Mediziner fürchten um Schweigepflicht

Begonnen von Kater, 22:43:46 So. 30.September 2007

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Kater

ZitatMediziner fürchten um Schweigepflicht

Berlin (AP) Als Anschlag auf die ärztliche Schweigepflicht haben Medizinerverbände und Sozialverbände den Plan des Gesundheitsministeriums bewertet, sie im Falle sogenannter selbst verschuldeter Krankheiten zur Mitteilung an die Krankenkassen zu verpflichten. Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, sprach im «Tagesspiegel» (Montagausgabe) von einem Generalangriff auf die ärztliche Schweigepflicht und das verfassungsrechtlich geschützte Patientengeheimnis. «Wir lassen uns nicht zu Schnüfflern im Auftrag der Krankenkassen machen», sagte er.

Der Chef des Klinikärzteverbandes Marburger Bund, Frank Ulrich Montgomery, nannte das Vorhaben brandgefährlich. Damit würden die Ärzte zu Handlangern der Krankenkassen gemacht, sagte der Präsident des Sozialverbands Deutschland, Adolf Bauer.

Hintergrund ist ein Passus im Referentenentwurf zur Pflegereform. Darin heißt es: «Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass Versicherte sich eine Krankheit vorsätzlich oder bei einem von ihnen begangenen Verbrechen oder vorsätzlichen Vergehen oder durch eine medizinisch nicht indizierte Maßnahme, wie zum Beispiel eine ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing, zugezogen haben, sind die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Krankenhäuser verpflichtet, den Krankenkassen die erforderlichen Daten mitzuteilen.»

Der «Tagesspiegel» berichtete unter Berufung auf Expertenkreise, offenbar habe man im Ministerium bemerkt oder befürchtet, dass es Umsetzungsprobleme mit einer bereits Gesetz gewordenen Vorgabe der Gesundheitsreform gegeben habe. So seien die Kassen zwar verpflichtet worden, die Patienten bei selbst verschuldeten Krankheiten künftig in angemessener Höhe an den Kosten zu beteiligen und das Krankengeld für die Dauer dieser Behandlung ganz oder teilweise zu versagen oder zurückzufordern. Die Mediziner aber hätten keinen Anlass, diese Fälle den Krankenkassen auch mitzuteilen.

«Wir müssen nur Diagnosen melden», wird Montgomery zitiert. Einzige Ausnahme sei, Krankheiten als Folge von Unfällen, bei denen die Unfallversicherung einspringen soll. Wenn Ärzte nun verpflichtet würden, ihre Patienten auszuhorchen, um sie dann bei den Krankenkassen anzuschwärzen, gehe das Vertrauen der Patienten verloren, warnte Hoppe. «Wir sind ja vieles gewohnt von diesem Ministerium, aber das schlägt dem Fass wirklich den Boden aus.» Die Ärzte würden sich dagegen mit allen gebotenen Mitteln zur Wehr setzen. Das Ministerium sollte seine Pläne schnellstmöglich einstampfen.

http://de.news.yahoo.com/ap/20070930/tsc-mediziner-frchten-um-schweigepflicht-95f3e9b_1.html

flipper

nett. na dann schlag ich vor wir verklagen die BRD wegen zigarettenautomaten und so.

 X(
"Voting did not bring us further, so we're done voting" (The "Caprica Six" Cylon Model, BSG)

Kater

ZitatVom Sozialstaat zum Kontrollsystem
Von Juli Zeh

Ärzte sollen Kranke melden, die ihr Leiden selbst verschuldet haben. Die Krankenkassen stünden demnach nicht uns bei, sondern wir schuldeten ihnen, gesund zu bleiben

Die Diagnose vorab. Sie lautet: Erosion des demokratischen Denkvermögens im fortgeschrittenen Stadium. Symptome: Scheinlogik auf Seiten der politischen Akteure, Indifferenz bis zum politischen Autismus bei den Bürgern. Krankheitstypische Äußerungen von infizierten Personen: "Der Rechtsstaat muss verteidigt werden, aber in Zeiten wie diesen hat Sicherheit Vorrang" (ein eifriger Minister). Oder: "Dann sollen sie halt Festplatten scannen - das betrifft ja nicht Leute wie mich, die nichts zu verbergen haben" (ein unbescholtener Bürger). Verbreitungsgrad des Syndroms: epidemisch.

