten Charakter alternativer Vergesellschaftungsmodelle schuldig bleibt, haben die kapitalistischen Propagandaapparate leichtes Spiel, darauf zu verweisen, daß es zum gegenwärtigen System »keine Alternative« gäbe. Das führt dazu, daß grundsätzliche Veränderungsmöglichkeiten von vielen Menschen skeptisch beurteilt werden, obwohl Unzufriedenheit und Unsicherheit groß sind. Gerade deshalb korrespondiert die allgemeine Krise des Kapitalismus mit einer Krise der radikalen Linken: Sie hat mit ihrer Analyse, oft auch mit ihren Prognosen »recht« – und vermag dennoch kaum zu überzeugen, daß andere Verhältnisse möglich sind.

Um dieser Sackgasse zu entkommen, müssen dem resignativ-affirmativen Gegenwartsbewußtsein konkret nachvollziehbare Bilder und Perspektiven einer alternativen Vergesellschaftung entgegengesetzt werden. Die Umsetzung dieser Erkenntnisse ist jedoch kein theoretisches Problem mehr, sondern Aufgabe politischer Praxis!

Zur Leipziger Buchmesse erschien von Werner Seppmann im LAIKA Verlag das Buch »Ausgrenzung und Herrschaft. Prekarisierung als Klassenfrage«
http://www.jungewelt.de/2013/04-13/012.php


ZitatPrekariat und Psyche

Fehlender Widerstand
Der Artikel von Werner Seppmann "Konkrete Utopien" beschreibt treffend die Resignation der Krisenopfer und die Konsequenzen daraus für Linke.


Aus eigener Erfahrung betrieblicher Tätigkeit und aus der Beobachtung (Gesprächen) mit der Tafelklientel kann ich der Analyse von Werner Seppmann zustimmen.

Dabei ist aus betrieblicher Sicht festzuhalten, dass es mehrereGründe gibt, die Widerstand verhindern. Abhängig von betrieblicher Größe (Bedeutung) ergibt sich für die zuständige Gewerkschaft dann die Frage: Wie hoch ist dort der Organisationsgrad? Ist er gering, dann erwartet man vom Betriebsrat, erst mal für einen höheren Anteil zu sorgen.

Die Mitarbeiter wiederum erwarten von der Gewerkschaft eher wenig, da sie weder positive Erfahrungen mit Streiks, noch die Bereitschaft für persönliches Engagement mitbringen (von Ausnahmen abgesehen).

Die Lösung betrieblicher Probleme steht im Vordergrund und es entwickelt sich selbst bei theoretischen Erkenntnissen größerer Zusammenhänge keine Aktivität über den betrieblichen Raum hinaus (der vom Betriebsrat erledigt werden soll). Wenn nicht einmal innerbetriebliche Solidarität zu erreichen ist, wie soll dann darüber hinaus etwas bewegt werden können?

Die Fragmentierung der "Selbstvermarkter" ist schon ziemlich stark ausgeprägt und schwer aufzubrechen. Gründe für "Zurückhaltung" hat man schnell zur Hand und diejenigen, die sich engagieren, erleben dann aufgrund der Minderzahl genau die Folgen, die von den "Passiven" vorausgesehen wurden.

Dabei völlig ausblendend, dass es gerade durch ihre Passivität soweit kommen konnte!
http://www.freitag.de/autoren/pleifel02/prekariat-und-psyche


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