Die Optimisten unter uns glauben bislang, die Ausbreitung des beschriebenen Krankheitsbilds beschränke sich auf den sogenannten Anti-Terror-Kampf. Sie beobachten den Umbau eines auf Notlagen reagierenden Wohlfahrtsstaates in ein präventiv denkendes und handelndes Kontrollsystem und reden sich ein, es handele sich nicht um eine dauerhafte Entwicklung, nicht um ein grundsätzliches Umdenken in Sachen Bürger-Staat-Verhältnis, sondern um temporäre Härtefallregeln, mit deren Hilfe wir - leider, leider! - den derzeit so virulenten Bedrohungen unserer Gesellschaft begegnen müssen. Aber was, wenn das Virus ein wenig mutiert und plötzlich die Abteilung Terrorismus verlässt? Wenn es sich ein Wirtstier sucht, das es in alle Lebensbereiche trägt?

Das Bundesgesundheitsministerium arbeitet an einer Gesetzesinitiative, die Ärzte verpflichten soll, unter Aufhebung der Schweigepflicht bestimmte Patienten bei den Krankenkassen zu melden. Und zwar solche Patienten, die an ihrem jeweiligen Leiden selbst schuld sind. Als Beispiele werden die Folgen von Tätowierungen, Piercings oder Schönheitsoperationen genannt. Die Begründung dieser absurden Idee liest sich wie ein Lehrbuchbeispiel für politische Scheinlogik unter Zugrundelegung verdrehter Prämissen. Eine Nasenoperation stelle einen Eingriff dar, der medizinisch nicht indiziert und vom Patienten frei gewählt sei. Wenn dabei etwas schief gehe, habe der Patient für Folgeschäden konsequenterweise selbst aufzukommen.

Natürlich!, ruft der von Demokratie-Erosion infizierte Bürger. Wenn sich jemand partout selbst verletzen will, warum soll die Solidargemeinschaft die Kosten dafür tragen? - Genau, empört sich die zuständige Ministerin Ulla Schmidt, es gehe keineswegs um einen Angriff auf die Privatsphäre des Patienten oder gar die ärztliche Schweigepflicht, sondern vielmehr um eine "klare gesetzliche Regelung zum Zweck der Kostenkontrolle".

Kostenkontrolle? Ein Vorzeige-Euphemismus. In Wahrheit geht es um viel, viel mehr. Die Regierung hat nicht weniger vor, als das Privateste, Intimste, das uns zu eigen ist, zur Staatssache zu erheben: den menschlichen Körper. Dabei wird die Idee einer flächendeckenden (von Beitragszahlern finanzierten!) Krankenversicherung in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht das Krankenkassensystem schuldet uns Beistand in der Not - sondern wir schulden dem System die unbedingte Aufrechterhaltung unserer Gesundheit! Diese neue, fiktive Bürgerspflicht gibt dem Staat ein Machtinstrument an die Hand, welches auf fatale Weise an Huxleys Brave New World erinnert. "Krankheit" wird potenziell mit "Schuld" identifiziert, und um innerhalb dieses Zusammenhangs die Spreu vom Weizen zu trennen, bedarf es einer perfiden Form von Selektion.

Tätowierte, Gepiercte und Schönheitsoperierte, lehrt uns der Gesetzesentwurf, gehören schon mal zu den schwarzen Schafen. Auch Patienten, die sich durch ein von ihnen begangenes Verbrechen oder Vergehen selbst geschädigt haben, sollen laut der neuen Initiative gemeldet werden. Wer also beim Kirschenklauen vom Baum fällt, sollte fürderhin besser keinen Arzt aufsuchen, da dieser den medizinischen Fall nicht vertraulich behandeln könnte und die entstandenen Kosten ohnehin nicht von den Kassen gedeckt würden. Und um die neue staatliche Zugriffsgewalt endgültig in ein weites Feld zu verwandeln, soll die Meldepflicht generell für Krankheiten gelten, die sich der Patient "vorsätzlich" zugezogen hat.

In der Sprache der Juristen bedeutet einfacher Vorsatz, eine bestimmte Folge "billigend in Kauf zu nehmen". Nimmt also der Raucher den eventuellen Lungenkrebs billigend in Kauf? Der Alkoholiker die Leberzirrhose? Der Schokoladenliebhaber sein Übergewicht? Der Homosexuelle die mögliche AIDS-Infektion? Der Skifahrer den Beinbruch, der Fußballspieler den Bänderriss, der Autofahrer das Schleudertrauma? Und wie haben wir uns das Antlitz eines Behördenapparats vorzustellen, der in all diesen Situationen das Urteil "schuldig "oder "unschuldig" fällt?

Auf jeden Fall hässlich. Es wäre ein Staat, der seinen Bürgern vorschreibt, auf welche Weise sie mit ihrem Ureigensten, ihrer höchstpersönlichen Physis zu verfahren haben - beim Sex, beim Sport, beim Essen, beim Glühbirnenwechsel im Badezimmer - letztlich bei jeder denkbaren Alltagsbewegung. Nicht ohne Grund verfügen wir über ein Rechtssystem, das es bei Strafe verbietet, andere Menschen zu verletzen oder auch nur zu gefährden, während Selbstgefährdungen bis hin zur Selbsttötung straflos bleiben. Die Kernidee der Demokratie wurzelt in jenem kleinen, intimen Bereich, in dem der Mensch frei ist, also die volle Hoheitsgewalt über sich selbst besitzt. Eigentlich sprechen wir hier nicht von "Kostenkontrolle", sondern von "Menschenwürde".

Wer an diesen Grundsätzen rüttelt, pervertiert unser immer noch gültiges Menschen- und Gesellschaftsbild. Oder, in der Sprache der Gesetzesinitiative ausgedrückt, er fügt dem Gesellschaftskörper vorsätzlich Schaden zu. Die Schweigepflicht sei aufgehoben, der Meldepflicht hiermit genügt: Ein weiterer Fall von Erosion des demokratischen Denkvermögens im fortgeschrittenen Stadium wurde identifiziert. Impft euch. Schützt euch. Tut was dagegen.

http://www.zeit.de/online/2007/41/meldepflicht-patienten?page=all

flipper

ZitatOriginal von Kater
ZitatVom Sozialstaat zum Kontrollsystem
Von Juli Zeh

Ärzte sollen Kranke melden, die ihr Leiden selbst verschuldet haben. Die Krankenkassen stünden demnach nicht uns bei, sondern wir schuldeten ihnen, gesund zu bleiben

Die Diagnose vorab. Sie lautet: Erosion des demokratischen Denkvermögens im fortgeschrittenen Stadium. Symptome: Scheinlogik auf Seiten der politischen Akteure, Indifferenz bis zum politischen Autismus bei den Bürgern. Krankheitstypische Äußerungen von infizierten Personen: "Der Rechtsstaat muss verteidigt werden, aber in Zeiten wie diesen hat Sicherheit Vorrang" (ein eifriger Minister). Oder: "Dann sollen sie halt Festplatten scannen - das betrifft ja nicht Leute wie mich, die nichts zu verbergen haben" (ein unbescholtener Bürger). Verbreitungsgrad des Syndroms: epidemisch.

Ein weiterer Fall von Erosion des demokratischen Denkvermögens im fortgeschrittenen Stadium wurde identifiziert. Impft euch. Schützt euch. Tut was dagegen.

http://www.zeit.de/online/2007/41/meldepflicht-patienten?page=all

LOL
"Voting did not bring us further, so we're done voting" (The "Caprica Six" Cylon Model, BSG)

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